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Immer neue Zahlenkolonnen belegen, was uns im Alltag 'natürlich' vertraut ist: Deutsche Kinder haben ein Gewichts- und Fitnessproblem. Die Studie vollzieht den Switch von kommunizierter Aufgeregtheit und Betroffenheit auf die theoriegeleitete Analyse von Erfolgsbedingungen. Im Anschluss an die Systemtheorie Luhmanns werden die vielfältigen gesellschaftlichen Diskurse über Bewegungsarmut und Übergewicht bei Kindern einer kommunikationstheoretischen Analyse unterzogen. Neben den Mechanismen und Risiken dieser Variante moderner Krisenkommunikation gerät insbesondere die Fragwürdigkeit ihrer moralischen Effekte in den Blick.…mehr

Produktbeschreibung
Immer neue Zahlenkolonnen belegen, was uns im Alltag 'natürlich' vertraut ist: Deutsche Kinder haben ein Gewichts- und Fitnessproblem. Die Studie vollzieht den Switch von kommunizierter Aufgeregtheit und Betroffenheit auf die theoriegeleitete Analyse von Erfolgsbedingungen. Im Anschluss an die Systemtheorie Luhmanns werden die vielfältigen gesellschaftlichen Diskurse über Bewegungsarmut und Übergewicht bei Kindern einer kommunikationstheoretischen Analyse unterzogen. Neben den Mechanismen und Risiken dieser Variante moderner Krisenkommunikation gerät insbesondere die Fragwürdigkeit ihrer moralischen Effekte in den Blick.
Autorenporträt
Swen Körner (Prof. Dr. phil.) leitet die Abteilung Pädagogik des Instituts für Pädagogik und Philosophie an der Deutschen Sporthochschule Köln.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.09.2008

Wer entschärft die Kalorienbomben?

Übergewicht ist ein Gesundheitsrisiko. Das bestreitet auch Swen Körner nicht, wenn er die Krisenrhetorik, die sich an die Fersen dicker Kinder heftet, als interessengesteuert sichtbar macht.

Dreht man ein Fernrohr um und blickt von der umgekehrten Seite hinein, so sieht man nicht nichts. Vielmehr sieht man überaus tiefenscharfe Dinge - aus ungewohnter Distanz. Mit anderen wissenschaftlichen Beobachtungswerkzeugen ist Ähnliches möglich. So nimmt der Sportwissenschaftler Swen Körner die Instrumente der empirischen Körper- und Bewegungsforschung zur Hand. Und dreht sie schlichtweg um.

Deutsche Kinder werden immer dicker: So lautete und lautet seit einigen Jahren ein unüberhörbarer Krisenruf, der dazu angetan ist, Eltern, Lehrer und Gesundheitsexperten in Alarmstimmung zu versetzen. Die Zahl dicker und fettleibiger Kinder habe sich verdoppelt, jedes fünfte Kind sei zu dick, die Leistungsfähigkeit der Sechs- bis Achtzehnjährigen sei in acht Jahren um mehr als zwanzig Prozent zurückgegangen. Ein Mitglied des AOK-Bundesverbandsvorstands fragt sich öffentlich, ob wir "ein Volk von Bewegungskrüppeln" werden. Was ist mit unseren Kleinen los? Bildschirmhocker? Verwöhnt? Macdonaldisiert? Im Herbst 2007 wird die Gesundheitspolitik mit einem "Nationalen Aktionsplan Bewegung und Ernährung" aktiv. In Aufklärungsprojekte wie "Kinderleicht", "gewichtig", "Kids vital", "Minifit" und so weiter sowie in weitere Forschung fließen Millionen.

Swen Körner ist Systemtheoretiker. In seinem Buch "Dicke Kinder - revisited" liest er das Krisenphänomen gleichsam von hinten her. Er beginnt nicht mit den Messdaten, sondern bei den Kommunikationen über das Problem. Runde, träge Kinder gab es immer. Welche "Erfolgsbedingungen" aber bescheren dem Reden über dicke, unfitte Kinderkörper derzeit so eine immense Aufmerksamkeit? Um die Karriere der dicken Kinder als Thema geht es also - unabhängig davon, wie es sich wirklich verhält, denn das ist bei statistischen Sachverhalten bekanntlich schwer zu sagen. Jedenfalls aber kann man sich fragen, wie den Problemen juveniles Körpergewicht und Bewegungsmangel der Weg in die Öffentlichkeit und in die Politik gelang. Systemtheoretisch gesprochen: Wie wurde "das Passieren teilsystemspezifischer Resonanzschwellen möglich", und wie entstand gesellschaftsweit die Gewissheit, es bestehe Handlungsdruck?

Mittels einer ganzen Anzahl von Bedenken - schmissig und nicht ohne Sprachwitz - bringt Körner das Krisenszenario auf Distanz. Das (leider lange) erste Kapitel des Buches überschlägt man lieber, es enthält Theoriereferate von schwankender Qualität. Dann aber kommt der Autor zur Sache. Körner nimmt die Methoden aufs Korn, mit denen die empirische Forschung die Phänomene "Übergewicht", "motorisches "Defizit" oder umgekehrt "Leistungsfähigkeit" konstruiert. Ob Kinder dick sind, definiert der sogenannte Body-Mass-Index (BMI), das Körpergewicht wird durch das Quadrat der Körpergröße dividiert. Die errechnete, begrenzt aussagekräftige Zahl wird im Bereich Bewegungsvermögen durch einfache Tests der motorischen Leistungsfähigkeit ergänzt: Rumpfbeuge, Hängen an der Sprossenwand, Hochspringen aus dem Stand, Ballwerfen, einminütig einbeinig Balancieren, Fahrradergometer. Schon hier, so Körner, lasse sich fragen, ob nicht mit solchen an Sportarten orientierten Checks von Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Koordination der "Bannstrahl alarmierender Zahlen" an der falschen Stelle seinen Ausgang nimmt. Sind körperliche Geschicklichkeit und Körperbeherrschung der Kinder tatsächlich vor allem von dieser sportiven Art? Vergröbernd geht die Forschung auch mit Kausalfragen um - und in den Massenmedien bleiben dann endgültig nur einfache Ursachenzuschreibungen übrig: Ursache der gemessenen Befunde sind "Bewegungsmangel" und falsche Ernährung. Wo "Mangel" wie auch das "Falsche" beginnt, ist ebenso unklar wie die Frage, wieso es zu ihnen kommt.

Antworten auf die Wieso-Frage liefern dafür die Massenmedien - denen die Wissenschaftler allerdings, wie Körner zeigt, durchaus Vorlagen liefern: Das dünne Kind ist gesund und natürlich, das dicke stellt die Abweichung dar. Bilder reproduzieren nicht nur dieses Klischee, sondern sie präsentieren auch allein das dünne Kind als glücklich und vergnügt. Das dicke Kind kommt im Fernsehen selten vor, man darf es sich folglich als unglücklich vorstellen, vielleicht auch als verstockt und faul. Wichtig ist es dem Autor, die besondere Wucht deutlich zu machen, die solchen Vorstellungen anhaftet, sofern sie sich an etwas festmachen, das ja tatsächlich jeder "sieht": Wo Speckrollen quellen und ein Kind sich scheinbar havariert bewegt, erfasst den wohlinformierten Betrachter eine Gewissheit, da stimme etwas nicht. Die massenmediale Vor-Konstruiertheit dieses Urteils spürt man nicht. Körner vergleicht unser Normalgefühl in Sachen Aussehen und Bewegungsstil mit der Sprezzatura der italienischen Oper: Eine in hohem Maße eingeübte Körperlichkeit erscheint uns als die natürliche und als einzig gesund.

4,7 Millionen Arbeitslose, 1,9 Millionen übergewichtige Kinder. Da Kinder doch die Zukunft der Gesellschaft sein sollen: Wo führt das hin? Am Aussehen des Kinderkörpers schlägt sich nicht nur Moral nieder, sondern auch Folgenkommunikation. Das Buch bringt exquisite Zitate. Die Medien sprechen von "kleinen Kalorienbomben", von einer "Zeitbombe", die "entschärft werden" muss. Ein Experte konstatiert, das Übergewicht habe "seuchenhafte Züge". Wo es um Kinder geht und interveniert werden muss, sind Pädagogen zur Stelle. In diesem Fall Sportpädagogen, die das "positive Wirkungsversprechen des Sports" (Körner) zu plazieren wissen. Rezepte gibt es insbesondere für den Bereich Schulsport, in welchem - so der Rat einschlägiger Fachleute - Spielerisches durch trainingswissenschaftlich fundierte Elemente ersetzt werden soll. Damit aber schließt sich ein Kreis.

Mehr Sport in den Schulen: Diesen Ratschlag sprechen nämlich genau diejenigen aus, von denen die Dicke-Kinder-Botschaft stammt. Wann aber kommt die Krisenkommunikation über juvenilen Bewegungsmangel so richtig in Schwung? Just als mit Pisa die flächendeckende Ganztagsschule ansteht und die Sportpädagogik - wissenschaftlich fundiert - in den anstehenden Planungsprozessen Anschluss sucht.

Empirische Forschung, die Defizite ermittelt, funktioniere, so Körner, ohnehin zirkulär: Experten produzieren Daten, die auf Defizite verweisen, was wiederum einen Bedarf nach weiteren Daten hervorruft, die erneut auf Defizite verweisen - und so fort. Wohl "nicht zufällig" aber komme "die Krisenrhetorik zeitbombenmäßiger Bedrohung" just zu dem Zeitpunkt zu Gehör, als das "wohl bedeutendste bildungspolitische Reformthema der letzten Jahre, die offene Ganztagsschule", in Deutschland in Angriff genommen wird. Als die WHO unlängst für deutsche Kinderkörpergewichte längst nicht so dramatische Messdaten ermittelte, spekulierten deutsche Forscher, da seien Messungenauigkeiten im Spiel. Fast scheint es, als werde die Gewissheit, dass Handlungsbedarf besteht, durch die Sportforschung regelrecht verteidigt. Der Sport will sich sein Stück nehmen vom erweiterten Stundenplan. Und natürlich besteht weiter Forschungsbedarf. Einige der Studien der vergangenen Jahre finanzierte der Deutsche Sportbund mit.

Körner betont mehrfach, es gehe ihm nicht darum, die gemessenen Sachverhalte als solche zu bestreiten. Das konstruktivistische, vielleicht insgesamt ein wenig theorielastige Design seiner Arbeit erlaubt ihm diese Geste: Er beobachte nur die Kommunikationen, in der Sache habe er ja nichts gesagt. Dennoch bleibt von der großen Kinderkörper-Krise kaum etwas übrig, liest man dieses Buch. Einen empirischen Zusammenhang von körperlicher Aktivität und Gesundheit konnte die Sportmedizin bisher ohnehin nicht nachweisen - das ist bekannt. Aber auch zum Zusammenhang von Übergewicht und Gesundheit bleiben die Daten ambivalent: Lediglich krasses Übergewicht ist eindeutig ungesund. Zahlen vom Typ "50 Prozent mehr" übergewichtige Kinder oder "20 Prozent" Rückgang der Fitness hängen aber schon deshalb in der Luft, weil die zum Vergleich herangezogenen Studien aus den achtziger und neunziger Jahren sich anderer Testmethoden bedienten und es also keine echten Vergleichswerte gibt. Man möchte lachen, wenn es nicht auch trübe wäre. Ein für Eltern und Freunde von Kindern aller Gewichtsklassen lesenswertes Buch.

PETRA GEHRING

Swen Körner: "Dicke Kinder - revisited". Zur Kommunikation juveniler Körperkrisen. transcript Verlag, Bielefeld 2008. 225 S., br., 24,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Petra Gehring schätzt Swen Körners Buch "Dicke Kinder - revisited" als erhellende Studie über die Art und Weise, wie das viel beschworene Gewichts- und Fitnessproblem Deutscher Kinder von Wissenschaftlern, Gesundheitspolitikern und den Massenmedien kommuniziert wird. Sie begrüßt die kritische Auseinandersetzung mit den Methoden, mit denen die empirische Forschung Phänomene wie "Übergewicht", "motorisches Defizit" oder "Leistungsfähigkeit" konstruiert. Überzeugend findet sie, wie der Autor die Krisenrhetorik in Hinblick auf dicke Kinder als interessengesteuert sichtbar macht. Sie hebt hervor, dass Körner nicht leugnet, dass Übergewicht ein Gesundheitsrisiko ist. Von der "großen Kinderkörper-Krise" bleibe bei ihm allerdings kaum etwas übrig. Körners Darstellung scheint Gehring meist "schmissig", manchmal aber auch etwas zu theorielastig. Ihr Fazit: "Ein für Eltern und Freunde von Kindern aller Gewichtsklassen lesenswertes Buch."

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"Swen Körners Buch ist wirklich zu empfehlen. Es bestreitet keineswegs, dass es das Problem 'dicke Kinder' gibt. Es verschafft aber Durchblick in den komplexen Prozessen der Meinungserzeugung, denen Laien mehr oder weniger hilflos ausgesetzt sind." Aachener Nachrichten, 08.10.2008 "Ein für Eltern und Freunde von Kindern aller Gewichtsklassen lesenswertes Buch." Petra Gehring, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.09.2008 Besprochen in: Aachener Nachrichten, 08.10.2008 Orientierungen - Zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, (2008), Roland Tichy Sport & Gesellschaft, 2 (2009), Karl-Heinrich Bette Zeitschrift für Pädagogik, 5 (2009), Claudia Peter www.bvpraevention.de, 23.07.2010