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Produktdetails
  • Verlag: Jung und Jung
  • Seitenzahl: 222
  • Deutsch
  • Abmessung: 22mm x 123mm x 191mm
  • Gewicht: 292g
  • ISBN-13: 9783902144010
  • ISBN-10: 3902144017
  • Artikelnr.: 09636585
Autorenporträt
Sherko Fatah, geboren 1964 in Berlin, aufgewachsen in der DDR, 1975 Übersiedlung nach West-Deutschland. Studium der Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin. Auszeichnungen: 2001 mit dem aspekte-Literaturpreis und dem Deutschen Kritikerpreis sowie 2015 mit dem Großen Kunstpreis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.06.2001

Der Schmuggler als tastendes Tier in vermintem Gelände
Aus der Nahsicht des Fremden: Sherko Fatah debütiert mit einer bildkräftigen und unerbittlich strengen Erzählung aus dem türkisch-irakischen Grenzgebiet
Ein Gast aus dem fernen Westen Europas, ein Schmuggler auf seiner Tour und dessen von ihm verlassene Frau bilden das Personal auf den ersten Seiten des
Buches. Ein endgültiger Verlust wird im Ort beklagt: Der Sohn des Paares, seit langem verschwunden, ist offiziell als tot gemeldet worden. Der Singsang des Koranvortrags füllt dunkle Räume, das Ritual der Trauer gemeindet auch den Gast ein.
Auf zeichenhaftem Gelände, im karg lokalisierten Grenzgebiet des türkisch-irakischen Niemandslandes, in einem archaischen Revier siedelt Sherko Fatah seinen deutschen Erstlingsroman an. Er figuriert als der unvertraute Gast, der sich in die Erzählung von den Geschicken eines Grenzgängers verwickelt. Sherko Fatah, 1964 in Ostberlin geboren, wuchs in der DDR auf, ging in den Westen, hat ein Studium der Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin absolviert. Soweit die sparsamen, eher verbergenden Angaben über diesen siebenunddreißigjährigen Autor, der ein fremdes Territorium – wie Goethe gesagte hätte: hinten weit in der Türkei – mit den Augen des Fremden mustert.
Der Schmuggler befördert Zigaretten, Alkohol, Laptops und Recorder in das vom internationalen Embargo verriegelte andere Land. Er handelt auf eigene Rechnung, trägt das Risiko allein, muss aus Sorge, seinerseits ausgeraubt zu werden, das Bargeld der reichen Händler, die ihm den Erlös vorstrecken, zwischendurch verstecken. Auf seinen Passagen durch die Ebene und durch das Gebirge durchmisst er unzugängliches Gelände: Der Krieg hat sich zurückgezogen, aber er hat eine Erbschaft an Minen und Ruinen hinterlassen, und die Gegend wirkt von Mensch und Tier verlassen, eine tote Zone. Eine kalbende Kuh, ein abgerissenes Menschenbein verstärken diese leere Stille. Der Schmuggler muss, um nicht in die Luft zu fliegen, die Landschaft mit ihren winzigen Spuren der Veränderungen erlernen. Er selbst ist, was in der ausgeräumten Gegend sonst fehlt: ein witterndes Tier, nahe am Boden; die Landschaft, das verminte Gelände, wird gleichsam mit dem Tastsinn rückerobert. Und „der Schmuggler” ist ein Feinhandwerker des Schreckens. Um den Pfad für sich begebbar zu machen, muss er, immer wieder auf’s Neue, die unter dem Sand verborgenen Minen mit geduldiger Präzision ausgraben; um ihn für andere zu verriegeln, verbuddelt er die tödlichen Behälter hinter sich jedesmal auf’s Neue.
An der Oberfläche dieser Prosa, die sich durch ihre Bildkraft, ihre unerbittliche Strenge und durch eine hochelegante Sicherheit auszeichnet, ereignet sich ein Krimi, der von der Spannungsfrage nach dem Durchkommen und Überleben seinen Aktionismus bezieht. Aber der Schmuggler, der in den Ortschaften auf beiden Seiten den Nimbus des unberührbaren Außenseiters genießt, fügt sich diesem Rahmen nicht. Die Routen in die Unwegsamkeit, die Passagen durch Grenze und Niemandsland führen durch ein metaphorisch enorm aufgeladenes Gebiet. Der Schmuggler bewegt sich auch durch ein Revier der Albträume, durch eine Wüste aus Angst, in der Nacht der stellvertretenden Schrecken, durch eigene Abgründe. Er ist ein Reisender im Imaginären. Und ebenso erscheint dieser Schmuggler als ein Verwandter von Albert Camus’ Fremdem. Dessen existenzialistischer Umriss bestimmt auch seinen Schatten.
Dieses Grenzland bildet auch die Trennzone zwischen den Zivilisationen, in der sich der Schmuggler wie in niemals mehr heimisch werdender Bote des Anderen bewegt – ein vielleicht vorbewusstes Bild für einen Autor, in dessen Horizont der orientalische Osten noch mitredet. Der Schmuggler betreibt seine Geschäfte unter den Argusaugen und mit stillschweigender Duldung der Geheimpolizei. Sein Sohn hat unwiderruflich eine Grenze überschritten, die von einer allwissenden Instanz gezogen worden ist: Er hat sich nach Auffassung der Inneren Sicherheit den religiösen „Irregeleiteten und Aufrührern” angeschlossen und falsche „politische Beziehungen zum Ausland” gepflegt. Er wird nie mehr auftauchen.
Eingelagert sind Episoden aus dem Wüstenkrieg im Irak, außerdem eine Traumgeschichte des Inzests zwischen dem Schmuggler und seiner Schwester, womit die Metapher der Grenzüberschreitung bedauerlicherweise überdehnt wird. Plötzlich entsteht eine Art Überdekoration. Auch wirkt der Anfang des Buches holprig: man stolpert in den ersten Sätzen über eine bedenkliche Zeitenfolge.
Aber dieser Erstling ist doch ein kleines Kunststück des vielgestaltigen Schreckens. Es spielt in verschiedenen Richtungen, ist Bühne für den Krieg, der abgezogen ist, für den geheimen Helden in seiner schäbigen Verlassenheit; eine Landkarte aus Traumprojektionen; eine Geländekunde für die Gangarten des Realismus, der von der artifiziellen Zeichensprache in die bestürzende Schockgeschichte ordinärster Folter umspringen kann.
Am Schluss ist der Schmuggler dort, wo der Roman einsetzte: beim Wissen, dass er seinen Sohn endgültig verloren hat. Der Geheimdienstler Beno sagt es ihm sibyllinisch: „Du musstest ein Opfer bringen für deinen Pfad.”
Sherko Fatah verknüpft die deutsche Gegenwartsliteratur mit einem anderen territorialen Raum, erweitert ihr Gesichtsfeld. Schon allein dafür müsste man ihm dankbar sein.
WILFRIED F. SCHOELLER
SHERKO FATAH: Im Grenzland. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2001. 222 Seiten, 36,90 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.08.2001

Niemals über vierzig Grad!
Schmuggelware: Sherko Fatah erkundet vermintes Gelände

"Es wird wohl selbst dem geneigten Leser nicht ganz leichtfallen, in diese fremde und fremdbelassene Welt hineinzufinden" - Sherko Fatah weiß um die Hindernisse, die sein Debüt der unbefangenen Rezeption entgegensetzt. Der 1964 in Ost-Berlin als Sohn eines irakischen Kurden und einer deutschen Mutter geborene Autor entführt den Leser in vermintes Gelände. Dies trifft nicht nur auf den Schauplatz der Handlung, sondern auch auf Fatahs Sprache zu. Ebenso wie das titelgebende "Grenzland" ganz und gar von Minen durchsetzt ist, hat Fatah seine Textlandschaft mit Wortminen versehen, deren Sprengkraft ihre erschütternde Wirkung nicht verfehlt. So wird der Leser rasch zum Gefangenen des Erzählers und dessen Wortgewalten.

Angesiedelt ist der Roman im Dreiländereck zwischen Iran, Irak und der Türkei. In der Zeit nach den beiden Golfkriegen sind die auf irakischer Seite liegenden unbetretbaren Minenfelder zum Arbeitsplatz eines Schmugglers geworden. Die Kenntnis eines Weges durch die todbringende Region macht ihn für etliche wohlhabende Geschäftsleute zur heißbegehrten Verbindung mit dem Umland. So beliefert er die irakischen Basarhändler mit Alkoholika aus der Türkei, amerikanischen Zigaretten und allerhand elektronischem Gerät. Die Schmuggelwaren transportiert er durch die Todeslandschaft, vorbei an Grenzsoldaten, Freischärlern und vereinzelten Minensuchtrupps der Vereinten Nationen.

Fatahs Held wird dem Leser - ebenso wie die meisten übrigen Figuren - nie namentlich vorgestellt. Auch sonst bietet er keinerlei Charakterzüge an, die ihn als Identifikationsfigur in Betracht kommen ließen. Fatahs Protagonist, sein Verhalten, seine Gedanken und Einstellungen, das Land, in dem er lebt - alles bleibt fremd, zu sehr ist es der Welt des Lesers entrückt.

Dem Schmuggler hingegen ist das verminte Gebiet wie ein vertraut gewordenes Buch, in dem er jedes Schriftzeichen, jeden Knick und jeden Fleck seiner Seite zuzuorden weiß. Es würde ihm sofort auffallen, hätte ein anderer es aufgeschlagen und darin gelesen. So sind ihm die Minen, die sicht- und unsichtbar die Landschaft für sich einnehmen, eine komplizierte, geheime Schrift, die er zu entziffern vermag: "Sie lagern in der kleinen, grünbraunen Fläche wie nicht zum Lesen vorgesehene Reste einer uralten Inschrift an unzugänglichem Ort, bedeckt von Erde, dazu bestimmt, in der Explosion, in der Wunde und im Schmerz zu verschwinden und so ihre Botschaft zu überbringen."

Seinen Pfad kennt der Schmuggler auf den Millimeter genau, jeder Veränderung wird er gewahr, und sei es nur ein vom Winde verwehtes Geäst. Sich durch diese Landschaft zu schlängeln, in ihr zu lesen, die Lücken und Schlupfgänge zu erkennen und zu nutzen ist nicht nur sein Kapital, sondern auf groteske Art auch seine Leidenschaft. Der Leser bewegt sich auf die gleiche Weise, mit der gleichen sonderbaren Erregung durch Fatahs Text wie der Schmuggler durch das verminte Land - es ist faszinierend zu beobachten, wie die Erzählweise des Autors die Arbeitsmethode seines Helden adaptiert.

Die Tour wird von zahlreichen eingeschobenen Rückblenden unterbrochen. Durchweg ist höchste Konzentration gefordert, möchte man nicht Gefahr laufen, die Vergangenheit mit der erzählten Gegenwart zu verwechseln. Der außergewöhnliche Blick Sherko Fatahs für das Fremde tritt vor allem in den Rückblenden hervor. Mit der Diskretion eines fernen Beobachters erzählt Fatah vom Leben in einer archaischen Region. Er schildert die Auswirkungen der Diktatur, die zuweilen recht bizarre Formen annehmen. So wird über Befehle der Regierung gewitzelt, Temperaturen im Wetterbericht nie höher als vierzig Grad Celsius angeben zu dürfen, "weil andernfalls das Volk beunruhigt würde". Auch die Einwohnerzahl wird "aus irgendwelchen Gründen" um fast zwei Millionen nach oben korrigiert.

Es bleibt nicht bei solch geringfügigen, fast schon amüsanten Anordnungen. Als der Sohn des Schmugglers verhaftet und verschleppt wird, macht der Vater sich auf, ihn zu suchen und wird darüber selbst von türkischen Grenzsoldaten aufgegriffen. Er wird brutal gefoltert und schrecklichen Erniedrigungen ausgesetzt. Die Angst des Schmugglers um seinen Körper, um seine Zähne, immer wieder der Versuch, sich ein letztes bißchen an Würde zu erhalten, dazu das Unwissen um das Schicksal des Sohnes - Fatahs detaillierte Schilderungen sind auch hier derart gelungen, daß sich die Buchstaben in Bilder verwandeln, die man eigentlich nicht sehen möchte, denen man sich gleichwohl nicht entziehen kann. Wie der Schmuggler wird auch der Leser im Niemandsland verharren und beim Lesen Grenzerfahrungen machen. Am Ende schließt man dieses fesselnde Debüt und empfindet es unglaublich mühsam, aus der fremden Welt wieder herauszukommen. Genau diese Wirkung ist Fatahs erklärtes Ziel - er hat es glänzend erreicht.

CHRISTINA ZINK

Sherko Fatah: "Im Grenzland". Roman. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2001. 224 S., geb., 36,90 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Fatahs Roman gehöre zu jenen Bücher, die man nach dem 11. September anders liest, berichtet Hans-Peter Kunisch, denn er spielt im irakischen Grenzland und greift in einer offensichtlich "archaisch-modernen" Sprache das Thema des islamischen Fundamentalismus auf. Der Sohn des Protagonisten, der im Roman nur als "der Schmuggler" firmiere, scheint hier das irakische Regime abzulehnen und die Lösung im Islam zu suchen. Aber über die Motive und Ziele dieses Islamismus erfährt man nach Kunisch dann doch nicht allzu viel - viel prägender war für ihn die atmosphärische Schilderung eines verlorenen und ausweglosen Grenzlandes. Die Erzählweise des Autoren, der in Berlin aufwuchs, erinnert ihn an Kafka. Und trotz mancher kompositorischer Schwächen schätzt Kunisch an ihm die "sichere" Sprache.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein notwendiges, ein universelles Buch." PETER HANDKE