Produktdetails
  • Verlag: Tropen Verlag
  • ISBN-13: 9783932170638
  • ISBN-10: 3932170636
  • Artikelnr.: 12377697
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.2004

Neutron in Stalins Aschenbecher
Wodka, Marke Pegasus: Wenedikt Jerofejews frühe Tagebücher

Das Wodka-Trinken als russische Lebensform erblickte etwa um die gleiche Zeit wie die Leibeigenschaft das Licht der Welt. Das die russischen Lande sammelnde Moskauer Großfürstentum hatte um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts seine Untertanen so erfolgreich an die Leine gelegt, daß der Alkoholgenuß im Volk immer weniger mit Heiterkeit und immer mehr mit Auflehnung und Frust zu tun hatte. Parallel dazu bescherten die Fortschritte in der Landwirtschaft jenen Überschuß an Getreide bei zurückgehender Waldhonigausbeute, welcher die Umstellung vom traditionellen Met auf Kornschnaps möglich machte. Seinen Charakter einer bitteren Medizin hat sich das Nationalgetränk, das als Lebenswässerchen "Aqua vitae" ins Moskowiterreich gebracht wurde, bis heute bewahrt. Den Geschmack von Wodka schätzen seine Adepten nicht, weshalb sie ihn eilig verschlucken, um nur rasch seine Wirkung zu verspüren.

Wenedikt Jerofejew, der russische Klassiker der trunkenen Muse, therapierte seinen orientalisch anmutenden Widerwillen gegen das spätsowjetische Erdengefängnis durch systematischen Suff, bis sein fleischliches Selbst mit zweiundfünfzig Jahren an Kehlkopfkrebs zugrunde ging. Zuvor hatte er Unsterblichkeit erlangt durch sein Prosagedicht "Moskau-Petuschki" über eine alkoholisch delirierende Zugreise, die ihm zum volkstümlich theologischen Bild für die illusionsgetriebene Irrfahrt des Menschenlebens geriet. Der im elenden Industriekaff Kirowsk geborene Aussteiger Jerofejew, der wegen seiner Eskapaden von der Universität flog, spielte für das neunmalkluge Sowjetsystem die Rolle eines inspirierten Narren. Wodka, der Universalverdünner, ließ die Luftspiegelungen der konventionellen Vernunft verfließen und offenbarte, daß alles Leben rauschhaft ist und zerstören will. Die alkoholisch beeinträchtigte Wahrnehmung wird zum ästhetischen Prinzip. Wenn man in Claude Monets verschwimmenden Leuchtbildern eine Apotheose des kurzsichtigen Blickes erkennen will, so kann Jerofejew, dessen Visionsstrom sich durch die unappetitlichsten Niederungen unseres molekularen Daseins tragen läßt, als Philosoph des Alkoholismus gelten. In das Labor dieser geistigen Welt versetzen Jerofejews frühe Tagebücher, die als "Aufzeichnungen eines Psychopathen" jetzt auf deutsch herausgekommen sind.

Als Absprungrampe für die Flugübungen seines Bewußtseins dienen dem Autor die Alltagsweisheit und das comme il faut im sowjetrussischen Askeseparadies, dem Ende der fünfziger Jahre der Heroismus ausging. Komsomol-Hirten, Mitstudentinnen, Arbeitskollegen predigen Selbstbescheidung, Anstandstheater, zahme Bücherbildung, die einem das Herdenglück kleiner Konsumfreuden oder Kinoabende einbringen können. Seit je hat die Arbeitsroutine das Menschenleben bestimmt, stellt Jerofejew fest. Doch wo man unser Rädchendrehen schamlos Glück nennt, da bleibt als einziger Ausweg nur das Trinken. In der Pose des spirituell Verwirrten provoziert der Wodka-Weise mit Vorliebe Milizionäre und Lehrerinnen zu besserwisserischen Tiraden, die wider Willen die eigene Hohlheit entlarven. Und der sich treu zu Lenin bekennenden Werktätigen weist er nach, daß sie aus Mangelernährung im Herzensgrund eine Dissidentin ist.

Der bekennende Alkoholiker Jerofejew kultiviert jenes kosmische All-Bewußtsein, das als russische Spezialität gilt. Indem er die feste Verankerung im schnöden Diesseits vermeidet, hat er teil am unendlich gärenden Urschleim. Mit Hingabe suhlt sich Jerofejews literarisches Selbst mit bewußtlos Betrunkenen in Dreckpfützen, begleitet einen dreifachen Frauenmörder, ergeht sich in der Schilderung eines alkoholisierten Vergewaltigungsopfers, als wäre es ein Madonnensymbol weiblichen Leids. Zugleich stimuliert die äußere Erniedrigung den Pegasus-Flug der Fantasie. Das Auto, das den Autor beinahe überfährt, löst seitenlange Welterlösungsfantasien im Seelenkino seines lyrischen Ich aus. Gegen Ende seiner Aufzeichnungen kommt der saufende Literat folgerichtig zu dem Schluß, er sei alles: ein eingemauerter Ägypter, ein weißer Fleck auf der Landkarte, ein Neutron in Stalins Aschenbecher. "Ich kratze das Weltall unter meinen Fingernägeln hervor", lautet sein poetisches Rezept, nach dem sich leeres Stroh zu größenwahnsinnigem Gold spinnen läßt.

Als Wahrheitssucher fühlt sich Jerofejew unwiderstehlich angezogen vom Ekelhaften, das er als todsicheres Impfserum gegen den schönen Schein wahrzunehmen scheint. Er könne sich für schön ausgelegten Dung begeistern oder für die gequälten Bewegungen eines Rheumatikers, bekennt der große Kicherer auf dem Papier in einer ironiefreien Passage. Marmorne Apotheosen klassischer Schönheit hingegen erwecken in ihm nur Abscheu. Vertierung bedeutet Authentizität, verkündet Jerofejew. Hochschulbildung verfälscht die Gefühle und macht die Sinne stumpf.

Klar, daß unter diesem Röntgenblick sich auch die erotische Liebe als schlechte Komödie oder physiologische Bedürfnisanstalt erweist. Allenfalls ein weibliches Alter ego des Autors, eine übermütige Trinkerin, die diverse Freier an der Nase herumführt, vermag ihn vorübergehend zu begeistern. Des Helden eigentliches Liebessehnen gilt dem Nirwana des Nichtseins. Mit ihm flirtet er ausgiebig, malt sich aus, er sei scheintot oder verliebe sich in eine Tote. Im Schlußkapitel der "Aufzeichnungen" bettet der bei ihrer Niederschrift gerade neunzehn Jahre junge Jerofejew die eigene Seele zur Ruhe. Durch das vorgestellte Begräbnisritual samt Trauermusik und die Erinnerungsfetzen der Hinterbliebenen an ihn hindurch erlauscht der Autor, selig entsterbend, seine Lieblingsmusik, die völlige Stille.

KERSTIN HOLM

Wenedikt Jerofejew: "Aufzeichnungen eines Psychopathen". Aus dem Russischen übersetzt von Thomas Reschke. Tropen Verlag, Köln 2004. 192 S., geb., 17,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.08.2004

Tjaa . . . die romantischen Umstände . . . stockdunkel
Jugend im frühen Post-Stalinismus: Wenedikt Jerofejews großartige „Aufzeichnungen eines Psychopathen”
Dem Russen geht es dreckig. Er benimmt sich daneben. Er säuft wie ein Loch. Und der Autor beschreibt das in finstersten Farben und magenumstülpendem Realismus. So etwa ließe sich die Essenz von Wenedikt Jerofejews „Aufzeichnungen eines Psychopathen” wiedergeben. Na und?, könnte man jetzt sagen. Schreckliches Leben, Daneben-Benehmen, Suff gibt’s haufenweise in der russischen Literatur. Kennen wir von den postmodernen Klassikern wie Jerofejews Namensvetter Viktor, von Sorokin oder Mamlejew. Und die Jüngeren - Stogoff, Deneschkina, Bolmat - haben die Drogen gewechselt, aber nicht die Strategie: Schreckliches Leben, Daneben-Benehmen, Suff. Es gibt im Russischen sogar ein Wort dafür: Tschernucha - Schmutz, Schund, eine ganze literarische Tradition der Düsternis und Grausamkeit. Man ist sie schon fast ein bisschen leid.
Jedoch: Wenedikt Jerofejew ist anders. Wenedikt Jerofejew, den in Deutschland kaum jemand kennt, der in Russland aber mit zärtlicher Leidenschaft verehrt wird, hat über die Gosse geschrieben, als das noch keine literarische Pose war, sondern eine Enthüllung, ein verbotener Blick auf die Nachtseite der sowjetischen Gesellschaft: Pulp Fiction als humanistischer Appell. Sein bekanntestes Werk, „Die Reise nach Petuschki” ist ein orgiastisches Road movie und enthält pro Seite genug Alkohol, um halb Russland einzulegen.
Tschechows „Krankensaal Nr 6” mochte die Parabel auf den zaristischen Polizeistaat gewesen sein. Das Jammertal der Breschnjew-Zeit aber war keine Frage der Pathologie, sondern der Promille. Während Millionen der lichten Zukunft entgegenstrebten, feierte Jerofejew den Rausch als Martyrolog. Das konzentrierte „Sich-Klar-Saufen” nach einer durchzechten Nacht, die Verpflichtung, die Nüchternheit so lange zu bekämpfen, bis die unerträgliche Wirklichkeit verschwand und ein hellsichtiges Delirium heraufzog, dieser stinkende, komische, sinnfreie Karneval: Das hatte es noch nicht gegeben.
„Die Reise nach Petuschki” erschien in den Siebzigern im Samisdat. Auch die „Aufzeichnungen eines Psychopathen”, Jerofejews Jugend-Tagebuch aus den Fünfziger Jahren, überlebten nur durch Zufall. Zweimal hatte der KGB die fünf Hefte bei Hausdurchsuchungen übersehen. Ein Freund, Wladimir Murawjow, hatte sie aufbewahrt. Erst vor vier Jahren fanden sie in Russland einen Verlag, da war Jerofejew bereits zehn Jahre tot, an Kehlkopfkrebs gestorben nach einem Leben als Heizer, Leerguthändler und Autor legendenumrankter, aber nie gedruckter Werke.
500 g Bier, zwei Papirossy
Dreizehn Monate, von Oktober 1956 bis November 1957, umspannen die Tagebücher, und nach der Lektüre fragt sich der Leser vor allem eines: Wie hat es dieser versoffene, verbockte Literatur-Junkie geschafft, das System zu überleben? Lassen wir ihn seine Jugend selbst schildern, diese frühpoststalinistische Hölle in der Industriestadt Kirowsk, zusammengefasst in einer „Theorie der Wochentage”, gewidmet dem Freitag: „Erstens fielen die finstersten Tage meines Daseins auf einen Freitag: Der 1. Juli 55, der 4. Mai 56 und der 8. Mai 57. An diesen Tagen fanden drei Selbstmordversuche statt.” Es folgen vier „Kulminationen sexueller Sinnlichkeit”, jeweils an einem Freitag. Dann: „Am Freitag, dem 15. Juli, verstarb mein Vater. Am Freitag, dem 5. Oktober 1956, verstarb mein Bruder. Am Freitag, dem 15. Februar 1957, verstarb meine Mutter.”
Dass der Vater Jahre im Arbeitslager saß und der Bruder im Lager starb, dass schon der Großvater als Volksfeind erschossen wurde, schreibt er nicht. Als er das Tagebuch beginnt, ist er siebzehn und auf dem Weg nach unten. Der Ausnahmestudent beleidigt den Komsomolsekretär, fliegt aus der Universität, dann aus dem Wohnheim. Beides an einem Freitag. In der Provinz ist das Tauwetter noch nicht angebrochen.
Die Verwüstungen seiner Existenz hält sich Jerofejew durch stilistische Spielereien vom Leibe. So werden die „Aufzeichnungen eines Psychopathen”, die auf Gogols „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen” anspielen, zu Fingerübungen eines kommenden Virtuosen. Er schreibt Dramolette, Szenen, Aphorismen, entwirft das Orwellsche Szenario einer repressiven Bergadler-Verfassung sowie drei Liebesbriefe an eine unbekannte Geliebte - einen devot, einen rotzig, einen parfümiert. Manchmal hält er innere Zwiesprache mit seinen Widersachern oder schreibt besorgt über sich selbst in der dritten Person. Einmal berichtet er über sein eigenes Begräbnis. Und manchmal lallt er nur: „Tjaa . . . ich würde sagen, die romantischen Umstände. . . kein einziges Licht . . . stockdunkel.”
In grotesken Leitfäden für einen idealen Tagesablauf entlarvt er die sowjetische Regelwut als Vorstufe des puren Nonsense: „Mit Einbruch der Dämmerung ein leichtes Frühstück genehmigen: 500 g Shiguljowskoje-Bier, 250 Gramm Schwarzbrot und zwei Papirossy. Während des Frühstücks das Dunkelwerden des Himmels beobachten, über Regierungsformen nachdenken und gleichmäßig atmen.” An solchen Stellen spürt nicht nur der Leser alles das, was den späteren Jerofejew ausmacht - den eleganten Sprachwitz, den unbestechlichen Blick, den wiegenden Rhythmus. Jerofejew spürt es auch. Und proportional zu seinem Unglück wächst seine Arroganz.
Er genießt die Rolle des mephistophelischen Zweiflers, der die tumben Parteischranzen mit intellektuellen Kabinettstückchen an die Wand drückt, sich von ihnen Brillanz attestieren lässt und dann darauf spuckt: Ein grüner Junge, der den Apparat durch nichts als seine Sprache in die Knie zwingen will. Jerofejew ringt mit dem Super-Kollektiv um das Recht auf die private Verzweiflung. Wenigstens im Beharren auf der persönlichen Tragödie will er einen Rest Individualismus retten. Er ist so kompromisslos wie man es nur in diesem Alter ist. Er führt viele Kämpfe. Und verliert jeden. „Es leben doch alle gut, wie Menschen. . .Vergiß nie, daß du in der sowjetischen Gesellschaft lebst”, flötet einer der gutmütigen Knochenbrecher. Doch Jerofejew will nicht gut leben. Will sein Talent nicht nutzen, nicht jetzt und nicht so. Und er, der sich später als „sowjetischer Schriftsteller” bezeichnet, ist bereit, die Totalverweigerung des Systems, des sozialistischen Literaturkanons, der schäbigen kleinen Plattenbauseligkeit mit dem eigenen Leibe auszutragen. Mehr noch als das Bewusstsein einer ungeheuerlichen Verschwendung ist es diese physische Radikalität, die das Buch bei aller Komik so todtraurig macht.
Triumph des Unbehausten
Und doch, einen Monat vor Ende des Tagebuchs findet sich ein Eintrag, der bei aller Unbehaustheit den Triumph des Überlebenden verrät: „Ich bin alles. . . Ich bin die Summe von zwei todbringenden Werkzeugen im sozialistischen Wappen. Ähren umarmen mich . . . Ich bin die schönsten Schaufenster im Warenhaus von Krasnaja Presnja, ich bin Kampfeslust, verbunden mit einer leichten Erkältung. . . Auf mich hat zehn Minuten lang Felix Dziersynski gezielt - und mich doch verfehlt. . . Ich bin ein winziges Neutron in einem Atom von Stalins Aschenbecher. Ich kratze das Weltall unter meinen Fingernägeln hervor.”
SONJA ZEKRI
WENEDIKT JEROFEJEW: Aufzeichnungen eines Psychopathen. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Tropen-Verlag, Köln 2004. 192 Seiten, 17,80 Euro.
„Vergiß nie, daß du in der sowjetischen Gesellschaft lebst”, säuseln die Knochenbrecher: Heranwachsende Sowjetbürger in Jalta
Foto: Kurt Schraudenbach
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

"Wie hat es dieser versoffene, verbockte Literatur-Junkie geschafft, das System zu überleben?". Das müsste sich nach Meinung von Rezensentin Sonja Zekri eigentlich jeder Leser nach der Lektüre von Wenedikt Jerofejews Tagebuchaufzeichnungen schockiert fragen. In "finstersten Farben" und "magenumstülpendem Realismus" schildere Jerofejew nämlich seine harte Jugend in der russischen Provinz Ende der fünfziger Jahre. Dreizehn Monate umfassen seine Aufzeichnungen, Jerofejew steht gerade am Anfang seines steilen "Wegs nach unten". Auch wenn es wieder nur um "Schreckliches Leben, Daneben-Benehmen, Suff" gehe, also um Themen, die momentan "haufenweise" in der russischen Literatur zu finden seien - Jerofejew ist laut Zekri "anders". Denn als diese Aufzeichnungen entstanden, war die Drastik "noch keine literarische Pose, sondern eine Enthüllung". So seien auch die Aufzeichnungen Jerofejews überhaupt nur erhalten, weil sie der KGB zweimal bei "Hausdurchsuchungen übersehen" hatte. Abgesehen davon ist Rezensentin Zekri von Jerofejews Sprachgewalt beeindruckt und lobt den "eleganten Sprachwitz" und den "wiegenden Rhythmus" (leider verliert sie kein Wort über die Übersetzung). Hier zeige sich, so befindet Zekri, der "kommende Virtuose". Ebenso zeige sich auch die Tragik in Jerofejews Leben, der dank seiner "Totalverweigerung des Systems" von der Universität flog und sein Leben als "Heizer, Leerguthändler" und Autor "nie gedruckter Werke" zu fristen hatte. Folglich, so bemerkt Zekri, sind diese Aufzeichnung nicht nur brüllend komisch, sondern auch "todtraurig".

© Perlentaucher Medien GmbH
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