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Diese Frage gewinnt ihren Sinn aus dem Standpunkt, den man dem Jahrhundert gegenüber einnimmt - ob es etwa derjenige der politischen Geschichte ist, der des Totalitarismusbegriffs oder derjenige der Entwicklung des globalen Kapitalismus. Retrospektiv, weitblickend und persönlich zugleich entwirft Badiou einen Parcours durch das zwanzigste Jahrhundert. Ausdrücklich nach dem couragierten Prinzip, das jedes Unternehmen des Denkens sich zu eigen machen sollte: seiner Zeit anzugehören - doch in einer beispiellosen Nichtzugehörigkeit. Ist es die Vermengung von Kunst und Politik und deren »Passion…mehr

Produktbeschreibung
Diese Frage gewinnt ihren Sinn aus dem Standpunkt, den man dem Jahrhundert gegenüber einnimmt - ob es etwa derjenige der politischen Geschichte ist, der des Totalitarismusbegriffs oder derjenige der Entwicklung des globalen Kapitalismus. Retrospektiv, weitblickend und persönlich zugleich entwirft Badiou einen Parcours durch das zwanzigste Jahrhundert. Ausdrücklich nach dem couragierten Prinzip, das jedes Unternehmen des Denkens sich zu eigen machen sollte: seiner Zeit anzugehören - doch in einer beispiellosen Nichtzugehörigkeit. Ist es die Vermengung von Kunst und Politik und deren »Passion des Authentischen«, die dem 20. Jahrhundert seine Greuel beschert hat? Es geht Badiou nicht darum, das Jahrhundert zu rehabilitieren, sondern darum, es als Objekt des Denkens zu konstituieren; sein Denkbarsein entlang seiner realen Fragmente und seiner Subjektivationen verfügbar zu machen; danach zu fragen: »Wie hat sich das Jahrhundert selbst gedacht?« Dieses Denken, wie er an Mandelstam und Pessoa, Celan und Brecht, Lenin und Mao Tse Tung zeigt, ist ein Denken der Gewalt, des Widerspruchs, der Grausamkeit, der Dualität - und zugleich von einer Passion des Realen geprägt, die etwa in der Idee des Neuen Menschen zum Ausdruck kommt. Das 20. Jahrhundert, so Badiou, markiert den Tod Gottes und den Tod des Menschen (und der Menschenrechte im besonderen). Es gebiert inhumane Wahrheiten, die es zu formalisieren gilt, ohne sie zu anthropologisieren.
Autorenporträt
Alain Badiou ist Philosoph, Mathematiker, Dramatiker und Romancier. Seine politischen Aktivitäten drücken sich in der von ihm mitbegründeten »Organisation politique« aus. Er lehrte Philosophie an der Universität Paris VIII-Vincennes, der École normale supérieure und dem Collège international de philosophie.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2007

Die Zeit des Terrors
Alain Badiou hat 238 Seiten für das ganze zwanzigste Jahrhundert

Totalitarismus war die Logik des vergangenen Jahrhunderts: Der unbedingte Wille, das Wahre in die Tat umzusetzen, wurde zu einem brutalen Willen zur Macht - so die Theorie des französischen Geschichtsphilosophen.

Ein Titel wie "Das Jahrhundert" weckt zuerst die Erwartung, einen ebenso reißerischen wie geschwätzigen Magazin-Artikel oder einen entsprechenden Doku-Spielfilm aufgetischt zu bekommen. Aber der Titel ziert, in schlichten Lettern auf lindgrünem Cover, das Buch eines Philosophen. Und das lässt einen erstaunen. Denn wir stehen am Anfang des 21. Jahrhunderts, und zu den Ausnüchterungskuren, die man der Philosophie seit zweihundert Jahren, seit der Hoch-Zeit des deutschen Idealismus, verschrieben hat, gehört auch die, sich an der Geschichte nicht mehr in einem einzigen Zug zu berauschen. Geschichtsphilosophie betrachtet die Menschheitsgeschichte nach einem Prinzip, klassischerweise nach dem des Fortschritts, und dagegen haben Denker wie Karl Popper, Arthur C. Danto und Hayden White starke Argumente zusammengetragen. Zuletzt hat der Vater des Postmodernismus, Jean-François Lyotard, die Epoche der "großen Erzählungen" als diejenige der Prinzipien überhaupt zu Grabe getragen.

Doch Alain Badiou, der Autor des Buches, zeigt sich von dieser Kritik in keinster Weise beeindruckt. Die Wissenschaftstheoretiker der Geschichte sind ihm dabei keine Notiz wert, wohl aber seine berühmten französischen Zeitgenossen, die seit den späten 1960er Jahren den Wahrheitsbegriff zersetzen. Schon mit seinem Buch "Das Sein und das Ereignis" von 1988 hat Badiou die Ecksteine seines Denkens innerhalb einer Ontologie markiert, die Heidegger und Platon zusammennimmt. Das Ereignis macht als das, was aus dem kategorisierten Sein herausfällt, Wahrheit sichtbar. Obwohl sie also zu einer bestimmten Situation gehört, gilt sie allgemein. Sie ist kontextrelativ und dennoch transzendierend. Das sind im Umkreis des Postmodernismus in der Tat ketzerische Thesen.

In dem Versuch, ein ganzes Jahrhundert auf den Begriff zu bringen, ist Badiou als Philosoph derzeit singulär. Nur der Historiker Eric Hobsbawm und der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama haben dies in unserer Zeit auch gewagt. Nichts steht Badiou freilich ferner, als mit Fukuyama das "Ende der Geschichte" auszurufen; mit Hobsbawm vom "Zeitalter der Extreme" zu sprechen kommt ihm dagegen sehr nahe. Als Philosoph ist er freilich verpflichtet, dafür ein Prinzip namhaft zu machen, das über die Beschreibung von historischen Sachverhalten hinausgeht und ihnen erst ihre wahre Bedeutung verleiht. Und dieses Prinzip lautet: "Passion des Realen".

Badiou greift damit einen Grundbegriff der Psychoanalyse von Jacques Lacan auf, bei dem das Reale dasjenige bezeichnet, was sich der "symbolischen" und "imaginären" Darstellung entzieht, aber doch unabdingbar auf Darstellung angewiesen ist. Es meint die unausweichliche Wirklichkeit, das Absolute, das sich nur ereignishaft vergegenwärtigt, sich "präsentiert", statt sich "repräsentieren" zu lassen. Von der Passion des Realen getrieben zu sein heißt, im Hier und Jetzt leben zu wollen. Der Wille und das Handeln treten somit ins Zentrum. Es ist der unbedingte Wille, das Wahre zu realisieren, der zur Triebfeder des zwanzigsten Jahrhunderts wird. Dass dieser Wille zur Wahrheit in einen brutalen Willen zur Macht mündet, kann nicht mehr überraschen. Terror und Totalitarismus gehören insofern zur zwanghaften Logik des zwanzigsten Jahrhunderts.

Das große Ganze in einer einzigen Formel zu kondensieren, den Weltgeist in eine Flasche zu locken, war schon immer der Ehrgeiz der spekulativen Philosophie. Bei Badiou stehen daher Hegel und Lacan Pate, gefolgt von den theoretischen Bannerträgern des Marxismus. Er gehört nicht zu denen, die ihre maoistische Vergangenheit in den 1960er Jahren verleugnen. Doch sind seine primären Dokumente, auf die sich die Großthese stützt, keine Texte der Philosophie oder der Politik, sondern der Dichtung. Die kleinste ästhetische Sprachform soll das ganze Gewicht der Welt tragen. Mandelstam, Brecht, Celan, Pessoa und andere gelten Badiou als die besten Zeugen des Jahrhunderts. Auch er bleibt einer guten französischen Tradition von Philosophie also treu, indem er sie in ein intimes Verhältnis zur Kunst bringt. Dass er selbst auch Dramaturg und Romancier ist, kann daher nicht überraschen. Wohl aber, dass er ebenso Mathematiker ist und entsprechend Texte von Cantor, Frege und natürlich Gödel in den Kanon der Philosophie einreiht.

Von Anfang an windet Badiou sich allerdings um die politische Gretchenfrage des zwanzigsten Jahrhunderts herum: Wie hältst du's mit der Gewalt? Wenn die Leidenschaft für das Wirkliche Terror hervorbringt, könnte man ihr im Namen der parlamentarischen Demokratie und des Humanismus einfach entsagen? Aber diese Alternative benennt bei Badiou fürwahr eine Entsagung. Demokratie ist ihm gleichbedeutend mit scheinheiliger, staatlicher Politik, und für "den Menschen" hat er nur Verachtung übrig. Die Verbindung von Heideggers und Lacans Subjektkritik mit dem Marxismus kommt hier in ihrer bekannten trüben Mischung zum Vorschein. Auch sie ist typisch neu-französisch. Man hat bei unseren links-rheinischen Nachbarn diesbezüglich offenbar etwas abzuarbeiten.

Die wahre Alternative sieht Badiou in dem, was er "subtraktives" oder eben ereignisorientiertes Denken nennt, ein Denken der "minimalen Differenz", das eine winzige Lücke im historischen Schuldzusammenhang entdeckt. Das klingt elegant, ist aber viel zu vage und letztlich theologisch. So bleibt Badiou eine klare Antwort darauf schuldig, wie man an der Passion des Realen festhalten könne, ohne der Gewalt zu verfallen.

Das steht in auffälligem Kontrast zum Grundton des Buches. Es strotzt nämlich von starken, auftrumpfenden Thesen. Immer wieder stampft es mit dem Tempo einer Dampflokomotive durch die Geschichte des Denkens. Unvermeidlich provoziert es Einwände. Dass erst das zwanzigste und nicht auch das neunzehnte Jahrhundert heroisch sei, weil es das Glück erzwingen wolle, hält einer Geschichte der Idee des Helden gewiss nicht stand. Auch nicht, dass das neunzehnte Jahrhundert versprochen und geträumt, das zwanzigste dagegen gehandelt habe. Der Wille als handlungsleitendes und darüber hinaus blindes Streben tritt kolossal schon mit Schopenhauer und Nietzsche auf den Plan. Ungebrochen hält Badiou auch daran fest, historische Epochen philosophisch unter einem einzigen Prinzip zu betrachten, statt mehrere, sich möglicherweise überlagernde heranzuziehen. Insofern ist er noch ganz ein Zeitgenosse des neunzehnten Jahrhunderts.

Trotzdem ist es ein starkes, gehaltvolles Buch. Es wagt sich an ein Thema heran, welches die Philosophie nur um den Preis der Verarmung vergessen kann. Und es tut dies in einer Überzeugung, die aus dem wohltemperierten postmodernistischen wie sprachanalytischen Schlummer zu rütteln vermag. Das Jahrhundert-Buch ist kein Jahrhundertbuch. Aber zeitgemäß unzeitgemäß ist es schon.

JOSEF FRÜCHTL

Alain Badiou: "Das Jahrhundert". Aus dem Französischen von Heinz Jatho. Diaphanes, Zürich 2006. 238 S., br., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Stark findet Josef Früchtl das Buch des Philosophen Alain Badiou nicht seines Anspruches wegen, ein Jahrhundertbuch zu sein, sondern, weil es daran scheitert. Den selbstbewussten Anspruch des Autors, ein ganzes Jahrhundert begrifflich zu fassen und den thesen- und temporeichen Marsch durch die Geistesgeschichte zu wagen, hält er für "zeitgemäß unzeitgemäß". Als Polemik erscheint ihm die im Rückgriff auf Hegel und Lacan und Dichter wie Brecht oder Pessoa konstruierte These von der "Passion des Realen", weil Badiou das unvermeidliche Thema der Gewalt "typisch neu-französisch" wie eine heiße Kartoffel anfasst. Für Früchtl gerät der Text dadurch so singulär wie spekulativ.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Ein tolles und inspirierendes Buch, das en passant aufzeigt, wie trüb es in der Konsenslandschaft der deutschen Restauration zurzeit hergeht.« Frank Raddatz, Theater der Zeit