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Produktdetails
  • Verlag: Edition Büchergilde
  • Seitenzahl: 350
  • Deutsch
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 558g
  • ISBN-13: 9783936428056
  • ISBN-10: 3936428050
  • Artikelnr.: 11259017
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.2004

Gott und Götze
Authentische Stimme: Marte Brill erzählt vom brasilianischen Exil

Jenes Brasilien, das heute im Chaos sozialer Konflikte erstickt, war einst die utopische Welt, in die sich zur Zeit des Faschismus die Jüdin Sylvia mit ihrer Tochter Miriam flüchten konnte. So zumindest sieht es Marte Brill, die ihrem Roman - eher eine Art Tagebuch ihres Exils in Rio de Janeiro und São Paulo - den Titel "Der Schmelztiegel" gab. Im bewußten Unterschied zum Rassismus des Heimatlandes, aus dem Marte Brill vertrieben worden war, stellt sie Brasilien als das Land dar, in dem die Toleranz und Integration aller Rassen geglückt sei: "In dem glühenden Atem der tropischen Natur hatten sich die Rassen vermischt, durchdrungen, geformt, bis ein eigenes Volk auf dem Boden Brasiliens stand, das die Verschmelzung als das Gesetz seines Lebens, als Geheimnis und Wurzel seiner Kraft erkannte. Und alle lebten einträchtig, brüderlich unter dem steinernen Sinnbild des Christus: Der alten Lehre war eine neue Botschaft entsprungen." Solche utopischen Hoffnungen werden verständlich, wenn man sie den Beobachtungen gegenüberstellt, die Marte Brill noch kurz zuvor, nach der Machtergreifung Hitlers, in Hamburg hatte machen müssen: "Mitten in der Stadt war ein hölzernes Standbild errichtet, eine Art Götzenbild, dem die Passanten opfern mußten. Man zahlte eine Mark und schlug einen Nagel in das Holz. Sylvia sah, wie die Belegschaft der Zeitung, bei der sie gearbeitet hatte, durch die Stadt geschlossen zum Nageln geführt wurde."

Die zwei Ikonen, der Gott und der Götze, stehen als Sinnbilder über diesem Buch, dessen Erzählung sich über den Zeitraum des "Dritten Reichs" erstreckt. Marte Brill gehört zu den ersten Emigranten. Reisen und Schreiben waren die Tätigkeiten, von denen sie während der Weimarer Republik in Hamburg zu leben versucht hatte. Sie war eine der frühen emanzipierten Frauen gewesen, eine Figur ähnlich Annamarie Schwarzenbach, die ihren Freiheitsdrang auf Reisen in exotische Länder verwirklichten: Beide waren ständig unterwegs und versuchten, diesem Drang nach Befreiung durch ihre Reiseschriftstellerei ein ökonomisches Fundament zu verschaffen.

Doch bereits 1933 mußte Marte Brill ihre Karriere abbrechen. Als Mitarbeiterin der Monatsschrift der Hamburgischen Schiffahrts-Gesellschaft hatte sie eine Berichterstattung aus Spanien geplant; aus politischen Gründen konnte aber die Zeitung die Jüdin nicht weiterbeschäftigen, so daß sie, nach einem Jahr des Zögerns und einer kurzen Rückkehr nach Deutschland, nach Brasilien übersetzte. Ihren Roman schrieb sie 1941, möglicherweise angeregt durch Stefan Zweigs Buch über Brasilien, das just erschienen war. Auch Zweig, der in der alten Königsstadt Petrópolis Zuflucht gefunden hatte, entwirft Brasilien als utopisches Zukunftsland. Brill fand bis zu ihrem Tod in São Paulo 1962 keine Möglichkeit, den Roman zu veröffentlichen. In den erregten Zeiten des Weltkriegs und der Nachkriegszeit mochte sich keiner mit den Alltagssorgen einer vertriebenen Mutter, mit ihren Bittgängen um Arbeit, ihrem Trennungsschmerz, wenn sie die Tochter in ein Heim geben mußte, ihren Bekanntschaften in der überseeischen Ferne beschäftigen. Literarischen Ansprüchen genügt der tagebuchartige Stil ohnehin nicht. Auch heute ist das nun postum herausgegebene Buch nur als Dokument des Daseins im Exil zu lesen.

Nach langer Irrfahrt hatte Marte Brill in Brasilien endlich eine Tätigkeit bei einer jüdischen Familie gefunden, die den Emigranten bei der Integration in die neue Heimat beistand. Die Schicksale, denen sich Brill bei der Suche nach Unterkunft und Arbeit für die ihrem Schutz anbefohlenen Immigranten konfrontiert sah, geraten ihr zu kleinen Skizzen der Ratlosigkeit, des Lebensmuts und Lebenshungers und der unerwarteten Katastrophen. In diesen Passagen entsteht eine Typologie des Exilanten, ein Lexikon seiner alltäglichen Schicksale.

Eine gewisse politische Naivität jedoch kann man ihr nicht absprechen. So findet sich nicht eine Andeutung über Getúlio Vargas, der während der gesamten Zeit ihres Exils das Land regierte, und dessen Neigung zum Faschismus. Diese kurzsichtige Perspektive, die über die enge Grenze der eigenen Existenz nicht hinausschaut, macht jedoch auch einen Vorzug des Buches aus. Es unterscheidet sich von den literarischen Werken der Vergangenheitsbewältigung, in denen jedes Gefühl, jeder Gedanke von Politik durchtränkt ist. Solcher Protzerei des Schuldbewußtseins stellt "Der Schmelztiegel" die authentische Lebenserfahrung einer Jüdin gegenüber. Die deutsche Gegenwartsliteratur beschäftigt sich viel mit den Juden, diese selbst aber kommen dabei kaum zu Wort. Mit der authentischen Stimme Brills erhält diese stumme Rolle eine Sprache.

HANNELORE SCHLAFFER

Marte Brill: "Der Schmelztiegel". Mit einem Nachwort von Reinhard Andress. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2003. 350 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Das brasilianische Exil von Flüchtlingen des Dritten Reichs in den dreißiger Jahren beschreibt die Autorin anhand der Lebensläufe unterschiedlicher Emigranten sehr lebensnah, erklärt Paul Michael Lützeler. Ohne Pathos erzählt das Buch vom "Mikrokosmos des täglichen Überlebenskampfes", lobt er. So erfahre man auf drei Erzählebenen eine Menge über mögliche Verhaltensweisen im Exil, in diesem Fall dem brasilianischen Schmelztiegel Sao Paulo. Neben Informationen über die Kultur des Gastlandes, enthält das Buch viel Wissenswertes über die Geschichte des Judentums und über die Situation der Emigranten, die durch immer neue Schreckensmeldungen mit ihrer Lage konfrontiert wurden, meint Lützeler. Ihn hat dieses "packende Werk" bereits auf den ersten Seiten für sich eingenommen.

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