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Fast vierzig Jahre galt der Dichter Ivan Blatný in der tschechischen Öffentlichkeit als verschollen. Nach der kommunistischen Machtübernahme (1948) kehrte er von einem Stipendienaufenthalt in England nicht mehr zurück und lebte dort, aus Angst vor Verfolgung, vereinsamt in einer Nervenheilanstalt. Nur der Aufmerksamkeit einer Krankenschwester ist es zu danken, dass nicht alle seiner in der Anstalt verfassten Gedichte im Mülleimer verschwanden, sondern zwei bedeutende Sammlungen - "Stará bydliSte" (Alte Wohnsitze) und "Pomocná Skola Bixley" ("Hilfsschule Bixley") - im tschechischen Exilverlag…mehr

Produktbeschreibung
Fast vierzig Jahre galt der Dichter Ivan Blatný in der tschechischen Öffentlichkeit als verschollen. Nach der kommunistischen Machtübernahme (1948) kehrte er von einem Stipendienaufenthalt in England nicht mehr zurück und lebte dort, aus Angst vor Verfolgung, vereinsamt in einer Nervenheilanstalt. Nur der Aufmerksamkeit einer Krankenschwester ist es zu danken, dass nicht alle seiner in der Anstalt verfassten Gedichte im Mülleimer verschwanden, sondern zwei bedeutende Sammlungen - "Stará bydliSte" (Alte Wohnsitze) und "Pomocná Skola Bixley" ("Hilfsschule Bixley") - im tschechischen Exilverlag Sixtyeight-Publishers in Toronto erscheinen konnten. Als sein Werk nach 1989 auch in der Tschechoslowakei neu entdeckt wurde, kam dies einer literarischen Sensation gleich. In den Gedichten aus "Alte Wohnsitze" schlägt der in England gestrandete Blatný einen Bogen zwischen seinem Leben in der Nervenheilanstalt und dem der frühen Jahre, zwischen seinen neuen und alten Wohnsitzen, den englischen Stadtlandschaften und der Umgebung Brünns: ein subtiles Porträt des Dichters auf der Suche nach der gegenwärtigen Zeit zwischen Klinik und Gedächtnis. Die Nostalgie, Trauer und das Heimweh dessen, dem als letzter Zufluchtsort nur die Sprache blieb, spiegelt sich in den zerbrechlichen Bildern, zugleich aber belegen die Gedichte die Unversehrtheit, Kontinuität und vor allem Authentizität eines inneren Lebens, das in all seinen bedeutenden Momenten erhalten bleibt.
Autorenporträt
Ivan Blatný, geb. 1919 in Brünn, veröffentlichte zwischen 1940 und 1947 mehrere Gedichtbände, lebte von 1954 bis zu seinem Tod im Jahr 1990 in einer psychiatrischen Anstalt in Ipswich (England).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.08.2005

Der Stadtplan ist ein Wörterbuch
Freut euch, ihr Stühle: Ivan Blatnýs Gedichte aus dem Irrenhaus

Ivan Blatný - 1919 im mährischen Brünn geboren, 1990 gestorben in Clacton-on-Sea - hatte während des Zweiten Weltkriegs in Prag als Lyriker debütiert und in kurzer Folge drei bemerkenswerte Gedichtbände vorgelegt, bevor er sich 1948 aus politischen Gründen nach Großbritannien absetzte. Noch im selben Jahr wurde er, an schwerem Verfolgungswahn leidend, psychiatrisch interniert und verbrachte den Rest seines Lebens, mit nur kurzen Unterbrechungen, als Schizophreniepatient in verschiedenen englischen Kliniken und Krankenasylen.

Erst ab 1969 scheint er wieder mit einer gewissen Regelmäßigkeit literarisch gearbeitet zu haben, doch wurden seine Texte - zumeist auf Zetteln notiert und achtlos liegengelassen - vom Pflegepersonal während langer Zeit unbesehen dem Müll zugeführt, bis eine aufmerksame Krankenschwester sie zu sammeln begann, so daß 1977 bei einem tschechischen Exilverlag in Toronto ausgewählte Stücke aus dem umfangreichen, völlig ungeordneten Konvolut in Buchform erscheinen konnten. Anhand jener Auswahl (die bei heutigem Kenntnisstand keineswegs als repräsentativ gelten kann und die auch editorisch manche Wünsche offenläßt) hat nun die Wiener Edition Korrespondenzen zusammen mit der Übersetzerin Christa Rothmeier eine zweisprachige Ausgabe erarbeitet, deren Erscheinen dem fast vergessenen Autor hoffentlich neue - deutsche wie tschechische - Leser zuführen wird.

Daß Blatný jahrzehntelang von Verfolgungs-, Verlust- und Todesangst gequält war, ist seinen in der Psychiatrie entstandenen Versen kaum anzumerken. Deren thematischer Einzugsbereich bleibt, eher konventionell, auf Momente der Kindheit und Jugend, auf Provinz- und Großstadtszenen, vor allem aber auf Tages- und Jahreszeiten beschränkt, die er in immer wieder anderen, meist sehr schlichten, dabei kraftvollen Stimmungsbildern vergegenwärtigt. Im ersten seiner acht "Mai"-Gedichte verbinden sich, was für Blatný durchaus charakteristisch ist, sinnliche Wahrnehmung und literarische Reminiszenz zu einem ephemeren poetischen Eindruck: ". . . das dunklere Grün des Efeus der das ganze Jahr grünt / hebt sich ab von den jüngeren helleren Grüntönen / Schwalben umschwärmen sie wie in Macbeth." - Nachhaltiger wirken demgegenüber jene Texte oder Textstellen, die noch merklich von der Poetik des Surrealismus geprägt sind und selbstironisch gebrochene Bilder wie dieses bereithalten: "Im goldenen Kalifornien eines altsurrealistischen Kutscheninneren / erfreut die durch die Ritzen stechende Sonne Billardtische und Stühle / der Herzog stirbt an einer langen tödlichen Krankheit."

Formal fallen bei Blatný zwei Besonderheiten auf. Einmal die häufige Verwendung von realen Personen- und Ortsnamen, welche die abgehobene, oft inkohärente Einbildungskraft des Autors mit zeitlich wie räumlich exakten Koordinaten versehen, was die Phantastik bisweilen zusätzlich überhöht: "Warum steht . . . der bei Haugwitz beschäftigte Hirsch nicht im Dienst der Mythologie / Rilke und Rainer zu Seiten wie zwei Bäumlein und / in der Mitte in den Luftströmen Maria." - London, Wien, Turin, Prag, Liechtenstein, Paris, Kopenhagen und Colombe-sur-Seine, Flaubert, Toyen, Mallarmé, Medek, Nezval, Martow, Kundera, Hitler und Napoleon gehören zu den namentlichen Fixpunkten, durch die Blatný seine Texte mit der Geschichte wie auch mit seiner eigenen Biographie vernetzt.

Die andere Besonderheit besteht darin, daß Blatný (sieht man von seinen wenigen Sonetten ab) auf syntaktische und strophische Fügungen wie auch auf Interpunktion weitgehend verzichtet zugunsten additiver Aufreihung, auch Wiederholung von Satzteilen, Wortverbindungen oder einzelnen Begriffen und Namen. So wird unter dem lyrischen Titel "Stimmung" zunächst eine ländliche Szene evoziert, die dann aber gleich, durch die Benennung großstädtischer Örtlichkeiten, verfremdet und auf das prosaische Stilniveau eines Reiseführers heruntermoderiert wird: "Die Felder erstrecken sich / vom Stadion zum Scheckamt / vom Scheckamt zum Militärkommando / vom Militärkommando zur Juridischen Fakultät / von der Juridischen Fakultät zum Sportplatz S. K. Zabovreský." Blatný steckt hier nicht nur ein räumliches, sondern auch ein sprachliches Terrain aus, das auf dem Stadtplan wie im Wörterbuch vom "Scheckamt" bis zum "Sportplatz" reicht.

Die vorliegende Übersetzung begnügt sich mit der philologisch korrekten Wiedergabe dessen, was Blatnýs lapidare Gedichte benennen und besagen. Rhythmische und vollends klangliche Gestaltungselemente gehen damit spurlos verloren, und selbst die sorgfältig gebauten und ingeniös gereimten Sonette lesen sich nun auf deutsch wie linkshändig hingeworfene, unkontrolliert ausufernde Skizzen. Dadurch wird der irrige Eindruck erzeugt, Blatný habe das Schreiben in der Klinik lediglich nebenbei - sei's als Zeitvertreib, sei's als Therapie - praktiziert. Doch die Zeit des Wahnsinns war bei ihm, wie beim späten Hölderlin, die hohe Zeit der Dichtung, da die Sprache selbst nach ihrer eigenen Regelhaftigkeit durch den Dichter sich ausspricht.

FELIX PHILIPP INGOLD.

Ivan Blatný: "Alte Wohnsitze". Gedichte. Aus dem Tschechischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Christa Rothmeier. Edition Korrespondenzen, Wien 2005. 179 S., geb., 22,20 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Mit der Übersetzung dieser 1979 im Original erschienenen Sammlung wird endlich ein wichtiges Kapitel tschechischer "Literaturgeschichte" ins Deutsche übertragen, freut sich die Rezensentin Christiane Zintzen. Auch in seiner Heimat war Ivan Blatny lange Zeit ein Verschollener. 1948 hatte sich der damals noch junge Dichter nach England abgesetzt und fühlte sich bald von "kommunistischen Agenten" verfolgt. Die nächsten Jahrzehnte brachte er in psychiatrischen Anstalten zu, schrieb immerzu, aber es dauerte lange, bis jemand auf die zuvor stets von Wärtern entsorgten Texte aufmerksam wurde. Der Dichter entpuppt sich bei der Lektüre, so Zintzen, als "formvollendet ‚altsurrealistisch’ inspirierter Bilderschöpfer". Ausdrücklich gelobt wird die Übersetzung durch Christa Rothmeier.

© Perlentaucher Medien GmbH