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Ostanatolien und die Nähe zum Kaukasus, der arabisch geprägte Süden, die Grenzen zum Iran und Irak: Christian Schüle ging dort auf die Suche nach der türkischen Seele, wo für die meisten die Türkei bereits zu Ende ist. Wochenlang hat er das geheimnisvolle Land bereist, über das so viele urteilen, obwohl es ihnen unbekannt ist. In den Dörfern im konservativen Inneren, auf den Hochplateaus der Berge, an den Süd-, Nord- und Westküsten traf er auf Menschen, die zwischen Atatürk und Allah ihrem Leben einen Sinn abringen. In Kappadokien begegnete er Hatice, der Tochter des Limonenhändlers, die mit…mehr

Produktbeschreibung
Ostanatolien und die Nähe zum Kaukasus, der arabisch geprägte Süden, die Grenzen zum Iran und Irak: Christian Schüle ging dort auf die Suche nach der türkischen Seele, wo für die meisten die Türkei bereits zu Ende ist. Wochenlang hat er das geheimnisvolle Land bereist, über das so viele urteilen, obwohl es ihnen unbekannt ist. In den Dörfern im konservativen Inneren, auf den Hochplateaus der Berge, an den Süd-, Nord- und Westküsten traf er auf Menschen, die zwischen Atatürk und Allah ihrem Leben einen Sinn abringen. In Kappadokien begegnete er Hatice, der Tochter des Limonenhändlers, die mit fünfundzwanzig schon ihren vierten Freund hat, aber noch nie richtig geküßt wurde. In Trabzon erfuhr er, warum alle Huren Natascha heißen, und im weltberühmten Antakya, warum sich alle vor dem feinen Herrn Yurttas verbeugen. Er ließ sich vom Zufall durch ein faszinierend fremdes Reich leiten, das die Geburtsstätte der Bibel und die Wiege abendländischer Kultur ist.
Autorenporträt
Christian Schüle, 1970 geboren, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert und ist Autor der Wochenzeitung »Die Zeit«. Seine Reportagen, Essays und Feuilletons wurden mehrfach preisgekrönt. Er hat ausgiebig fremde Länder wie China, Rußland und die Türkei bereist und lebt in Hamburg.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.05.2007

Maskiertes Weinen
Christian Schüle sucht und besucht das Land der Türken mit der Seele
Ein Jahr ist vergangen, seit der Hamburger Kulturjournalist Christian Schüle den heiklen Versuch unternahm, Deutschland zu erkunden und auf diese Weise sich die Welt und uns sich zu erklären. Die als „Abrechnung eines Mittdreißigers” firmierende „Deutschlandvermessung” näherte sich dem fremd-vertrauten Gegenstand mit dandyhafter Attitüde. Da sprach sich einer aus, den die Sorge um das Ende aller Diskurse, die Furcht vor flächendeckender Denkfaulheit, Stillosigkeit, Meinungsscheu herzhaft umtrieb. Nun sind dieselben Augen auf ein anderes Land gerichtet. Entstanden sein sollen „poetische Reflexionen eines abendländischen Europäers auf der Suche nach der türkischen Seele”.
Abermals also fällt der Autor mit der Tür ins Haus, abermals scheut er sich nicht, in großer Geste vom Ich zu reden, es zu inthronisieren als den Königsweg zum fundamental Fremden. Doch damit enden fast die Kontinuitäten. Die Königsdisziplin auch des Sachbuchautors, das Beschreiben und Erzählen, war in der „Deutschlandvermessung” nur in homöopathischen Dosen vertreten. Nun ist Schüle ganz der vornehme Abenteurer eines Landes, dessen Gerüche, Farben und Aromen ungefiltert in ihn eingehen. Hier mokiert sich niemand, hier öffnet jemand weit alle Sinne und akzeptiert den Zufall als Reiseführer. „Nur durch den Zufall”, heißt es zu Beginn, „kann man der Wirklichkeit gerecht werden”.
Lediglich die erste und letzte Station, Istanbul, ist Resultat eines freien Entschlusses. Die Metropole am Bosporus erscheint dem Gast als „eine Art außertürkische Türkei und zugleich eine Art Türkeiverdichtung, da alle Facetten der türkischen Seele sich dort amalgamieren.” Schon in Istanbul trifft er auf jene Mischung aus Paranoia und Gastfreundschaft, die zum Refrain wird der zweimonatigen Erkundung. Fast kein Gesprächspartner verzichtet auf düstere Vorwürfe an die Adresse der Griechen oder der Juden, und niemand unterlässt es, dem Fremden einen Tee anzubieten. So lautet denn auch einer der Schlüsse, es sei „der einzigartige Charme der Türkei, den Begriff des Fremden nicht zu kennen.”
Ein steiniger Weg führt zur Erkenntnis, gepflastert mit monotonen Speisen, hässlichen Dörfern und zahllosen Atatürk-Monumenten. Der Staatsgründer habe Allah ersetzt, allgegenwärtig sei er, ihn zu verehren, bedeute harte Arbeit. Die „profane Vergötterung” manifestiert sich eindrücklich am 9. November um 9.05 Uhr, zur Todesminute des Übervaters. Eine Minute lang schließen die meisten Türken die Augen, ehe die Schülerparade beginnt, der sich eine Festwoche anschließt. So ist es auch auf dem Dorfplatz von Ortahasir im Kappadokien, südöstlich von Ankara. Dort lernt Schüle die 25-jährige Hatice kennen, die „Sittenbrecherin von Ortahasir”.
Viril und wunderbar
Hatice ist das eindrücklichste und umfänglichste Porträt gewidmet. Sie trägt kein Kopftuch, sie läuft abends ohne männliche Begleitung durch die Gassen, sie ist Geschäftsfrau, sie raucht: All das gilt von sonst keiner Frau in Ortahasir. Die gelernte Schneiderin lächelt gern und oft, doch ihr Lächeln sei „maskiertes Weinen. Es entstand nicht. Es setzte sich auf. Es täuschte Freude vor, wo Leid war.” Hatice nämlich ist trotz ihres relativ hohen Alters noch unverheiratet. Die große Liebe dieser selbstbewussten, klugen Frau ist – so sagt sie es selbst – der Prophet Mohammed, und darum lebe sie jeden Tag in der Angst, in die Hölle zu kommen. „Als Europäer”, folgert Schüle, „hat man in diesem Augenblick kein Recht zu widersprechen.”
Gerade aber als Ausnahmeerscheinung ist Hatice typisch für ein innerlich zerklüftetes Land. Was Schüle einmal gespreizt die „friedvolle Mehrtracht” nennt, taugt offenbar zum Bauprinzip eines Volkes. Da gibt es Trabzon am Schwarzen Meer, die Stadt der käuflichen Liebe und des billigen Alkohols, das sittenstrenge und freudlose Konya, den „religiösen Nukleus der Türkei”, in dem Islamisten wie der junge, zuvorkommende Göksel die „Niederlage der Aufklärung organisieren”, da gibt es Antakya, das einstige Antiochia, wo laut Neuem Testament „die Jünger zuerst Christen genannt wurden” und wo heute das Stadtleben tobt, „hässlich und verstunken, überfüllt und verlogen, viril und wunderbar”.
Und offenbar immer gibt es einen „John Travolta des Südens” oder einen „kurdischen Elvis Presley”, die den „Eros schiefer Töne, falscher Rhythmen und sinnloser Tänze” zur Neige auskosten. Die Türkei: ein Land voll herzerwärmender Operettenseligkeit? Schüle war aufgebrochen in der festen Überzeugung, das Land müsse und solle der EU beitreten. Zurückgekehrt ist er mit der Einsicht, „dass die meisten Türken mit Europa nichts am Hut hatten und auch nicht haben wollten”. Auch der „aggressive Nationalismus samt seinem beinah ärgerlichen Atatürk-Kult, der dörferweise Züge einer realkommunistischen Diktatorenverehrung” annimmt und die „Entweiblichung der Alltagskultur” sprächen gegen eine Kompatibilität von Türkei und Europa. So lautet das laute Fazit eines ansonsten sehr leisen Buches, das ganz wie Türkei seine schönsten Seiten nicht anstrengungslos preisgibt.
ALEXANDER KISSLER
CHRISTIAN SCHÜLE: Türkeireise. Von unerhörten Begegnungen, erfüllten Sehnsüchten und der Suche nach Europa. Piper Verlag, München 2006. 300 Seiten, 18,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2007

Wenn Gesten mehr als Worte sagen

Was ist die türkische Seele? Ist sie europakompatibel, und ist, umgekehrt, Europa reif für die Türkei? Christian Schüles gedankenreichen Annäherungen an die Türkei zwischen Allah und Atatürk, Türkpop und Minarettenwäldern, islamischem Fundamentalismus und Laizismus vollziehen sich vor allem von ihren Rändern her. Von Istanbul, wo er das Aussterben bunter, geschichtsträchtiger Gegenden und Basare zugunsten moderner Einkaufszentren konstatiert, führt Schüles Reise über Städte der Mittelmeerregion wie Andana und Antakya und die "Stadt der Propheten" Urfa an die Schwarzmeerküste nach Trabzon und zu verwunschenen Dörfern im ostanatolischen Grenzgebiet zu Armenien, die einmal das Ende Europas bilden könnten. Magie und Melancholie, Trubel und Tragödien liegen nah beieinander in dem dichten Bericht. In Gesprächen mit Barbieren, Teehausgästen, Baumwollpflückern, Huren und tiefgläubigen Moslems, Bürgermeistern und Prominenten evoziert der Autor die multiplen Identitäten und Metamorphosen der Türkei. Während in den konservativen Regionen Anatoliens nach wie vor ausgeprägte Formen der Frömmigkeit, patriarchalischen Gesellschaftsstruktur und "Entweiblichung der Alltagskultur" aufscheinen, beschleunige die Bewegung der Säkularisierung und Kapitalisierung anderen Stimmen zufolge den Ausverkauf der Türkei und die Erosion auch vorteilhafter Traditionen. So stellt Schüle der westlichen, verworteten Kultur die anatolische "Kultur der Geste" und Gastfreundschaft gegenüber. In immer neuen Variationen und Intonationen türkischer Widersprüche streift der Autor dies- und jenseits des Bosporus kontrovers diskutierte Themen wie die Karriere des Kopftuchs als religiöses und politisches Symbol, rekonstruiert vordergründige Demokratisierungsschübe und Entspannungsansätze des Kurdenproblems dank Beitrittsambitionen zur EU sowie die Geschichtsvergessenheit, wenn es um den Genozid an den Armeniern geht. Gegen Ende seines geschichtskundig philosophierenden, vielstimmigen und angenehm unvoreingenommenen Buchs obsiegen beim Autor und "Berichterstatter in Sachen Europareife" leise Zweifel an der Sinnhaftigkeit der europäischen Einverleibung der Türkei.

sg

"Türkeireise. Von unerhörten Begegnungen, erfüllten Sehnsüchten und der Suche nach Europa" von Christian Schüle. Piper Verlag, München 2006. 304 Seiten, 26 Fotos, eine Karte. Gebunden, 18,90 Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Alexander Kissler vergleicht das Buch mit der "Deutschlandvermessung" desselben Autors und scheint froh, dass die "große Geste vom Ich" diesmal nicht von einem mokanten Ton begleitet wird. Deutlich besser gefällt Kissler Christian Schüles hier erprobte Offenheit und Bereitschaft, sich bei der Erkundung der Türkei dem Zufall zu überlassen. Kissler folgt dem Autor in "hässliche Dörfer" und zu "zahllosen Atatürk-Monumenten" und stellt fest, dass sich die schönen Seiten dieses Landes nicht ohne weiteres enthüllen. Weil Schüles Beobachtungen eher "leise" daherkommen, fällt Kissler das "laute Fazit" von der Unvereinbarkeit der Türkei mit Europa wiederum eher unangenehm auf.

© Perlentaucher Medien GmbH