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Unerhörte Rettung (Mängelexemplar) - Kaiser, Reinhard
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Im Dezember 1942 wird in der litauischen Stadt Kaunas ein nach Nazi-Kategorien 'halbjüdischer', aus Berlin stammender Komponist ermordet, Edwin Geist. In Deutschland hatte ihm die für seine Kunst zuständige Behörde das Komponieren verboten, und so war er 1938 nach Litauen gegangen – eine seltene Erscheinung, ein glücklicher Emigrant. Denn in Kaunas findet er nicht nur Zuflucht und neue Arbeitsmöglichkeiten, sondern auch die Frau, in die er sich verliebt und die er 1939 heiratet, Lyda. Wer war dieser Geist, dem es, als die Deutschen in Litauen den Judenmord zu organisieren begannen,…mehr

Produktbeschreibung
Im Dezember 1942 wird in der litauischen Stadt Kaunas ein nach Nazi-Kategorien 'halbjüdischer', aus Berlin stammender Komponist ermordet, Edwin Geist. In Deutschland hatte ihm die für seine Kunst zuständige Behörde das Komponieren verboten, und so war er 1938 nach Litauen gegangen – eine seltene Erscheinung, ein glücklicher Emigrant. Denn in Kaunas findet er nicht nur Zuflucht und neue Arbeitsmöglichkeiten, sondern auch die Frau, in die er sich verliebt und die er 1939 heiratet, Lyda. Wer war dieser Geist, dem es, als die Deutschen in Litauen den Judenmord zu organisieren begannen, nicht nur gelang, dem Ghetto wieder zu entkommen, der es vielmehr auch fertigbrachte, seine über alles geliebte jüdische Frau mit legalen Mitteln aus dem Ghetto zu befreien? Reinhard Kaiser hat sich auf die Suche nach Spuren des Komponisten Geist gemacht – in Deutschland, in Litauen und in der Schweiz.
Autorenporträt
Reinhard Kaiser wurde 1950 in Viersen am Niederrhein geboren und lebt heute in Frankfurt am Main. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld (2003). Für sein Buch Königskinder erhielt er 1997 den Deutschen Jugendliteraturpreis, für Dies Kind soll leben den Geschwister-Scholl-Preis (2000). Bei Schöffling & Co. ist erschienen: Eos’ Gelüst (1995), Königskinder. Eine wahre Liebe (1996) und von Reinhard Kaiser herausgegeben Vivant Denon, Nur diese Nacht (1997) und 'Dies Kind soll leben' Die Aufzeichnungen der Helene Holzman 1941-1944 (2000).
Rezensionen
Und schöner wird es diesmal tönen

Wie entsetzlich und auch - wie ergreifend: Reinhard Kaiser erzählt die Geschichte des Musikers Edwin Geist

In dem preisgekrönten Buch „Königskinder” (Schöffling Verlag, Frankfurt 1996) erzählte der Frankfurter Schriftsteller und Übersetzer Reinhard Kaiser schon einmal die Geschichte von einer Liebe zur falschen Zeit. Er musste sie nicht erfinden, denn das Jahrhundert selbst hatte sie als ein auswegloses Unternehmen geschrieben. Kaiser war sie bei einer Briefmarkenauktion zugefallen, als ein Bündel sechzig Jahre alter frankierter Briefe unter den Hammer kam. Sie warteten darauf, von neuem geöffnet und nach ihrer Geschichte befragt zu werden.

Vor allem in den Abteilungen des Schreckens wachsen die Bestände der Bibliothek des 20. Jahrhunderts unaufhaltsam weiter. Für den jüngsten Wachstumsschub sorgte die Rückkehr einer Reihe vergessener Völker und Länder nach Europa: Im ehemaligen Sowjetreich waren die Schattenzonen der Erinnerung, in denen bis dahin unerhörte Berichte lagerten, so unbetretbar wie die versperrten Häfen des baltischen Meeres. Auch Reinhard Kaiser wurde bei der Recherche nach den „Königskindern” auf die baltische Spur gelenkt, ohne die ihn dort erwartende Kette der Flaschenpostbriefe zu ahnen.

Mit der Exillitauerin Margarete Holzman begegnete ihm das Gedächtnis einer in den zwanziger Jahren aus Deutschland ausgewanderten jüdischen Familie, deren Haus im litauischen Kaunas in den dreißiger und vierziger Jahren Flüchtlingen und Verfolgten Obdach bot. Mit ihr hatte nur die Mutter, die Malerin und Buchhändlerin Helene Holzman, die Vernichtung der litauischen Juden überlebt. Im sowjetisch annektierten Litauen der Nachkriegszeit waren die Holzmans neuen Repressalien ausgesetzt, bis sie in den sechziger Jahren ausreisen durften. Sie kamen nach Deutschland mit der Geschichte eines halben Jahrhunderts im Gepäck.

Zwei, die sich liebten

Unmittelbar nach Kriegsende hatte Helene Holzmann ihre Erinnerungen an die Schreckensjahre 1941 bis 1944 niedergeschrieben. Von Reinhard Kaiser und Margarete Holzmann herausgegeben, erschienen sie sechzig Jahre später unter dem weithin beachteten Titel „Dies Kind soll leben” (Schöffling 2000). Breiten Raum nahm darin die bedrückende Schilderung des Schicksals eines Liebespaares ein, das wie traumwandlerisch durchs Leben ging: des deutschen Tonsetzers Edwin Geist und seiner litauischen Frau, der Pianistin Lyda Bagrianskyte. Nach dem Einmarsch der Deutschen im Juni 1941 wurden sie ins Kaunasser Ghetto gebracht, wo sie die Selektionen und ersten Massenerschießungen überlebten. Als so genannter „Halbarier” wird Edwin Geist im Frühjahr 1942 aus dem Ghetto entlassen und entschließt sich, auch seine jüdische Frau zu befreien. Seine verzweifelten Anstrengungen, die von einem gefährlichen Katz- und Maus-Spiel mit der Gestapo und mit SS-Offizieren begleitet sind, führen nach Monaten zum Erfolg: Lyda kommt frei, allerdings unter den Auflagen der Sterilisation und der Ehescheidung.

„Sie liebten sich, wie noch nie geliebt wurde”, schrieb Helene Holzmann über ihre beiden Freunde, die in der Überzeugung, dass die Liebe Berge versetzen und selbst Henker milde stimmen könne, ihr wiedergefundenes Glück genossen. Es währte nicht lange. Noch vor Jahreswende wird Edwin Geist verhaftet, zurück ins Ghetto gebracht und wenige Tage darauf erschossen. Als Lyda von seinem Tod erfährt, nimmt sie sich das Leben. „Nie”, so beschloss Helene Holzmann ihre Schilderung, „nie sind Menschen qualvoller zu Tode gemartert worden als diese beiden Liebenden, Erfüllten.”

Doch wer war der im Jahr 1902 geborene und bis 1938 in Berlin lebende Komponist und Musikschriftsteller Edwin Geist, dessen Name in Deutschland auch aus der Musikgeschichte ausgelöscht wurde? Zwei biographische Hinweise konnte Reinhard Kaiser bei seinen Nachforschungen finden, in Schwarzen Listen aus der NS-Ära: Im „Lexikon der Juden in der Musik” aus dem Jahr 1940 war Edwin Geist mit Namen, Geburtsdatum und seinem letzten Berliner Wohnsitz sowie mit der fettgedruckten Sigle „H” für „Halbjude” verzeichnet. Nach den Worten der Herausgeber Herbert Gerigk und Theo Stengel sollte das Nachschlagewerk eine „Handhabe” bieten „zur schnellsten Ausmerzung aller irrtümlich verbliebenen Reste (jüdischer Erzeugnisse) aus unserem Kultur- und Geistesleben”. Bei Edwin Geist war ihnen dies gelungen. Nirgendwo, außer im benachbarten Lettland, war das unterdessen auch physisch exekutierte Vernichtungsprogramm frühzeitiger und brutaler exekutiert worden als in Litauen, wohin Geist nach der Verhängung des Berufsverbots emigriert war.

Auf der Suche nach Edwin Geist und den Spuren seines künstlerischen Wirkens ging Reinhard Kaiser in die Archive, machte ehemalige Angehörige ausfindig, suchte Einwohnermeldeämter und andere Behörden auf. An den litauischen Schauplätzen befragte er Zeitzeugen, die den Musiker noch persönlich gekannt hatten oder mit seiner musikalischen Hinterlassenschaft vertraut waren. Für die Darstellung wählte er eine kluge Komposition und fand einen nüchternen, nachdenklichen Ton. Und doch ist jede Seite seines Buchs von atemberaubender Spannung erfüllt, ohne dass der Autor der Versuchung nachgegeben hätte, dem beinahe unglaublichen Stoff und seinen Protagonisten noch durch romanhafte Gestaltungsmittel zuzusetzen.

Nich ganz wie im Märchen

Wie groß diese Versuchung hätte sein können, wird deutlich, wenn man die Edition von Geists „Tagebuch für Lyda” liest, das vor knapp zwei Jahren in einem litauischen Verlag auf Deutsch erschienen ist. Nach dem Tod des Ehepaars war das Tagebuch in die Hände von Helene Holzmann gelangt, die es bei ihrer Ausreise den litauischen Behörden übergab. Kaiser, der die Überlieferungsgeschichte rekonstruiert, konnte das Tagebuch vor dem Erscheinen einsehen. Er zitiert längere Passagen daraus, allerdings ohne dieses ergreifende und bestürzende Dokument auszuschlachten. „Intime, ungeschützte, für die geliebte Frau bestimmte Aufzeichnungen” nennt Kaiser das von Hunger und Entbehrungen gezeichnete Protokoll des Schmerzes, der Sehnsucht und der Hoffnung. Es dokumentiert die Zeit nach Geists Entlassung aus dem Ghetto und datiert vom Palmsonntag des Jahrs 1941 bis zum Vorabend von Lydas Befreiung am 1. September desselben Jahres.

Unter der Trennung von der geliebten Frau rückt Geist seine Lyda in eine fiktive Gegenwart und hält im Tagebuch Zwiesprache mit ihr. Er tut dies aus der starken Überzeugung eines Liebenden heraus, dass seine Gefühle, wenn sie nur intensiv genug sind und vom andern erwidert werden, eine gleichsam telepathische Wirkung ausüben, auch über Mauern und Drahtzäune hinweg. Ein Kirchturm, der nach seinen Berechnungen von den beiderseitigen Standorten aus sichtbar ist, wird zur festen Orientierungsmarke einer Liebesgeographie, die alle Trennungen überwindet: „Sie soll uns nicht stören, diese Schranke”, notiert er und lässt seinen Gefühlen freien Lauf: „Grüne Tinte, weisser Schnee, stahlgrauer Himmel (stahlgraue Welt!) und rote Kirche - ganz wie im Märchen klingts Und kennst Du das? Ich glaube wohl.” Darauf folgt die mit „Lento amoroso” überschriebene Notenzeile eines Wiegenlieds mit der Nachschrift: "Das war einmal!!! Und schöner wird es diesmal tönen!!! Schlaf wohl, geliebte Braut und Frau!"

Edwin Geist war ein unpolitischer Mensch, der den Musiker mit dem Poeten vereinte. In seiner genialisch-saturnischen Künstlernatur wähnte er sich über die Weltereignisse erhaben. Wie vor ihm Richard Wagner wollte er das Musiktheater revolutionieren. Er rannte in sein Verderben, weil der Schutzengel des Künstlers, dem er blindlings vertraute, entweder versagte oder weil ein Künstler doch gar keinen Schutzengel hat. Seine Frau war ihm devot ergeben und bestärkte ihn beim Bau seiner Luftschlösser. „Ihr scheint mir beide Phantasten zu sein, zwei vom Himmel herabgefallene Kinder”, zitiert Geist im Tagebuch den berüchtigten „Henker von Kaunas”, den SS-Obersturmbannführer Helmut Rauca, der ihn verhörte und der sein freiwillig aufgesuchter Verhandlungspartner war. Die teilweise seitenlangen Protokolle dieser Verhöre und Gespräche klingen absurder als alles, was George Tabori auf der Bühne ersonnen hat. Mit „Mahlzeit!” verabschiedete Rauca den Störenfried aus seinem Dienstzimmer.

Anders als in Deutschland war Edwin Geist in Litauen nie ganz vergessen. Seine musikgeschichtlichen Forschungen über die Ursprünge des litauischen Volkslieds, die er im Verlag von Max Holzman veröffentlicht hatte, beschäftigen dort noch heute die Wissenschaft. Durch die wundersame Rettung seines Nachlasses fanden in Kaunas und in Vilnius bereits in den siebziger Konzerte nach seinen Kompositionen statt. Im Jahr 2000 Geists wurde Musikschauspiel „Die Heimkehr des Dionysos” aufgeführt. Ende der sechziger Jahre war nach Motiven aus seinem Leben und seinem Tagebuch ein später auch als Buch erschienenes Theaterstück zur Aufführung gelangt, dessen Mitverfasser, der Schriftsteller Jokubas Skliutauskas, zuletzt das „Tagebuch für Lyda” verdienstvoll edierte und kommentierte. Die Wunde jedoch, die jüdische Abstammung als dem alleinigen Grund für die Ermordung des Ehepaars, hatte das Theaterstück, das seinen Helden als antifaschistischen Widerstandskämpfer feierte, seinerzeit verschwiegen.

VOLKER BREIDECKER

REINHARD KAISER: Unerhörte Rettung. Die Suche nach Edwin Geist. Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt 2004, 359 Seiten, 24,90 Euro.

EDWIN GEIST: Für Lyda. Tagebuch 1942. Herausgegeben von Jokubas Skliutauskas. Baltos Lankos Verlag, Vilnius und Kaunas 2002, 6,95 Euro.

Edwin Geist, um 1940.

Foto: Schöffling Verlag

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