Produktdetails
  • Verlag: Kowalke
  • Seitenzahl: 255
  • Deutsch
  • Abmessung: 190mm
  • Gewicht: 348g
  • ISBN-13: 9783932191169
  • ISBN-10: 3932191161
  • Artikelnr.: 25044451
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2000

Irgendwo im Nirgendwo
Ein vorsichtig tastender Anfang: Jan Bürgers „Verlängerte Reise”
Eigentlich ist Peer Brenner ein altmodischer Mensch: ein Büchernarr, der Philosophie studiert hat, leicht verklemmt und unbeholfen. Keiner, den es in die Welt hinauszieht, einer, der gern unterkriecht. Doch eines Tages ist die langjährige Freundin Ina verschwunden. Ohne ein Wort hat sie sich aus dem Staub gemacht. Erst drei Monate später gibt die Verschwundene ein Lebenszeichen. Und Peer geht auf Reisen: in die Stadt, eine europäische Metropole, in der die Postkarte abgestempelt wurde.
Ihren Namen erfahren wir nicht. Sind nicht die Städte längst austauschbar, überall dasselbe Junkfood, dieselben Markennamen und flagship stores? Und sind es die Menschen nicht auch, als Arbeitnehmer, Liebes- und Geschlechtspartner? Wird ihr Bedürfnis, sich individuell zu geben, nicht gerade von diesem Gefühl angeheizt: jederzeit ersetzbar zu sein, spurlos verschwinden zu können, ohne dass einer sie vermisste? Der Roman bewegt diese Thesen, aber er traut ihnen nicht. Sie werden einer Figur in den Mund gelegt, die ebenso charismatisch wie unsympathisch ist und also das genaue Gegenteil des unglücklichen Helden Peer Brenner: Carl, einem ehemaligen Mediziner. Er wohnt mit seinem Freund auf einem stillgelegten Schlachthof, kartografiert Industriebrachen und führt – wie sich am Ende herausstellen wird – Menschenexperimente durch. Spätere Generationen, so meint er, werden ihm seine Mühen danken. Der Katalog des Leidens, den er erstellt, werde ihnen ein Bild davon geben, was der Mensch einmal war, ein körperliches und also verwundbares Wesen.
Doch der Erstling des 1968 geborenen, in Hamburg und Berlin lebenden Autors ist durchaus kein Thesenroman. Die kulturkritischen Überlegungen bilden (nur) das Gerüst, das der noch unsicher erzählten Liebesgeschichte Halt gibt. Verlängerte Reise ist erkennbar ein Debüt: vorsichtig tastend. Da probiert sich einer aus, sucht sein Thema, variiert den Ton. Beim derzeit üblichen Aufblasen von Debüts zu Jahrhundertereignissen tut solche Bescheidenheit wohl. Doch warum lässt der Autor seine Geschichte nicht hier und heute spielen, in einer ganz bestimmten Stadt? Das hätte ihn zu größerer Genauigkeit gezwungen. So aber wird der zynische Nostalgiker Carl zum Sprachrohr, weil die Anlage des Romans seinen Auslassungen recht zu geben scheint. Und die Liebesgeschichte droht, sich irgendwo im Nirgendwo zwischen Kafka und Frankenstein aufzulösen.
Haltbares Gefühl
Denn um Liebe geht es, zumindest für Peer: „Bisher hatte ich Berichte über Liebe auf den ersten Blick für reinen Kitsch gehalten, in Romanen, die mindestens hundert Jahre alt waren, gerade noch zu ertragen, doch nur wenig ändert sich so schnell wie die Gewissheiten eines Zwanzigjährigen. Was soll ich sagen? Ich war überwältigt ” Das Gefühl hat sich offenbar, trotz der Alltagsroutine, zehn Jahre gehalten. Ganz anders ist das bei Niko und Esta, einem Paar, dessen Werdegang der Roman parallel vorführt. Niko war ein Schulfreund von Peer, zufällig befindet man sich, ohne voneinander zu wissen, zur selben Zeit in derselben Stadt. Niko und Esta haben ein Spiel erfunden, um das mit den Jahren abgeflaute Begehren anzuheizen. Er macht öffentlich Frauen an – sich mal als Kavalier, mal als Neureicher, mal als Intellektueller oder Jungregisseur gebend –, und sie sieht ihm dabei zu: „Welcher Liebesbeweis ist größer, als sich im entscheidenden Moment der Versuchung zu widersetzen und die Partnerin dabei noch zusehen zu lassen. Über den Umstand, dass wir in der folgenden Nacht, während wir uns liebten, an unsere Opfer dachten und uns so gewissermaßen auf intellektueller Ebene betrogen, tauschten wir uns nicht aus. ”
Alle Fäden scheinen bei Carl, dem Dämon, zusammenzulaufen. Er kennt Niko und Esta, Peer und offenbar auch Ina. Gut möglich, dass die Menschenknochen, die Peer, kurz bevor er zu Experimentierzwecken eingesperrt wird, in Carls Garten findet, einmal zu Ina gehörten. Das lässt der Roman offen – wie so vieles, was den Leser brennend interessieren würde.
MEIKE FESSMANN
JAN BÜRGER: Verlängerte Reise. Roman. Verlag Kowalke & Co. , Berlin 2000. 249 Seiten, 39 Mark.
Jan Bürger
Foto: Marianne Fleitmann
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Nicht so ganz sicher, wie sie zu Jan Bürgers `Verlängerte Reise` stehen soll, scheint sich Meike Fessmann zu sein. Sie begrüßt es zwar, dass hier ein junger Autor `vorsichtig tastend` zu Werke geht, mit `wohltuender Bescheidenheit sich ausprobiert, sein Thema sucht und den Ton variiert`, wo der Roman dann jedoch hinsteuert, scheint ihr nicht so ganz zu gefallen: Zwei Hauptfiguren, an die zwei miteinander verbundene Erzählstränge geknüpft sind, zeigt sie uns auf, zum einen den `altmodischen` Menschen, dessen Freundin eines Tages sang und klanglos verschwindet und nach der er zu suchen beginnt, zum anderen einen kulturpessimistischen und menschenverachtenden Mediziner, der auf einem stillgelegten Schlachthof Menschenexperimente durchführt. Das die kulturkritischen Thesen, die an die Gestalt des Mediziners geknüpft sind, nur ein Gerüst für die noch unbeholfen erzählte Liebesgeschichte sein könnte, davon ist die Rezensentin überzeugt. Warum eigentlich? Unangemessen sind in jedem Fall ihre latent in die Kritik eingearbeiteten Vorschläge, wie das Buch besser hätte geschrieben werden können, um den von ihr favorisierten Erzählschwerpunkt deutlicher werden zu lassen.

© Perlentaucher Medien GmbH