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Bevor Louis Mérian in den Ruhestand ging, war er über dreißig Jahre lang einer der bekanntesten Radiosprecher des Landes. Schon als Kind hörte die Rundfunkredakteurin Ariane Desprats jeden Tag seine Sendung. Eine Sendereihe über die Geschichte des französischen Rundfunks führt die beiden zusammen: Ariane Desprats lädt Louis Mérian ein, an ihrer Sendung teilzunehmen und von seiner Zeit beim Radio zu berichten. »Und was haben Sie während des Krieges gemacht?« Ariane Desprats, deren Familie während der Besetzung von Paris deportiert wurde, stellt diese Frage eigentlich nur beiläufig. Doch in…mehr

Produktbeschreibung
Bevor Louis Mérian in den Ruhestand ging, war er über dreißig Jahre lang einer der bekanntesten Radiosprecher des Landes. Schon als Kind hörte die Rundfunkredakteurin Ariane Desprats jeden Tag seine Sendung. Eine Sendereihe über die Geschichte des französischen Rundfunks führt die beiden zusammen: Ariane Desprats lädt Louis Mérian ein, an ihrer Sendung teilzunehmen und von seiner Zeit beim Radio zu berichten. »Und was haben Sie während des Krieges gemacht?« Ariane Desprats, deren Familie während der Besetzung von Paris deportiert wurde, stellt diese Frage eigentlich nur beiläufig. Doch in Louis Mérian tut sich ein Riß auf, der ihm bald keine Ruhe mehr läßt. Zu überwältigend ist die Erinnerung an eine junge Frau, die er liebte, aber nicht retten konnte: Sarah. Mit ihrer lyrischen, atmosphärisch dichten Prosa beschreibt Cécile Wajsbrot eindringlich, wie die Last der Vergangenheit und das Schweigen, das die Täter ebenso umgibt wie die Opfer, das Leben der nachfolgenden Generationen bestimmen. »Der Verrat« ist Cécile Wajsbrots persönlichstes Buch, ein berührender und zugleich aufwühlender Roman.
Autorenporträt
Cécile Wajsbrot, geb. 1954 in Paris, studierte Literaturwissenschaften, arbeitete anschließend als Französischlehrerin und Rundfunkredakteurin. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin abwechselnd in Paris und Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.03.2006

Frankreich, deine Probleme
Cécile Wajsbrots Roman macht das Radio zum Spiegel der Welt

Ein Gebäude, das nicht auf festem Fundament steht, wird früher oder später Risse in seiner Fassade zeigen und ist im schlimmsten Fall vom Einsturz bedroht. In dieses Bild faßt Cécile Wajsbrot den gegenwärtigen Zustand Frankreichs. Nicht die Arbeitslosenzahlen, eine anhaltende Wirtschaftskrise, die Spannungen der Vorstädte lassen den Putz bröckeln. Die schrägen Wände und die blätternde Farbe haben ihre Ursache in einer tieferen Krise: "Frankreich stellt sich seiner Geschichte nicht." Der Krieg, die Kollaboration, der mangelnde Widerstand vieler Menschen gegen die Deportation der Juden, die Denunziation und das Schweigen - auf diesem unsicheren Grund steht das Nachkriegsgebäude. Eilig auf Ruinen erstellt, ohne diese fortzuräumen, werden die Risse immer tiefer und länger.

Die französische Autorin verbindet ihre Gesellschaftsdiagnose mit zwei Lebensgeschichten. Eine junge Radioredakteurin jüdischer Herkunft lebt unter dem Albdruck der Vergangenheit, Mitglieder ihrer Familie wurden lange vor ihrer Geburt deportiert und überschatten ihren Alltag. In ihren Liebesbeziehungen, bei ihrer Arbeit im Studio - überall vermißt sie ein Bewußtsein dessen, was während der Besatzung geschah, und ist abgestoßen von der Selbstgewißheit der Gegenwart. Sie hilft sich, indem sie der älteren Generation die Frage stellt: "Was haben Sie eigentlich während des Krieges gemacht?" Vor dieser Frage steht im abendlichen Studio, zwischen den blinkenden Lampen, "wir sind auf Sendung", auch Louis Mérian, einst ein berühmter Radiosprecher und nächtlicher Plauderer.

Zögerlich und gegen innere Widerstände dringen die über Jahrzehnte niedergehaltenen Erinnerungen des alten Mannes an die Oberfläche, schält sich eine der Reporterin ähnliche junge Frau hervor: Sarah Lipsick. Die Erinnerung, das Hervorbrechen des scheinbar Vergessenen, ist für den Roman von großer Bedeutung, so daß die Pariser Gegenwart des alten Mannes, sein Blick auf den abendlichen Invalidendom, die Gänge durch die spätsommerliche Stadt langsam von den frühen vierziger Jahren überblendet werden. Hier nimmt der junge Mérian die bedrohlichen Zeichen der beginnenden Judenverfolgung nicht wahr und bringt später den Mut nicht auf, sich dem Widerstand anzuschließen. Den Gedanken, seine jüdische Geliebte zu verbergen, verwirft er wieder, als er auf das Unverständnis seiner Eltern stößt. Er hat nicht gehandelt. Fünfzig Jahre später steht er vor seiner Schuld.

Cécile Wajsbrot schildert die Vergangenheit und die Gegenwart, die Wahrnehmung des alten Mannes und der jungen Redakteurin, die sich perspektivisch abwechseln und einander dabei ergänzen, in einer schwingenden, rhythmischen Prosa. Leider neigt sie zu großer Deutlichkeit in Aussage und Bildern. So hat Louis Mérian mit Sarah nicht nur einen Menschen verraten, sondern das wahre und wirkliche Leben verpaßt. Die Figur der eigensinnigen Frau - und ihrer gegenwärtigen Geistesverwandten - stehen in einem allzu klaren Gegensatz zu Mérian und seiner Familie, die dem Vorhersehbaren, dem Mittelmaß und der Verdrängung ergeben sind: "Ich kam nur noch mit Leuten zusammen, die mir glichen, die immer an der Oberfläche bleiben wollten, ich hatte mich für die Nacht entschieden, weil man nachts nichts sieht, wenn man nicht sehen will, und wenn ich jetzt die Augen aufschlage und auf mein Leben zurücksehe, sehe ich nur eine wahre Liebe, Sarah."

In der Nacht plauderte der Radiomann mit Stars und Schauspielern, suchte das harmlose Gespräch. Damit wurde er so populär, daß ihn die junge Journalistin Jahre später für ihre Sendereihe zur Geschichte des Rundfunks noch einmal vor das Mikrophon holt. Dieser erzählerische Rahmen ermöglicht es der Autorin, den Leser in die Atmosphäre eines Funkhauses zu versetzen und die Entwicklung des Mediums in wichtigen Etappen nachzuzeichnen: Erste Live-Sendungen, Nachrichten kommen ins Programm, der Putsch in Algier und der Einfluß des Radios auf Politik und Gesellschaft, die Musikwünsche der Hörer. Die Autorin weiß, wovon sie spricht, denn sie hat selbst als Rundfunkredakteurin gearbeitet, bevor sie sich für die Existenz als freie Schriftstellerin entschied. Das Radio mit seinen Möglichkeiten und Facetten wird hier zum Spiegel der Welt.

Louis Mérian hat auch hier die Möglichkeiten nicht ausgeschöpft, ist an der "Oberfläche" geblieben. Das wird ihm klar, weil seine Erinnerungen ihn nun lehren, "daß man tiefer suchen, den Dingen auf den Grund gehen mußte". Erinnern ist Buße, bringt aber auch eine Befreiung mit sich. Denn der Protagonist geht zuletzt ruhig, wenn auch bildlich etwas stark durch die untergehende Sonne koloriert, in den Tod, seiner Geliebten entgegen. Der jungen Radioreporterin bleibt die Hoffnung, daß Menschen sich auch spät dem Vergangenen stellen können. Eine Hoffnung, die das offizielle Gedenken fünfzig Jahre nach dem ersten großen Sammeltransport Pariser Juden in die osteuropäischen Vernichtungslager bestärkt: "einige Wochen zuvor hatte Ariane mit ihrer Mutter an der Gedenkfeier teilgenommen -, als das Land nach und nach, schleppend und zögerlich, sein Gedächtnis zurückerlangte, langsam und zögerlich, aber immer ein wenig mehr als zuvor, als man vom Präsidenten forderte, er möge der Verantwortung des Staates auf diesem Gebiet endlich gerecht werden."

SANDRA KERSCHBAUMER.

Cécile Wajsbrot: "Der Verrat". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2006. 256 S., geb., 19,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Cecile Wajsbrot zeigt in ihrem Roman "Der Verrat" ein Frankreich, das in der Krise ist, weil es sich seiner Vergangenheit "nicht stellt", meint Sandra Kerschbaumer. Es geht um die verdrängte Geschichte des Zweiten Weltkriegs, um Judendeportationen und die Kollaboration mit den Deutschen, die anhand zweier Figuren beleuchtet wird. Im Mittelpunkt stehen eine junge, jüdische Radiomoderatorin, die von ihrer Familiengeschichte traumatisiert ist, und ein ehemaliger Radiosprecher, der durch ein Interview mit ihr an seine schuldbeladene Vergangenheit erinnert wird, fasst die Rezensentin zusammen. Im Medium des Radios lässt die französische Autorin einen "Spiegel der Welt" aufscheinen, der nicht nur Radiogeschichte rekapituliert, sondern auch den politischen Hintergrund zeichnet, erklärt Kerschbaumer. Wajsbrot, selbst ehemalige Rundfunkredakteurin, "weiß wovon sie spricht", lobt die Rezensentin und ihr gefällt auch die "schwingende, rhythmische Prosa" der Autorin. Was sie dagegen als störend empfindet, ist die übergroße "Deutlichkeit", mit der die Autorin ihre Metaphern und Aussagen an die Leser zu bringen versucht.

© Perlentaucher Medien GmbH