Produktdetails
  • Verlag: Tropen Verlag
  • ISBN-13: 9783932170898
  • ISBN-10: 393217089X
  • Artikelnr.: 20844235
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.08.2007

Das war das Glück
John Haskells Roadmovie „Amerikanisches Fegefeuer”
Ein Mann holt an einer Tankstelle Süßigkeiten und etwas zum Trinken. Anne, seine Frau, wartet im Auto. Als er wieder nach draußen kommt, ist sie spurlos verschwunden und taucht nicht mehr auf. Auf ihrem Schreibtisch liegt eine Karte der USA, auf der mehrere Orte eingekreist sind. Der Mann kauft einen Sportwagen und macht sich auf die lange Fahrt von New York über Kentucky, Colorado und Arizona bis nach Kalifornien. Anne ist nirgendwo zu finden. Nach und nach wird klar, dass sie bei einem Unfall gestorben ist – ebenso wie er selbst. Am Strand von San Diego kann er schließlich, mit der sehnsüchtig Gesuchten vereint, die Reise ins Nichts oder die Ewigkeit antreten.
Ist es unfair, die Pointe dieses Romans zu verraten? Nein, denn allzu neu ist sie nicht. In „The Sixth Sense” ist sie erfolgreich verwendet worden, lange davor schon in „Carnival of Souls”, einem der ersten modernen Horrorfilme, und in „Ubik” von Philip K. Dick. „Amerikanisches Fegefeuer” von John Haskell ist die hochkulturelle Variante dieser Werke. Mystery- und Gruseleffekte spielen keine Rolle; im Zentrum steht die Monomanie des Protagonisten, der alles, was ihm widerfährt, nur im Spiegel seines unerträglichen Verlustes wahrnehmen kann. Dass er einmal behauptet, sein Name sei Jack – „wie Kerouac” – ist signifikant. Denn auch als konsequente, nahezu parodistische Negation der Versprechen, die „On the Road” beschwört, lässt seine Reise sich verstehen. In dem trostlos-unterweltlichen Amerika, das John Haskell schildert, ist kein Aufbruch mehr denkbar – es sei denn, in den Tod.
Wenig überzeugend ist die Idee des Autors, jedem der sieben Kapitel eine Todsünde zuzuordnen. Die Handlung bietet hierfür kaum Anlässe; so bleibt es beim Versuch, dem episodischen Ablauf eine gewisse Struktur und bewährte metaphysische Nobilitierung zu verleihen. Am stärksten berührt „Amerikanisches Fegefeuer”, wenn der Ich-Erzähler sich in kurzen Passagen an das Leben mit seiner Frau erinnert. Im Anblick eines Armes oder Fußes, in einem Frühstück im Bett – darin bestand das Glück, und erst jetzt, da es unwiderruflich vorbei ist, vermag es seine ganze Leuchtkraft zu entfalten.
CHRISTOPH HAAS
JOHN HASKELL: Amerikanisches Fegefeuer. Roman. Aus dem Amerikanischen von Volker Oldenburg. Tropen Verlag, Berlin 2006. 263 Seiten, 19,80 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2006

Fehlfarbenlehre
John Haskells neuer Roman spielt mit den Todsünden

Wie einen ein Buch anschaut, so schaut man auch zurück. Beim Anblick mancher Umschläge möchte man das Buch gleich wieder weglegen, auch wenn der Autor meist nichts dafür kann. Der Amerikaner John Haskell wiederum kann sich bei seinem deutschen Gestalter bedanken, der die Stimmung des Romans mit traumwandlerischer Sicherheit auf den Umschlag gebracht hat. Ein Mann mit gesenktem Kopf, eine Tankstelle, ein weiter Horizont. Ein Road-Movie-Versprechen. Es ist eine Fotografie von Stefanie Schneider, die seit Jahren mit Polaroidmaterial arbeitet, das sein Verfallsdatum überschritten hat. So entstehen Fehlfarben, Verfremdungen und Flecke in den Bildern, eine unwirkliche Textur zwischen Gemälde und Videobild, und wenn mitten durch dieses Bild der Titel "Amerikanisches Fegefeuer" verläuft, beginnt die Phantasie zu arbeiten.

Der 48jährige John Haskell bringt fürs Genre die nötige Erfahrung mit. Er kommt aus San Diego, wo seine Road Novel endet, und er lebt in Brooklyn, wo sie beginnt. Schon zu High-School-Zeiten ist er losgetrampt, von Küste zu Küste und zurück. Er hat ein Theater mitbegründet in Chicago, er hat Monologe geschrieben und sie in Performances vorgetragen, und irgendwann erschien es ihm einleuchtender, daß die Worte und Sätze einfach auf der Seite blieben. Seine Erzählungen "I'm not Jackson Pollock" (2003) führten seltsame, hybride Gebilde aus Fiktion und Essays vor, und auch sein erster Roman findet sofort einen eigenen Ton und eine eigene Struktur. Sieben Kapitel, jedes nach einer der Todsünden benannt (in lateinischer Sprache), sieben Abschnitte in jedem Kapitel. Diese Idee erdrückt den Roman nicht, sie funktioniert wie ein kleiner Kompaß, wie das Spiel mit den Todsünden, mit Chaucer und Dante in David Finchers Film "Seven". Sie nimmt sich nicht zu wichtig, ist aber auch nicht so unernst, wie es erscheinen mag.

Der Roman beginnt mit einer Standardsituation. Ein Mann hält an einer Tankstelle in New Jersey, um Schokoriegel und Getränke zu kaufen. Als er wieder herauskommt, ist das Auto mit seiner Frau spurlos verschwunden. Niemand hat etwas gesehen. So fangen Thriller an. Ein Verlust, ein Rätsel, ein Ziel, eine Suche, eine doppelte Reise: durch das Land und durch die Landschaft des Ichs. Jack findet in den Papieren seiner Frau Anne eine Landkarte, die markierte Route führt quer über den Kontinent nach San Diego. Er kauft ein Auto und fährt los. Sein Handeln ist plausibel. Und irgendwann merkt man, daß etwas nicht stimmt mit Jack.

Wenn er spricht, verschränkt er oft seine Sätze ineinander, als müßten sie auseinander hervorgehen wie in einer Deduktion. Er zwingt sich, an etwas zu glauben, er klammert sich an diesem Glauben fest, er tastet sich in der Sprache voran wie ein Kletterer an einer Steilwand, Haken für Haken. Er trifft zwischen Charleston, Lexington, Flagstaff und San Diego merkwürdige Gestalten, esoterisch angehauchte Seelen, späte Hippies, Halbkriminelle, wie sie einem auch in den Büchern von Denis Johnson begegnen. Er versucht zu vergessen, und er ist einer dieser Besessenen, die sich zu vergessen verordnen, was sie nicht vergessen können.

Und auf einmal sind da kleine Spuren und falsche Fährten, Anflüge von Neid und Eifersucht und Gier. Und wie Treibgut werden in seinem Bewußtseinsstrom kleine Erinnerungsstücke nach oben geschwemmt: Bilder von Anne, aber auch winzige Details aus jenen wenigen Minuten, bevor sie samt dem kastanienbraunen Wagen verschwand. Es ist, als schaute man ein Bild immer wieder von neuem an, aus einem anderen Blickwinkel, der einen Dinge sehen läßt, die vorher nicht da waren.

John Haskells Sprache hat in ihrer Klarheit einen Blick für die Welt, er nimmt das Land selbstverständlich und ohne die latente Romantik europäischer Augen wahr, doch zugleich richtet sich der Blick nach innen. Jacks Selbstbeobachtungen haben mitunter etwas Manisches, weil sie sich an den kleinsten Dingen festkrallen, weil sie so hart auf Details zoomen, daß es einen schwindelt. Im Auf und Ab von Selbstbeschwichtigung und Selbstzweifel erkennt er: "Ich denke weniger, als daß ich mir etwas einrede", und weil das so ist, kann er seiner Selbsterkenntnis nicht trauen. So ziellos irrt er durch das Labyrinth seines Bewußtseins, daß man sich irgendwann fragt, von wo aus dieser Jack überhaupt spricht, in welchem Bewußtseinszustand er sich befindet. Er ist dabei kein unzuverlässiger Erzähler, kein Schwindler, der einem etwas vormacht; wenn, dann macht er sich eher selbst etwas vor.

Natürlich darf man die Pointe der Geschichte nicht verraten, auch wenn es schwerfällt, weil sie die Unschärfen der Wahrnehmung erklärt, die in der Fotografie von Stefanie Schneider zugleich angedeutet und verschleiert werden. Und wenn man allmählich zu ahnen beginnt, was mit Jack los ist, wenn die Vermutungen auf den letzten Seiten zur Gewißheit werden, dann leuchtet dieses "Amerikanische Fegefeuer" nur noch kräftiger. Man sollte den Titel nicht unterschätzen.

PETER KÖRTE

John Haskell: "Amerikanisches Fegefeuer". Roman. Deutsch von Volker Oldenburg. Tropen-Verlag, Berlin 2006. 264 Seiten, 19,80 Euro.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Als "Sprachkunstwerk" feiert Rezensentin Bernadette Conrad diesen Roman über eine "coast-to-coast"-Autofahrt quer durch die USA, bei der die Frau des Fahrers verloren geht. Denn die Reise führt Protagonist John durch die Landschaften und Abgründe Amerikas und der eigenen Seele. Die Rezensentin ist gebannt von der Art und Weise, wie der Autor verschiedene Ebenen und Bedeutungszusammenhänge übereinander schiebt, dabei "wie beiläufig" literarische Genres berührt und auf diesem Weg streckenweise auch das "philosophische Road-Movie" a la Jack Kerouac und Allen Ginsberg wieder belebt. Sie folgt dem Protagonisten fasziniert durch Ängste, Besessenheiten und Trancen und ist beeindruckt, wie sich das Rätsel des Buchs am Ende in der Erzählstimme von selber löst.

© Perlentaucher Medien GmbH