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  • Broschiertes Buch

Produktdetails
  • Verlag: Tropen
  • Seitenzahl: 133
  • Deutsch, Spanisch
  • Abmessung: 195mm
  • Gewicht: 237g
  • ISBN-13: 9783932170584
  • ISBN-10: 393217058X
  • Artikelnr.: 11422021
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2004

Die ganze Liebe ist ganz Schmerz
Weltliches Trostbuch: Antonio Porchias gewaltige Aphorismen

Das Universum paßt in einen Menschen, in einen Augenblick, in einen Satz. Etwa so: "Fast immer sind wir, das Universum und ich, in allem - und nicht ein Insekt mehr und nicht ein Atom mehr." Das Universum und ich, diese zwei komplementären Variablen, erfüllen alles und kommunizieren miteinander durch ihre Ähnlichkeit: "Alles ist Bewegung, und alles ist wie ich, ein Fixpunkt." So wortkarg kann Metaphysik sein, und so fein entwickelt Antonio Porchia daraus seine Anthropologie: "Der Mensch, leuchtender Punkt seiner eigenen Nacht, stirbt aus, wenn er sie auslöschen möchte."

Porchias Buch enthält eine dichte Folge ähnlich gewaltiger Sätze, obwohl es nur die Nachlese eines anderen Buches ist. Die "Verlassenen Stimmen" bestehen aus den im lebenslangen Umschreiben der Sammlung "Stimmen" (F.A.Z. vom 23. Oktober 1999) ausgesonderten Varianten und anderweitig überlieferten Apokryphen. Denn Porchias Aphorismen wurden nicht nur als Text, sondern auch mündlich über einen Kreis von Künstlerfreunden verbreitet und gingen in das kollektive Gedächtnis Argentiniens ein. Sie wurden heimlich auf Schultafeln gekritzelt oder auf Zettel, die Gefangene einander in den Foltergefängnissen der Militärjunta zusteckten; eine Zeitlang beschlossen sie sogar das Nachtprogramm des argentinischen Radios.

Worin besteht nun das Außergewöhnliche Antonio Porchias (1886 bis 1968), der als italienischer Einwanderer ein unscheinbares Leben in Buenos Aires fristete? Seine "Stimmen" nehmen es mit dem Tod auf. Der Gestus von Porchias Weisheit ist originär christlich, doch ohne Religion. Porchia formuliert dieses Paradox so: "Ich hatte einen Gott und hätte das Leben für IHN gegeben. Heute würde ich es auch geben, wenn ich ihn hätte." Religiöse Leser werden Porchia daher für einen abgefallenen Christen oder Nihilisten halten, doch seine Negation gilt nur der eigenen Selbstgefälligkeit. Seine Anteilnahme gilt den anderen, den Verletzten, den Fallenden. Porchia destilliert aus reinem Leid reinen Trost. "Leiden ist mein letzter Glaube. Und ich beginne zu glauben, daß ich nicht leide." Aufgrund dieser Kraft zur Verwandlung des Äußersten wurde Porchia in argentinischen Todeszellen zitiert: "Die Liebe, die nicht ganz Schmerz ist, ist nicht die ganze Liebe."

Porchia denkt illusionslos, bisweilen bitter: "Lachen vor Nichtlachen, Weinen vor Nichtweinen, Sein vor Nichtsein". Doch gerade aus dieser formalen Härte erwächst die Legitimität seiner Hoffnung: "Unser schwacher Faden des Wohlwollens, der so leicht reißt und der uns beim Riß in die Abgründe der Welt stürzt, trägt die Welt." Er formuliert den Weg teilnehmenden Leidens in geschliffenen Paradoxien, doch an seinem Ende steht überraschter Jubel: "Wie viele Leben es in nur einem Leben gibt, für ein Leben!"

Roger Caillois hat Porchia 1943 in Buenos Aires für sich und durch seine erstmals 1949 erschienene Übersetzung für Frankreich entdeckt. Englische und italienische Übersetzungen zeugen von der nachhaltigen Wirkung Porchias, doch heute sind seine Werke nicht einmal mehr auf spanisch lieferbar. Den Übersetzern Juana und Tobias Burghardt verdanken wir das Wunder, daß es nun in Deutschland eine vollständige zweisprachige Ausgabe beider Bücher Porchias gibt. Eine einbändige Taschenausgabe, für die noch einige Sätze nachzufeilen wären, ist ein internationales Desiderat. Als weltliches Trostbuch und sprachliches Kunstwerk nennt es dafür seinen eigenen Grund und zugleich seine Poetik: "Wen ich schätze, dem sage ich nicht, was mir gehört: Ich zeige es ihm."

THOMAS POISS

Antonio Porchia: "Voces abandonadas/Verlassene Stimmen". Mit einem Essay von Laura Cerrato. Herausgegeben, aus dem argentinischen Spanisch übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Juana und Tobias Burghardt. Tropen Verlag, Köln 2003. 132 S., br., 15,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Antonio Porchia ist für die Argentinier eine besondere Lichtgestalt, erklärt Thomas Poiss; seine Gedichte wurden unter anderem während der Militärdiktatur auf Kassibern in die Gefängnisse geschmuggelt. Porchias gewaltige Aphorismen-Sammlung "Stimmen" hatte von vornherein einen ausgeprägten mündlichen und kollektiven Charakter: Volksgut eben. Der vorliegende Band "Verlassene Stimmen" sei bloß ein Nachhall auf die große und bekannte Sammlung "Stimmen", führt Poiss aus; sie enthält Ausgesondertes, verworfene Varianten und anderweitig überlieferte Apokryphen. Was machte Porchia, der im richtigen Leben ein ganz unscheinbarer Mann war, so faszinierend, fragt der Rezensent. Für ihn ist es der illusionslose, zugleich anteilnehmende Ton des Dichters. Porchia dachte durch und durch christlich, erläutert er das Paradox, und war doch ein Mann ohne Religion. Seine Anteilnahme galt den Verwundeten, den Verletzten, und so destillierte er - im christlichen Gestus - aus dem Leiden Trost. Kein Wunder also, dass seine Gedichte und Aphorismen die "verlassenen Stimmen" und Seelen in den Gefängniszellen ansprachen. Auf Spanisch sei Porchia zur Zeit nicht erhältlich, wundert sich Poiss und freut sich über "das Wunder" einer vollständigen zweisprachigen Ausgabe aller Stimmen Porchias.

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