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Produktdetails
  • Verlag: Liebeskind
  • Seitenzahl: 173
  • Abmessung: 195mm
  • Gewicht: 270g
  • ISBN-13: 9783935890038
  • ISBN-10: 3935890036
  • Artikelnr.: 09895235
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2002

Bloß keine Aufregung!
Gähnende Brillanz: Philippe Garniers originelles Lob der Lauheit

Vielleicht hätte Oblomow doch ein bißchen arbeiten sollen. Die philosophisch herausgeputzte Apathie des Titelhelden aus Gontscharows Roman ist für den französischen Autor Philippe Garnier jedenfalls nur romantische Pose. Ein paar Stunden selbstauferlegte Arbeit am Tag hätten die Figur glaubwürdiger gemacht, findet er.

Wo sich die subversiven Plädoyers für das Langsame, Träge, Ineffiziente und Schwere heute häufen, ist der knapp vierzigjährige Garnier mit seinem originellen Essay, seinem Erstlingswerk, schon einen Schritt weiter. Nicht Faulheit, Müßiggang, Außenseitertum - Zustände, die längst ihre literarischen Symbolfiguren und ihre Apologeten haben - interessieren ihn, sondern jenes wahrhaft unrettbare Phänomen der Lauheit, das in kein ordentliches Denksystem paßt, dem selbst der "Nimbus des Nichts" fehlt und das meist unter falschen Namen wie Halbherzigkeit, Mittelmäßigkeit, Willensschwäche, Feigheit, Zaghaftigkeit, Kleinlichkeit daherkommt.

Wie konnte diese Lebenstemperatur par excellence, dieser Inbegriff biologischer Dauer und unbeirrbarer Normalität zwischen Heiß und Kalt in etwas Lebenswidriges, Krankhaftes, Klägliches verkehrt werden? So lautet die Ausgangsfrage dieses Buchs. Darauf erhält man natürlich keine Antwort, denn das Thema Lauheit läßt sich in kein argumentativ bündiges System bringen. So ist das Buch nicht Manifest, sondern lose Bestandsaufnahme und der "Essay" eher eine in Kapitelvariationen durchkomponierte Aufzeichnungsfolge zum Titelthema.

Der Ängste wie Ambitionen besänftigende Wohnkomfort, die "Polster", die von der Möbelausstattung über Finanzanlagen bis zur Körperphysiognomie reichen können, die von den Härten der Welt schützenden Bildschirme, die wie klingende Wattebausche uns umfangende Supermarktmusik, die schallschluckenden Teppichböden, das klare Aussagen vermeidende Geschwätz, die jenseits aller Tragik vorwärtseilende und ewig wiederkehrende Mode - das alles sind Lebensaspekte, die dem Lauen gefallen. Seine Vorlieben sind von der Art: lieber Harmonium als Orgel, lieber ein Heizkörper als loderndes Feuer. Und lieber als mit Messer und Gabel ißt der Laue mit dem Löffel, denn auch ohne ins infantile Alter des Saugens zurückkehren zu wollen, beißt er nicht gern zu. Er braucht seine Zähne allenfalls zum Nagen, zum endlos langen Nagen an Knochen, Erinnerungen, Phantasien. Langeweile und Gewohnheit machen ihm nicht angst, sondern sind seine sanften Verbündeten gegen die Brutalität der Überraschungen, denen eine nach Daueraufregung und Leidenschaft süchtige Erlebnisgesellschaft immerfort hinterher ist.

Der "laue" Gegenentwurf dazu zielt auf eine Folklorisierung aller Dinge in einer weltweiten Kultur der Eigenheime mit Holzkohlengrill, Sonnenschirm und Goldfischteich: eine neue, künstliche, endlos reproduzierbare Umwelt aus Komfort und Simulation, die ihre Bewohner von den Trugbildern eines "authentischen" Lebens erlöst. Ist diese Glücksvision aber wörtlich oder ironisch gebrochen als gespiegelter Albtraum zu lesen? Manchmal zögert man beim Lesen über den Grad der ironischen Sinnbrechung - so, wie man es auch bei anderen zwischen Spekulation und Provokation operierenden Autoren aus Frankreich tut, zum Beispiel bei Michel Houellebecq. So fern Garnier und Houellebecq sich stehen, sie treffen sich doch in entscheidenden Punkten, etwa in ihrem Hang zum sanften, durch keine Dramatik aufgewühlten Lebensablauf. Vollzieht sich dieser bei Houellebecq in einer bis zur Banalität enthemmten Sexualität, suggeriert Garnier eher den allmählichen, unforcierten Ausstieg aus dem Geschlechtsverkehr, indem dieser nur noch als eine müde machende Vorbereitung zum Schlafen erlebt wird. Und wie Houellebecq begrüßt auch sein gähnender Halbbruder Philippe Garnier das Klonen als die lang ersehnte Befreiung von den Mühen der Fortpflanzung.

Ebensowenig wie Nachkommenschaft ist vom Lauen indessen Mord, Krieg oder sonstige Mobilmachung durch Heroismus und Fanatismus zu erwarten, denn der Laue hört auf keine Propheten. Sein praktisch einziges Credo sind Konformismus und Konvention, auch in Religionsfragen. Gottesdienst ist ihm recht, sofern danach der sonntägliche Lammbraten folgt. Arbeitsroutine ist ihm billig, vor allem wenn sie bürokratisch schnurrt. In seinem tiefsten Wesen ist er konservativ: nicht aus Überzeugung, sondern weil ihm sonst schwindlig wird. Sein heiterer Fatalismus rührt daher, daß er begriffen hat: Die Wirklichkeit spielt mit ihrer inhärenten Trägheit in sein Lager. Daher wohl ist ihm auch die "laue Revolution" der siebziger Jahre so sympathisch, jener Epoche, die mit ihrer Vorliebe für Spannteppiche und amorphe Sitzmöbel die bestehende Welt nicht wirklich abschaffen, sondern nur träumerisch hinterfragen wollte und deren Utopie so bequem umkehrbar war: "Vom Lächerlichmachen des Kaufobjekts ist man unmerklich übergegangen zum Ankauf der lächerlichen Ware, des serienmäßig hergestellten Tands."

An seinen besten Stellen schnappt dieses Buch mit aphoristischem Gespür Erfahrungen aus der Alltagsrealität auf, die jedem bekannt sind, für die der auf Extreme und Superlative fixierte Zeitgeist aber wenig Sinn, oft nicht einmal geeignete Worte hat. Selbst im Sprachstil jedoch, im sanften Fluß der wiederkehrenden Infinitivformen, die in der feinen Übersetzung auf deutsch ebenso elegant fließen, sucht der Autor weniger Brillanz und blitzende Schärfe des Ausdrucks als jenen Mattglanz der passenden Wendung, der zu seinem Thema paßt. So schimmert das Abgründige und Erhabene meist nur verhalten aus diesen Betrachtungen, manchmal allerdings aus einer Tiefe, die der eines Cioran nahekommt. Wo dieser aber die Verzweiflung über das Dasein schrill überblendete, ist sie hier diskret abgedunkelt.

Auch wenn man das Leben nicht liebt, brauche man dies aber nicht jeden Tag neu zu verkünden, schreibt Garnier. Selbstmord wäre vielleicht eine konsequente Lösung, ist aber viel zu dramatisch und überdies schmerzhaft. Müdigkeit und Ermattung tun es ersatzweise auch: nicht aber, wie bei Fernando Pessoa oder Peter Handke, auf Fahnen geschrieben, sondern als Schnupftuch in der Tasche mitgetragen. Unter Garniers inspirierter Feder kann selbst dieser Tuchzipfel zur Standarte werden.

JOSEPH HANIMANN

Philippe Garnier: "Über die Lauheit". Essay. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2001. 173 S., geb., 17,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.12.2002

Immer mit der Ruhe
Lauheit statt Leidenschaft: Philippe Garnier stellt seine Essays vor
Wer will schon lau sein? Ein Warmduscher, Weichei, Schattenparker, Sockenbügler? Niemand, so viel ist klar. Lauheit ist lächerlich, der Mensch gibt sich lieber allzeit engagiert und leidenschaftlich. Schade eigentlich, findet der französische Autor Philippe Garnier. Er stellt heute in München seinen viel beachteten Essayband „Über die Lauheit” vor. Allerdings kommen die Warmduscher gar nicht darin vor: Die seit ungefähr zwei Jahren in Deutschland grassierende Beschimpfungsflut ist bisher nicht nach Frankreich geschwappt. Doch die Lauheit, die kennt man dort auch.
„Seine Möglichkeiten nicht ausnutzen, sondern betrachten: ein Mixer, der niemals gebraucht wird, Geld, das auf einem Konto ruht.” Philippe Garnier untersucht unseren Alltag auf Anzeichen für Lauheit und Mittelmaß – in kleinen Beobachtungen, postmodern anmutenden Fragmenten an Stelle eines geschlossenen philosophischen Systems. Wie ein Flaneur streift er durch die Welt der kleinen Dinge. „Ein Flaneur muss keinen kompletten Rundgang machen”, sagt Garnier, „er kann nach der Hälfte des Weges anhalten – oder nach vier Metern, wenn er etwas Spannendes gesehen hat.” Und das kann schon der Kopierer im Büro sein: „Wer nie vor einem Photokopiergerät in Verzückung geraten ist, kennt den Sinn des Lebens im Kleinen nicht”, schreibt er. „Das weiße Licht, die serienmäßig Verdoppelung, der Abfall. Die Seiten, die man in Gedanken aneinanderfügt, die man kopiert, zusammenheftet und schließlich in den Papierkorb wirft.”
Will da jemand seine Leser zum Narren halten? Mitnichten. Garnier, darin typisch französischer Intellektueller, nimmt seine Sache ernst. Und er will das Laue weder loben noch verdammen: „Ich beobachte.” Ihn interessiert die Frage, warum die Lauheit in der europäischen, christlichen Tradition so negativ bewertet wird. Und in welches Gewand sie sich heute kleidet: „Fernsehen, Kino, Konsum – all diese Spektakel sind Injektionen extremer Gefühle, um die wahre Lauheit der Existenz zu maskieren.” Wie man auf so ein Thema kommt? „Schon als Kind – ich bin in einer katholischen Schule erzogen worden – hat mich die Idee fasziniert, dass es etwas Schlimmeres als das Böse gibt: die Lauheit. Weil Gott dann nicht mehr wusste, was er mit einem anfangen soll. Man war weniger als nichts.” Das fand Garnier „einerseits schrecklich, andererseits sehr begehrenswert. Und darüber wollte ich arbeiten.”
Das kann er allerdings nur nebenbei: Hauptberuflich ist Philippe Garnier, Jahrgang 1964, Lektor bei einem Pariser Verlagshaus. Dort ist jede laue Einstellung „absolut verboten, zumindest offiziell”. In der Berufswelt muss man „immer mit Feuer dabei sein”, wie Garnier natürlich weiß, „man verlangt Engagement, fordert die Komödie der Leidenschaft”. Nicht überraschend also, dass es auf sein Buch auch negative Reaktionen gab: „Man fand es beunruhigend.” Immerhin hat überhaupt ein Verlag den Essay gedruckt. Das war nicht selbstverständlich, denn es ist „genau die Sorte Text, für die man in Frankreich kaum einen Verleger findet”. Bis ein kleiner Universitäts-Verlag zugriff – und die Kritik den ungewöhnlichen Essayband dann überraschend lobte.
Auch in Deutschland hat sich der kleine Münchner Verlag Liebeskind dafür begeistern können und nun sogar schon den zweiten Essay von Garnier herausgebracht: In „Die Entdeckung der Unschärfe” geht es „um die Lauheit des Auges und des Ohres”. Wie sich diese Unschärfe oder Zerstreutheit äußert? „Ohne Schlüssel aus dem Haus gehen, die Handtasche auf der Sitzbank einer U- Bahn liegenlassen, die Vorwahl einer Telefonnummer vergessen”. All diese „leichten Absenzen” beruhen laut Garnier auf einer tiefen und unheilbaren Müdigkeit angesichts der ständigen Anforderungen der Welt. „Unsere visuelle und auditive Aufmerksamkeit ist durch die vielen Botschaften heute überfordert, verstört, ja fast vergewaltigt.”
Vorschläge für ein besseres Leben hat allerdings auch Philippe Garnier nicht zu bieten. Zumindest kann man heute mit ihm über seine Thesen diskutieren. Und so vielleicht endlich tiefer in das Wesen des Warmduschers eindringen. (Heute, 20 Uhr, Buchhandlung Liebeskind, Klenzestraße32, deutsche Lesung Ecco Meineke. Dazu passend: Wolfgang Ulrich hält morgen, 20 Uhr, Buchhandlung Amalienstraße 71, einen Vortrag über „Die Geschichte der Unschärfe” in der Kunst.)
ANTJE WEBER
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Philippe Garnier macht sich rein gar nichts aus der erlebnishungrigen Spaßgesellschaft. Totalen Müßiggang findet er ebenfalls zu anstrengend. Garnier liebt es lauwarm, schreibt Joseph Hanimann, der in seiner Besprechung für diese Haltung sehr viel Sympathie zeigt. "Sanft" ist das Wort, das er am häufigsten im Zusammenhang mit Garnier verwendet. So ist dieser "originelle" Essay auch kein kraftstrotzendes Manifest, bemerkt Hanimann, sondern eher eine "lose Bestandsaufnahme" einer Lebensgefühls, das heutzutage mit so hässlichen Worten wie "Halbherzigkeit, Mittelmäßigkeit, Willensschwäche, Feigheit, Zaghaftigkeit, Kleinlichkeit" bedacht werde. Alles Schnelle, Laute, Tragische, Fanatische ist Garnier unheimlich. Er liebt, darin Michel Houellebecq nicht unähnlich, meint Hanimann, schallschluckende Teppichböden und den Gottesdienst, sofern danach der "sonntägliche Lammbraten" folgt. Kurz: Er verteidigt "Konformismus und Konvention". Selbst im Sprachstil, erklärt Hanimann bewundernd, schlägt sich das nieder: Garnier vermeide Brillanz und suche stattdessen den "Mattglanz der passenden Wendung". Dennoch findet Hanimann in diesem Essay manchmal "eine Tiefe", die ihn an Cioran erinnert, nur abgedunkelter daherkommt. Ein Lob geht auch an Elisabeth Edl, die den eleganten Fluss der Sprache in ihrer Übersetzung bewahrt habe.

© Perlentaucher Medien GmbH
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