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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.2002

Meine Schüler, die Feinde
Gescheiterte Existenzen: Eine Werkausgabe Hermann Ungars

Hermann Ungar, ein Repräsentant der deutschen Literatur im Prag der zwanziger Jahre, hatte sein Thema schon früh gefunden und immer neu gestaltet: die subversive Wirkung des Vorurteils und die Furcht vor den Abgründen der eigenen Existenz. Dem weithin vergessenen Schriftsteller und Zeitgenossen Kafkas gilt jetzt eine dreibändige Werkausgabe im Igel Verlag. Der erste Band versammelt die beiden Romane Ungars, denen der düstere Ton und die schonungslose Selbstzerfleischung ihrer gebeugten Helden gemein ist.

Sowohl "Die Verstümmelten" (1922) als auch "Die Klasse" (1927) erzählen aus einer verengten, subjektivierenden Sicht. Nie schwingt sich der Autor auf, die Szenerie von der mondänen Loge des allwissenden Erzählers aus zu überblicken, nie versucht er, das Geschehen neutral zu beschreiben. Der Roman "Die Verstümmelten" folgt einem verarmten Bankbeamten auf Schritt und Tritt, der mit wachsender Panik daran arbeitet, daß alles so bleibe, wie es ist. Wenngleich die Gegenwart nicht sonderlich reizvoll ist, so erscheint sie immerhin erträglicher als das Wagnis, neue Wege zu gehen. Mehr will, mehr darf er nicht verlangen: Das wäre vermessen, eine Sünde an Gott und am heiligen Franziskus, dessen Abbild über seinem Bett hängt. Abends hört er durch die dünnen Wände, wenn sich Frau Porges, seine korpulente Vermieterin, im Bett wälzt, und allein das Geräusch der knarrenden Dielen erscheint ihm als Angriff auf seine Person. Ein Pedant mit geröteten Händen und aufgewühlter Seele ist dieser Polzer, ein unscheinbarer Weltverächter und Menschenfeind. Ihm ist nur noch ein einziger Freund geblieben, mit dem er gemeinsam zur Schule ging, den er verehrte, weil er schön war. Aber Karl leidet an einer seltenen Krankheit, die den einst so beneideten Jungen zum Krüppel entstellt. In merkwürdiger Entsprechung ist-Karl körperlich, Franz seelisch verstümmelt.

Eines Abends zerrt ihn Frau Porges in ihr Bett, und unter der Last ihres Körpers, gibt Polzer nach: "Sie riß ihn nieder und zwang ihn zu ihrem gequollenem Fleisch. Er fühlte die Feuchtigkeit ihrer Haut und roch ihren Geruch." Der Ekel vor dem anderen Geschlecht, überhaupt vor dem Menschen als solchen, ist Ungars treibende Kraft. Seine Romane fesseln mit ihrer sachlichen Präzision, ihrem Mut, menschliche Qualen auszukosten bis zur Neige, ohne die Stimme hysterisch zu heben. Der Verlust aller Gewißheiten in Ungars Werk erscheint durchaus aktuell und die subjektiv als Zwang empfundene Religion leistet ein übriges, den Roman als Kommentar zum Zeitgeschehen zu lesen.

Der zweite Roman "Die Klasse" ist ein Werk über den Schulalltag aus der Sicht eines zermürbten Lehrers. Josef Blau gibt sich betont autoritär, damit niemand seinen anfällige Persönlichkeit erahnt: "Wenn die Schranke der Zucht gefallen war, wußte er, war alles vergeblich, der Hinweis auf die bedrohte Stellung des Lehrers wie das Flehen um Gnade." Aus Angst vor seinen Schülern wendet er ihnen niemals den Rücken zu, wissend, daß sie ihn belauern und verachten. Wenn er den Klassenraum betritt, ist er ein schwächlicher Gladiator in der Löwenarena, ein Zwillingsbruder Franz Polzers mit geborgter Autorität. Er vermutet, daß ihn seine schöne Frau hintergeht, womöglich mit einem seiner Schüler, malt sich im Geiste aus, wie sie einem anderen in die Arme fällt. Seine Eifersucht ist eine beinahe tödliche Marter.

Abermals setzt Ungar auf einen entkräfteten Helden und zwingt uns dessen verzerrende Perspektive auf. Ungar verlagert das subjektive Empfinden seiner Romanfigur nach außen und zeigt daher nicht Blau, sondern vor allem sein Umfeld in düsterstem Licht. Was hinter verschlossenen Türen geschieht, ob Wände Ohren haben und Lehrer Leopold verwerfliche Pläne schmiedet, wenn er Blaus Frau ausführt, die Wirklichkeit jenseits von Blaus Perspektive also, bleibt verborgen.

Gleichwohl läßt Ungar nichts ungesagt, was Blaus gärenden Zorn betrifft; jede Anspielung, jedes noch so unglaubwürdige Indiz für den Seitensprung seiner Frau, für die furchtbare Verschwörung der Schüler, ist dem Helden einen kühnen Gedankenausritt wert, der bisweilen alle Logik, aber nie den Leser hinter sich läßt. Allerdings verliert sich die Wucht dieses zweiten Romans in einem ziemlich dürftigen letzten Kapitel, das abrupt Frieden stiftet, wo ehedem noch blinder Haß wütete. Was wäre alles denkbar gewesen, um dem verschrobenen Lehrer die Augen zu öffnen, mit welcher Raffinesse könnte er gesunden? Aber Ungar zieht die Notbremse in voller Fahrt, wohl auch aus Furcht, die geschwärzte Fiktion könnte der Kritik mißfallen.

Der jüngst erschienene zweite Band, dem im Herbst der letzte Teil der Werkausgabe folgen wird, umfaßt Ungars Erzählungen, und es ist, als sei darin schon das ganze thematische Arsenal seines späteren Hauptwerks aufgehoben. Wieder schürft er nach den archaischen Relikten hinter den schmucken Fassaden des Bürgertums, beleuchtet die Kehrseite der Moral, wenn er sie eng an den Untergang knüpft. Schonungslos auch hier, beschreibt er die Irrwege seiner Helden, denen die mindere Abkunft zum Verhängnis wird. In den beiden Erzählungen, die unter dem Titel "Knaben und Mörder" vereint sind, nährt sich das Böse aus Rachegedanken. Und Ungar versetzt sich hinein in seine Helden, teilt ihre unerträgliche soziale Froschperspektive und entblättert wunde Seelen, Schale für Schale, aber nicht aus Lust, sondern aus Mitleid.

ALEXANDER BARTL.

Hermann Ungar: "Sämtliche Werke". Band 1: Romane. Hrsg. von Dieter Sudhoff. Igel Verlag, Oldenburg 2001. 354 S., br., 21,50 [Euro].

Band 2: Erzählungen. Igel Verlag, Oldenburg 2002. 270 S., br., 21,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Igel-Verlag, informiert uns Alexander Bartl, plant in diesem Jahr eine dreibändige Werkausgabe des deutschsprachigen Schriftstellers Hermann Ungar aus Prag, der ein Kollege und Zeitgenosse Kafkas war, aber heute nahezu vergessen ist. Band 1 und 2 sind soeben erschienen, der dritte soll im Herbst 2002 folgen.
Die Erzählungen im zweiten Band umfassen für Bartl bereits die gesamte Themenpalette, die Ungar in seinem späteren Hauptwerk aufgreifen wird. Schonungslos folge der Prager Autor den Irr- und Abwegen seiner Protagonisten, die oftmals aus sozial niedrigen Verhältnissen stammen und denen ihre Herkunft zum Verhängnis wird, wie Bartl berichtet. Zugleich beleuchtet Ungar die Doppelmoral oder Kehrseite der schmucken Fassade des Bürgertums, stellt er fest. Die Seelen von Ungars Figuren liegen wund und bloß, so Bartl. Teilweise sei die Beschreibung ziemlich unerträglich, gibt der Rezensent zu, dennoch werde spürbar, dass Ungar sie nie "aus Lust, sondern aus Mitleid" seziere.

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