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Seit Derridas Untersuchung über "Die Stimme und das Phänomen" steht die Stimme in schlechtem Ruf. Sie trage die Schuld an der Geschichte des Phonozentrismus. In der Figur des Sich-sprechen-Hörens, so Derrida, liege die Illusion einer unmittelbaren Präsenz von Sinn - und damit das Trugbild des Subjekts in der abendländischen Metaphysik.
Christiaan L. Hart Nibbrig geht in diesem Essay dem Phänomen der Stimme in der abendländischen Literatur und Philosophie nach. Er orientiert sich dabei weniger an Derrida als an Roland Barthes, der die Stimme als den "Rest" des Körpers in der Sprache
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Produktbeschreibung
Seit Derridas Untersuchung über "Die Stimme und das Phänomen" steht die Stimme in schlechtem Ruf. Sie trage die Schuld an der Geschichte des Phonozentrismus. In der Figur des Sich-sprechen-Hörens, so Derrida, liege die Illusion einer unmittelbaren Präsenz von Sinn - und damit das Trugbild des Subjekts in der abendländischen Metaphysik.

Christiaan L. Hart Nibbrig geht in diesem Essay dem Phänomen der Stimme in der abendländischen Literatur und Philosophie nach. Er orientiert sich dabei weniger an Derrida als an Roland Barthes, der die Stimme als den "Rest" des Körpers in der Sprache bezeichnet hatte: als etwas, das in der (stumm gelesenen, geschriebenen) Sprache eliminiert ist. Die Stimme hat ihren Ort an der Berührungsfläche von Signifikant und Signifikat. Sie ist nicht mehr Präsenz und noch nicht Repräsentation, nicht mehr ganz Körper und noch nicht ganz Geist. Das gibt ihr etwas Gespenstisches, Geisterhaftes.

Sind literarische Texte stumm? Oder sind wir taub geworden vor lauter Lesen, als wär's eine bloße Augensache? Gewiß, Texte sprechen nicht so, wie wenn sie, mit geliehener Stimme, laut gelesen werden. Und doch reden wir davon, daß Gelesenes uns anspricht oder eben nicht, daß es uns etwas zu sagen hat über uns selber gar; so als würden wir, am Ende, selbst davon gelesen, so, daß im Resonanzraum der Lektüre die Stimme des Textes geisterhaft als die eigene erklingt und umgekehrt. Wie aber hören wir beim Lesen: Rede und Gegenrede erzählter Figuren, die scheinbare tonlose Vielstimmigkeit eines Gedichts, den Rhythmus von Texten, ihr Tempo, ihre Pausen, ihren Tonfall, ihr Timbre, ob sie dröhnen oder flüstern, kurz: ihre Stimme?

In einer faszinierenden Sequenz vielfältiger Fall-Etüden fragt dieser Essay nach der Stimme von Texten. Komponiert ist er als intertextueller Echoraum europäischer Literatur- und Philosophiegeschichte. Die "Geburt der beseelten Stimme aus dem Geiste des Echos" ist natürlich der Mythos der Nymphe Echo, bei dem Hart Nibbrigs Essay einsetzt. In seinem Echoraum singen Homers Sirenen ihr betörendes und Kafkas schweigende Sirenen ihr noch bedrohlicheres Lied; im Sirenen-Kapitel des Ulysses mit seiner Atmosphäre verschwitzter Erotik wird die Stimme zur phallischen Chiffre; und Ingeborg Bachmanns Undine zieht die Männer, die alle Hans heißen, ein letztes Mal in den Sog der Sirenenstimme. Bei E. T. A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe, bei Milton oder Wordsworth - stets gleicht die Stimme einem Geist in der Flasche, die es durch "aktiv hörendes Lesen" zu entkorken gilt.

Ein paralleler Durchgang durch die Geschichte der Philosophie beginnt mit Platons Kritik der Schrift, verläuft über Rousseau und Herder zu Hegel und Nietzsche - der in der Stimme des Professors die "Nabelschnur" sieht, die den Studenten mit der Universität verbindet - und endet schließlich in einer Berliner Wohnung um 1900, in deren bürgerliches Interieur der Telephonapparat einbricht.
Autorenporträt
Christiaan L. Hart Nibbrig, Prof. Dr., geb. 1944, ist Literaturwissenschaftler und Essayist. Er lehrte von 1980 bis 2008 an der Universität Lausanne. Gastprofessuren in USA, Italien, Norwegen; Mitglied der Academia Europaea London.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.07.2001

Die Stimmen des Textes
Christiaan L. Hart Nibbrigs Studie zum „Echoraum Literatur”
Wir nehmen uns einen Roman vor, lesen ein paar Zeilen, und gleich ist da eine Stimme, die aus dem Text zu uns spricht. Die uns umgarnt und verführt, der wir verfallen oder von der wir uns abwenden. Eine Stimme, aber sie hat keine Laute, gehört keinem Menschen an – jedenfalls keinem aus Fleisch und Blut. Sie geht aus Leblosem hervor, ist nichts als ein Effekt des Textes. Dennoch vernehmen wir sie. „Geisterstimme” nennt sie Christiaan L. Hart Nibbrig, in seinem gleichnamigen Buch. Um ihr auf die Spur zu kommen, durchstöbert er die abendländische Literaturgeschichte, insbesondere die seit dem 18. Jahrhundert, und berücksichtigt auch die einschlägigen philosophischen Positionen.
Jacques Derrida hatte kritisiert, dass man in der europäischen Kultur die „lebendige” Stimme der „toten” Schrift vorzieht – denn sie begünstige die Illusion von einem Individuum, das vollständig bei sich selbst sein könne. Demgegenüber verwies er darauf, dass jeder einzelne in eine Struktur uneinholbarer Nachträglichkeit eingebunden sei – dekonstruierte damit die Vorstellung von der Stimme als Präsenz. Hart Nibbrig erwähnt Derrida nur en passant – und er folgt ihm nicht, denn ihn interessiert die Frage, warum der Eindruck einer Präsenz der Stimme im Text zustande kommt und in welchen Formen sie erscheint.
Echo und Sirenen
Nach Hart Nibbrig errichtet der literarische Text einen von Stimmen erfüllten Resonanzraum – dabei begreift er die Stimme als ein Phänomen purer Medialität: „Die Botschaft, die sie ist und die unvermittelt, vibrierend, über alle Rampen und Grenzen geht und ans Herz greift, ist weit unwiderstehlicher als literarische Identifikationsangebote, die über ausgeleierte, von Erfahrungsdefiziten angetriebene Transmissionsriemen formulierbarer Inhalte laufen.” Seinen Zugang zur Literatur findet er über den Versuch, den Eigentümlichkeiten der verschiedenen, von den Texten freigesetzten Geisterstimmen auf die Spur zu kommen – und zwar durch ein „horchendes Lesen”. Für dieses Unternehmen versammelt er eine beeindruckende Zahl von Stimm-Gewaltigen. Er beginnt bei mythologischen Figuren wie der Nymphe Echo mit ihrer körperlosen Stimme, geht weiter zu den Sirenen des Odysseus, gewinnt Werken von Büchner bis Kafka weitere Nuancierungen ab. Das virtuoseste Stück des dicht gewobenen Essays ist aber die Lektüre von Nietzsches Dionysos-Dithyrambus „Die Klage der Ariadne”.
Ariadne, die Hüterin des Labyrinths, wird hier in ein Textlabyrinth der Stimmen versetzt, aus dem kein Faden hinausführt. Sie ruft Dionysos an, und ihr Sprechen verleiht dem Herbeigewünschten eine Stimme. Ihr Begehren produziert ein Gegenüber, das ihr ebenso angehört wie es von ihr geschieden ist. Aber darf in diesem Fall überhaupt noch von abgrenzbaren Figuren gesprochen werden? Spätestens als der Gott zu ihr sagt „Ich bin dein Labyrinth”, hat Nietzsche beide Sprechpositionen unauflöslich miteinander verwoben. Auch das Innenohr galt ja von jeher als ein Labyrinth. Dionysos geht also aus dem Sprechen der Ariadne hervor; zugleich ist er der Hörende und der Antwortende. Hart Nibbrig folgert: „Wenn das Labyrinth Metapher der Bewegung des Textes ist, dann ist es darüber hinaus auch Metapher seiner Lektüre, der verschlungenen Weise, die Stimme im Text und die Stimme des Textes zu hören.” Das Ohr wird zur Figur des Textes, aus dem es kein Entkommen gibt. Dergestalt emanzipiert Nietzsche die Geisterstimmen von der Fixierung auf die Stimme des Autors.
Hart Nibbrig komponiert seinen Essay vielstimmig, indem er zahlreiche literarische Stimmen vergegenwärtigt. Leider fehlen diejenigen anderer Interpreten – für manche der Texte liegen einschlägige Untersuchungen vor; verwiesen sei hier stellvertretend auf Bettine Menkes „Prosopopoiia” (Fink Verlag, 2000). Als Literaturwissenschaftler hat Hart Nibbrig die Forschung natürlich zur Kenntnis genommen – unverständlich bleibt, warum er sie dennoch ausgrenzt. Denn obwohl sein Text als Essay daherkommt, richtet er sich nicht an ein Fachpublikum. Einmal bekennt er programmatisch: „Was der vorliegende Versuch an Literaturtheorie ausschwitzt, soll der Literatur zurückgegeben werden.” Verzichtet Hart Nibbrig auf Zitatnachweise und auf Sekundärtexte, um die hohe Literatur rein zu halten? Wenn aber der Echoraum Literatur gerade in der Konfrontation des Textes mit einer Lektüre entsteht, dann kann erst die Pluralität der Lektüren verschiedene Timbres freisetzen.
Christiaan L. Hart Nibbrig bringt hier eine einzige Lesart – seine eigene – zu Gehör. Diese genialische Geste, mit der der Interpret die Literaturgeschichte vereinnahmt, als sei er der einzige, der ihr auf gleicher Augenhöhe antworten könnte, wirkt zu stark. Dennoch – sein Essay trägt dazu bei, die Bandbreite des rätselhaften und bislang zu wenig beachteten Phänomens der Stimme im Text auszumessen.
SVEN KRAMER
CHRISTIAAN L. HART NIBBRIG: Geisterstimmen. Echoraum Literatur. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2001. 136 Seiten, 29 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Die Stimmen, die aus Texten sprechen, sind es, mit denen sich der Literaturwissenschaftler Christian Hart Nibbrig in diesem Essay beschäftigt. Literarische Texte, so seine These, erzeugen einen "von Stimmen erfüllten Resonanzraum", er empfiehlt, konsequent, ein "horchendes Lesen". Der Höhepunkt des Bandes findet sich, für den Rezensenten Sven Kramer jedenfalls, in der Lektüre von Friedrich Nietzsches "Die Klage der Ariadne". Dieser Text werde als Labyrinth ohne Ausweg lesbar, Nietzsche emanzipiert hier, wie Kramer referiert, "die Geisterstimmen von der Fixierung auf die Stimme des Autors". Hart Nibbrig, so der entscheidende Einwand des Rezensenten, stellt in gewisser Weise genau diese Fixierung wieder her, indem er hier nur eine Stimme sprechen lässt: seine eigene. Was Kramer vermisst, sind (ausgerechnet, möchte man doch sagen): Fußnoten, Zitatnachweise, Sekundärtexte und ein wissenschaftlicher Apparat. Der Rezensent deutet dies, sehr kritisch, als allzu "genialische Geste".

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