Produktdetails
  • Verlag: Luftschacht
  • Seitenzahl: 253
  • Erscheinungstermin: 25. Mai 2010
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 394g
  • ISBN-13: 9783902373519
  • ISBN-10: 3902373512
  • Artikelnr.: 28041778
Autorenporträt
Ulrike Ulrich, 1968 in Düsseldorf. Seit 2004 lebt sie als Schriftstellerin in Zürich. Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt sie das Jahresstipendium der Lydia-Eymann-Stiftung, Langenthal 2010/11 (Stadtschreiberin). Zuletzt wurde sie für ihre Geschichte "Im Hintergrund" mit dem Walter Serner Preis 2010, vergeben vom Kulturradio des rbb und dem Literaturhaus Berlin, ausgezeichnet. fern bleiben ist ihr Debüt als Romanautorin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.2010

Weit gefahren, nichts begriffen

Auf dieser Schiene lässt sich die Unbehaustheit des modernen Menschen natürlich auch abhandeln: Ulrike Ulrich schickt eine Autorin auf große Bahnfahrt. Doch der Heldin wie dem Buch fehlt ein dramaturgischer Fahrplan.

Wie viel Kilometer und Länderpunkte kann man schaffen, wenn man vier Wochen lang im Zug durch Europa fährt? Zwischenstopps für einen Latte macchiato im Bahnhof, eine Tretbootfahrt in Genua, Umziehen im Gebüsch bei Basel oder ein paar Stunden Weinlese in Portugal sind erlaubt; längere Stadtrundgänge oder gar Hotelübernachtungen verstoßen gegen die Spielregeln. Lo, Thirtysomething aus Dortmund, schafft zehntausend Kilometer pro Woche, zwei Dutzend Länder und allerhand Städte zwischen Thessaloniki, Paris und Bielefeld. Das Geld für ihre Tour d'Europe hat sie in Jörg Pilawas Quiz gewonnen; manchmal gönnt sie sich sogar die erste Klasse.

Wozu sie die rekordverdächtige Strapaze in verqualmten Bordbistros (der Roman spielt im September 2005, als man noch in vollen Zügen rauchen durfte und Angela Merkel sich gerade anschickte, Kanzlerin zu werden) auf sich nimmt, weiß sie allerdings selbst nicht so genau. Ist es die "Selbstfindungszugreise" einer romantischen Taugenichtsin? Ein literarisches Experiment? Der Versuch, nach einer gescheiterten Beziehung wieder Anschluss zu finden, sich womöglich außerfahrplanmäßig zu verlieben? Will Lo, als Computerlinguistin ein geborener Medienjunkie, sich in Funklöchern und Tunnels verkriechen oder vor aller Welt "etwas leidlich Besonderes" tun?

In Dortmund hält sie jedenfalls nichts. Ihren Job hat sie gekündigt, ihre Freunde sind ohnehin immer anderswo. Unterwegs im Nirgendwo, zwischen Abteil und Zugrestaurant, trifft Lo außer Kegelgruppen, Touristen und Fußballfans genug interessante Menschen. Eine Schweizer Journalistin will von der Vielfahrerin Glossen für ihr Bahn-Magazin; in Berlin spielt Lo mit Szymon und Pawel Tischfußball, hinter Hannover liest ihr ein Poetry-Slammer aus seinem Roman vor. So kommt man rum und hält Kontakt. Mit Sandra wechselt sie fast stündlich SMS, mit Markus unterhält sie eine Fernbeziehung, die Affäre mit Frank beendet sie im Schlafwagen. Kurz vor Paris küsst sie Alain, den Cellisten, in Wien vergisst sie für den Filmstudenten David fast ihr Gelübde ununterbrochener Pilgerschaft.

"fern bleiben" ist eine Kreuzung aus Reisetagebuch, Railmovie und Selbsterfahrungstrip, die mit ihren kurzen Sätzen und vorbeihuschenden Eindrücken die Erzählsituation gut abbildet. Man folgt Los freiwilliger Irrfahrt eine Zeitlang mit Interesse. Ulrike Ulrich, Mitglied der Zürcher Literaturgruppe index, kann Menschen und Orte wie im Flug und doch sprachlich genau beschreiben. "Mit Sprache kann sie sich von allem ablenken. Besonders von Gefühlen. Assoziieren, um zu dissoziieren. Sprache ist eine großartige Hilfskonstruktion um fernzubleiben, denkt sie. Zugfahren irgendwie auch."

Je länger Los Zugfahrt dauert, desto schmerzlicher vermisst man freilich auch einen Streckenplan, Haltestellen und Weichen, die dem assoziativen Hin und Her so etwas wie Struktur und Spannung geben könnten. Patrouillierende Zollbeamte, gelangweilte Nachtzugschaffner, stille Schnarcher und laut telefonierende Geschäftsleute im Großraumwagen: das ewige Einerlei des Bahnfahrens, der immergleiche Rhythmus von Ankommen, Umsteigen und Weiterfahren ermüdet selbst Lo zunehmend.

Dabei richtet sie ihren Fahrplan politisch korrekt an den Signalen der europäischen Geschichte aus. In Berlin besucht sie das Holocaust-Mahnmal, in Belgrad gedenkt sie des Massakers von Sarajewo, in Italien weist sie landestypische Machos in ihre Schranken. Am Ende überwindet die frauenbewegte Pazifistin ihren "Stolz, nicht dazuzugehören", und ihr verantwortungsloses Lebensprinzip "Nicht-Intervention": Erst besorgt sie für eine kranke alte Frau Wunderwasser aus Lourdes, zuletzt schleust sie pakistanische Flüchtlinge illegal in die Schweiz ein.

"fern bleiben" ist der Versuch, durch zielloses Herumfahren, humanitäre Hilfe und politische Intervention ein "richtiges Leben im falschen" zu erfahren, was immer das sein mag. Lo will sich nicht abhängen und aufs Abstellgleis schieben lassen, aber in einer Welt flexibler Passanten und Passagiere können Beziehungen nur flüchtig sein: Immer unterwegs, pausenlos kommunizierend, bleibt sie den Menschen fremd. Ausgerüstet mit Handy und Digitalkamera, simst, fotografiert, mailt und twittert Lo wie ein Weltmeister, aber was sie so manisch speichert, sendet und empfängt, sind meist nur belanglose Zeichen: Liebesgeflüster, Befindlichkeitsdurchsagen, Werbeslogans, fremdsprachige Hinweisschilder.

So will die ewige Reisende wie eine Roulettekugel immer weiterrollen, um nur ja keine Option zu verpassen. "Solange sie in Bewegung ist, ist noch alles möglich", und "potentielles Glück ist überhaupt das verlässlichste". Tatsächlich ist dieser komische Zugvogel eher eine Flipperkugel, die, einmal abgeschossen, sich auch durch Erschütterungen nicht aus dem Gleis werfen lässt. In Roma Termini kehrt Lo um, bevor sie enttäuscht werden kann. In Wien wäre sie fast hängengeblieben. In Dortmund kauft sie am Ende einen InterRail Global Adult-Pass: Kopenhagen, Helsinki und Estland fehlen noch in ihrer Sammlung. So rauscht die einsame Nomadin vorbei wie ein ICE hinter einer Lärmschutzwand. "fern bleiben": Dieses Buch kann man eigentlich nur im Zug lesen.

MARTIN HALTER

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein bisschen gehetzt sieht er aus, der Rezensent, nach dieser Lektüre. Atemlos erscheint ihm die vierwöchige Reise durch Europa per Zug, der sich Ulrike Ulrichs Heldin, ja, unterzieht. Und was kommt bei rum, bei dieser Mischung aus Reisetagebuch und Selbsterfahrungstrip? Außer kurzen, treffenden Sätzen zu Orten und Situationen begegnet Martin Halter bald nur noch dem immergleichen ermüdenden Rhythmus, Ankommen, Umsteigen, Abfahren. Das macht nicht nur die Protagonistin mürbe. Erkenntnis des Rezensenten: Planloses Fahren im Hochgeschwindigkeitszug entfremdet eher, als dass es zu echten Begegnungen führt.

© Perlentaucher Medien GmbH