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Ida, Heldin des Romans, ist mit der ersten Zeile tot.Dienstmagd im Hause der Familie Besson, nennt sich selbst einen 'Vogel der Nacht'. Woher nur dieser Name aus dem Reich des märchenhaft Schönen - möchte man sie fragen, diese dienstbeflissene Hand für Dritte. Und warum blickt sie immerzu nur auf ihre Füße?Ida wird von einem Laster in die Luft geschleudert und fliegt acht Meter weit. Dieser brutale Tod wirft Fragen auf. Wer ist Ida wirklich? Wie konnte sie es wagen zu sterben? Jetzt beginnen sie zu sprechen, die, die sie kannten, erlebt haben. Sie äußern Mutmaßungen, Meinungen, die sich auf…mehr

Produktbeschreibung
Ida, Heldin des Romans, ist mit der ersten Zeile tot.Dienstmagd im Hause der Familie Besson, nennt sich selbst einen 'Vogel der Nacht'. Woher nur dieser Name aus dem Reich des märchenhaft Schönen - möchte man sie fragen, diese dienstbeflissene Hand für Dritte. Und warum blickt sie immerzu nur auf ihre Füße?Ida wird von einem Laster in die Luft geschleudert und fliegt acht Meter weit. Dieser brutale Tod wirft Fragen auf. Wer ist Ida wirklich? Wie konnte sie es wagen zu sterben? Jetzt beginnen sie zu sprechen, die, die sie kannten, erlebt haben. Sie äußern Mutmaßungen, Meinungen, die sich auf kristallklare und ohrenbetäubende Weise kreuzen. Eine hell leuchtende Erzählung entsteht - ein Universum aus Egoismen, Konventionen, Grausamkeit und Gleichgültigkeit, in dessen Mitte Ida lacht, still und triumphierend. 'Der blinde, taube und stumme Dichter kann nur in einer Sprache außerhalb der Regeln schreien.' Hélène Bessette
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2011

Chronik eines zurückliegenden Todes

Das Werk der französischen Außenseiterin Hélène Bessette ist wiederzuentdecken. Ihr polyphones Langgedicht "Ida oder Das Delirium" liegt nun erstmals auf Deutsch vor. Es entlarvt radikal, witzig und böse die Machtgesten der französischen Oberschicht.

Eigentlich kann man nicht verstehen, wie Hélène Bessette so schmählich vergessen werden konnte. Schließlich begann ihre Karriere als Schriftstellerin sehr erfolgversprechend. Geboren 1918 im Pariser Vorort Levallois, wurde zunächst Michel Leiris auf sie aufmerksam, der sie an Raymond Queneau weiterempfahl. Der Gallimard-Lektor nahm die Debütantin 1952 sofort unter Vertrag. Von nun an haftete Hélène Bessette das Etikett der literarischen Erneuerin an. Sie durfte Auszüge ihres ersten Romans "Lili pleure" ("Lili weint") in Sartres Zeitschrift "Les Temps Modernes" veröffentlichen und wurde schnell zum Liebling der intellektuellen Elite.

Vor allem die Autoren des Nouveau Roman wie Nathalie Sarraute, Marguerite Duras oder Alain Bosquet waren von ihr begeistert. Duras schwärmte 1964 in einem Zeitungsartikel: "Für mich ist Bessette lebendige Literatur wie sonst niemand in Frankreich!" Gleich mehrmals war die Vielgepriesene für den renommierten Prix Goncourt vorgeschlagen. Bekommen aber hat sie ihn nie. Und die Lobeshymnen bewahrten sie auch nicht vor der Schmach des Scheiterns und der Armut. Wie die Vertreter des Nouveau Roman misstraute auch Hélène Bessette der linearen Erzählweise und machte die Sprache zum Gegenstand ihrer Bücher. Weit weg, auf den Inseln Neukaledoniens im Südpazifik, wohin sie 1946 mit ihrem Ehemann - einem protestantischen Pfarrer - ausgewandert war, entwickelte sie eine eigene Poetik "außerhalb der Regeln". Als sie drei Jahre später geschieden mit ihrem Sohn nach Paris zurückkehrte, gründete sie eine "Gang du Roman Poétique" deren einziges Mitglied sie allerdings bis zu ihrem Tod am 10. Oktober 2000 blieb.

Vom Schreibcredo der poetischen Hinterfragung der Alltagssprache ist auch Hélène Bessettes letzter veröffentlichter Roman "Ida ou le délire" ("Ida oder das Delirium") geprägt, der zuerst 1973 erschien und jetzt im neu gegründeten Secession Verlag erstmals auf Deutsch vorliegt. Schon der Gattungstitel "Roman" ist irreführend. In Wahrheit nämlich könnte man die hundertzwanzig Seiten eher als ein mehrstimmiges Langgedicht bezeichnen, bei dem der Leser nie genau weiß, wer gerade spricht.

Sind das die Freundinnen von Ida, der zentralen Figur, oder meldet sich da Idas Arbeitgeberin, Madame Besson, zu Wort, die mehrmals im Text direkt angesprochen wird? Oder sind die Stimmen vielleicht nur unterschiedliche Tonlagen ein und desselben, gespaltenen Erzähler-Ichs, das Idas Fall noch einmal rekapituliert? Alles ist denkbar und nichts gewiss. Und zuletzt wird der Leser selbst zum Autor eines Lebensromans, dessen Protagonistin von Anfang an nicht mehr existiert. So viel ist bei allem Durcheinanderreden klar: Ida, die siebenundsechzigjährige Hausangestellte, wurde offenbar auf der Straße von einem Lastwagen überfahren.

Darüber scheint vor allem ihre einstige Herrin, Madame Besson, bestürzt zu sein. Gehörte Ida als Faktotum des Hauses doch "wie zur Familie". Durch ihren Tod kommt nun nicht nur der Gang der Dinge ins Stocken. Es wird auch die Frage aufgeworfen, ob der angebliche Unfall womöglich Selbstmord war. Oder, wie es bei Hélène Bessette heißt: "Niemand möchte für einen Tod verantwortlich sein. Denn dann handelt es sich ja um ein Verbrechen." Unablässig versuchen irgendwelche "Damen" im Gespräch über die Abwesende sich freizusprechen von einer Schuld. Lag der "Fehler" nicht doch bei der Toten selbst, überlegen sie laut. Schaute Ida nicht viel zu oft auf ihre "riesigen Füße"? Und: Hat sie überhaupt den Zebrastreifen beachtet? Doch was immer die Damen auch zu ihrer Verteidigung vorbringen, der vorwurfsvolle, "schmerzerfüllte Schatten" der toten Dienstmagd bleibt wie ein Makel an ihnen haften. Da niemand von ihnen sie wirklich kannte, weil niemand sich zu Lebzeiten die Mühe gemacht hat, mit dem niederen "Halb-Ding" zu sprechen, ist alles Gerede ohnehin bloße Behauptung - und kann Idas Motive nicht ergründen.

Der Selbstmord als Racheakt einer vernachlässigten Hausangestellten, der ein ganzes Herrschaftssystem in Erklärungsnotstand bringt: Man kann Bessettes experimentellen Roman auch als wütendes Vermächtnis der Autorin lesen, die aufgrund ihrer eigenen Armut gezwungen war, bis ins hohe Alter bei reichen Leuten zu arbeiten. Nicht ohne Spott und mit den Mitteln der Wiederholung und des Wortspiels stellt Hélène Bessette die rhetorischen Codes eines Großbürgertums so heraus, dass dahinter die Selbsttäuschungsmanöver und Machtgesten einer arroganten Oberschicht sichtbar werden.

Das ist keine leichte und keine leichtverdauliche Lektüre. Aber eine, die in ihrem radikalen Verzicht auf einen Handlungsstrang höchst erfrischend wirkt. Hélène Bessette erinnert wohltuend daran, dass Literatur mehr sein kann als der vorherrschende, dem Diktum der Allzeit-Verständlichkeit verpflichtete Creative-Writing-Roman. In Frankreich wurde die Wiederentdeckung der Autorin vor einigen Jahren groß gefeiert. Bleibt die Frage, ob das auch hierzulande gelingt. Hélène Bessette selbst zumindest hatte trotz aller Rückschläge nie Zweifel an ihren literarischen Qualitäten. Nachdem sich Gallimard nach vierzehn veröffentlichten Titeln im Jahr 1973 von der Autorin trennte, schrieb sie stur für sich selbst weiter und prophezeite ihren Kindern: "Mich wird man erst dreißig oder fünfzig Jahre nach meinem Tod als Schriftstellerin erkennen!"

GISA FUNCK.

Hélène Bessette: "Ida oder Das Delirium". Roman.

Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Secession Verlag, Zürich 2010. 125 S., geb., 21.95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Gisa Funck bedauert, dass die Autorin derart in Vergessenheit geraten konnte. Als Hätschelkind der Nouveau Romanciers währte ihr Erfolg doch nur kurz. Umso mehr freut sich Funck, wenn nun Helene Bessets letzter, 1973 veröffentlicher Roman erstmals bei uns erscheint. Das Etikett der literarischen Erneuerin scheint der Autorin auch heute noch anzuhaften. Funck jedenfalls findet das handlungsarme, nicht lineare, vielstimmige und spielerische "Langgedicht" über den rästelhaften Tod der Hauptfigur zwar schwer überschaubar, aber auch erfrischend. Für sie eine Erinnerung daran, dass Literatur mehr zu sein vermag, als Wohlfühlschonkost, in diesem Fall unter anderem auch eine Entlarvung großbürgerlicher Redeweisen.

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