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  • Buch mit Leinen-Einband

Produktdetails
  • Verlag: Schirmer/Mosel
  • 2000.
  • Seitenzahl: 111
  • Deutsch, Italienisch
  • Abmessung: 328mm x 246mm x 20mm
  • Gewicht: 1266g
  • ISBN-13: 9783888149559
  • ISBN-10: 388814955X
  • Artikelnr.: 09035450
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2001

Ihm träumt, es knackt der Flügeldaumen
Hühnergeiers Sturzflug: Leonardo da Vinci wirft seitenverkehrte Blicke auf die Vogelflugkunst

Es ist namentlich Sigmund Freud geschuldet, daß kein Geschöpf mit dem naturkundigen Künstler Leonardo da Vinci enger verbunden scheint als der Vogel. Freud hat die kunsthistorische Literatur im Jahr 1910 mit einer Deutung der - vom Künstler selbst überlieferten - "Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci" um die psychoanalytische Deutungsdimension bereichert. Leonardo berichtet in einer Marginalie: "Daß ich so genau über die Gabelweihe schreibe, muß mir vom Schicksal bestimmt sein, denn in der ersten Erinnerung aus meiner Kindheit schien es mir, als wäre, während ich in der Wiege lag, eine Gabelweihe zu mir gekommen und hätte mir mit ihrem Schwanz den Mund geöffnet und mich mit diesem Schwanz oftmals innen an die Lippen geschlagen."

Freud machte diese Passage zum Ausgangspunkt einer Fülle von Deutungsversuchen bezüglich der "Mona Lisa" und der "Anna Selbdritt" und spekulierte dabei über die künstlerische Bearbeitung emotionaler Abläufe. Daß Freuds Auslegung erheblich darunter leidet, daß er den italienischen Text falsch übersetzt hat, ist lange schon erkannt. Freud verwechselte Leonardos "nibbio" (Gabelweihe oder Hühnergeier) mit "avoltoio" (Geier): Dabei veranlaßte ihn die - korrekte - deutsche Übersetzung "Hühnergeier" dazu, in diesem Vogel eine Unterabteilung der Gattung Geier zu vermuten und ihn mithin als Verweis auf die ägyptische Muttergottheit zu deuten; damit wäre der Traum Ausdruck einer übertrieben zärtlichen Zuwendung der Mutter zu ihrem Sohn, was Leonardo, so Freuds Meinung, ebenso begehrenswert wie bedrohlich empfunden habe und in seinen Gemälden anschaulich werden ließ.

Die Kontroverse um Freuds kunstpsychologische Analyse ist bis heute nicht zur Ruhe gekommen, und der Geier - gelegentlich auch als männlicher Vogel mit der damit verbunden sexuellen Aktivität assoziiert - zieht noch immer seine Kreise. Klaus Herding ("Freuds Leonardo", München 1998) hat jüngst zu Recht unterstrichen, daß die von Freud aufgeworfenen Fragen weder ausgeschöpft noch beantwortet sind und daß Bedrohung und Sehnsucht durchaus als taugliche Umschreibungen für die eigentümliche Spannung in der Emotionsstruktur von Leonardos Bildern gelten können.

Vögel sind Leonardo gleichwohl nicht nur im Traum erschienen. Daß sich sein notorisch inniges Verhältnis zur Natur insgesamt namentlich in seiner Hinneigung zu Vögeln artikulierte, geht nicht zuletzt aus einer Anekdote Giorgio Vasaris hervor. Der merkt in seiner Vita des Künstlers an, dieser habe, wenn er auf Märkten Vögel feilgeboten sah, diese eigenhändig aus dem Käfig genommen, dem Händler den geforderten Preis gezahlt und sie dann in ihre verlorene Freiheit davonfliegen lassen.

Seine "Kindheitserinnerung" notierte Leonardo auf den oberen Rand eines Blattes des "Codex Atlanticus", der zahllose Anmerkungen zum Fliegen festhält. Aber nicht nur in dieser Handschrift hat Leonardo seine extensive Beschäftigung mit den Vögeln und deren Flug niedergelegt. Der Sache hat er ein eigenes, traktatähnliches Konvolut gewidmet, das auf rund achtzehn Blättern fast ausschließlich Beobachtungen und Notate zum Vogelflug, auch dem des Hühnergeiers festhält, der um 1500 in Mittelitalien heimisch war. Entstanden sind sie sämtlich noch zur Zeit seines Florentiner Aufenthalts (bis 1507) und gelangten nach Leonardos Tod in die Hände seines Schülers Francesco Melzi. Aus dessen Nachlaß wurden die einzelnen Blätter in alle Winde verstreut, um endlich, nach einer abenteuerlichen Odyssee, Ende des neunzehnten Jahrhunderts wieder vereint zu werden und in den Besitz des italienischen Königshauses zu gelangen. Seither wird der Kodex, der 1939 erstmals im Druck erschien, in der Biblioteca Reale in Turin aufbewahrt.

Auszugsweise und in einer Übersetzung machte ihn Hans Donalies im Jahr 1912 in der "Deutschen Luftfahrerzeitschrift" verfügbar. Marianne Schneider hat jetzt die erste integrale deutsche Übertragung besorgt, die dem altitalienischen Original und den faksimilierten Seiten des Manuskripts in einer attraktiven Edition gegenübergestellt ist.

In seinen Notizen, die keinen durchgängigen Text bilden, konzentriert sich Leonardo ganz auf die exakte Naturbeobachtung. So entdeckt und spekuliert er etwa über den "Flügeldaumen", jenen kleinen, der Flügelhand vorgelagerten Knochen, der dem Vogel, neben Schwanz und Flügel, zur Steuerung des Fluges dient. Das leicht zu übersehende anatomische Detail figuriert bereits im Falkenbuch Friedrich II. von Hohenstaufen (1212 bis 1250). Das freilich erschien erst 1596, so daß diese Beobachtung als genuine Erkenntnisleistung Leonardos gelten muß. Noch Gustav Lilienthal klagte um 1911 die Erforschung der genaueren Funktion dieser anatomischen Eigentümlichkeit ein.

Überhaupt hat sich die Luftfahrt immer wieder für Leonardo und den von ihm zur Grundlage der Flugkunst erhobenen Vogelflug interessiert. Die erst von Isaac Newton in seinen "Principia" zwei Jahrhunderte später kodifizierte "aerodynamische Reziprozität" scheint Leonardo intuitiv erfaßt zu haben. Und wenngleich ihm wiederholt die Befähigung zu abstrakter Theoriebildung abgesprochen wurde, ist gleichwohl unterstrichen worden, daß die Präzision seiner Beobachtungen, zumal seiner Zeichnungen, erst durch die photographischen Momentaufnahmen einzelner Flugphasen des Vogels überboten worden ist.

Die Textsegmente werden nahezu durchgängig von Skizzen glossiert. In ihnen bildet Leonardo die Vögel nicht naturgetreu ab, sondern reduziert sie auf einen Typus, der nur zur Veranschaulichung der Bewegung dient: des Schlag-, Schwebe- und Segelflugs, des Stehens und des Steuerns im Wind, wobei immer wieder das unverzichtbare Gleichgewicht zum Thema wird. Während Leonardo andernorts Bewegungsabläufe an der Wasseroberfläche skizziert, wo sie sich ja deutlich abzeichnen, war er hier gezwungen, die unsichtbaren Spuren von Dynamik und Verlauf in kräftigen Schraffuren anzudeuten. Dieses Denken und Argumentieren in Bildern flankiert einen Text, der sich meist auf die Konstruktion jenes mechanischen Vogels zu beziehen scheint, den Leonardo als Fluginstrument ersann und dessen künstliche Flügel in detaillierten Schemata erläutert werden.

Wenn Leonardo von der je eigenen Anmut spricht, die der Künstler in den Dingen zu entdecken habe, dann äußert sich darin kein ästhetisches Bekenntnis, sondern ein wissenschaftlicher Blick auf die einzelnen Teile und ihr wirksames Zusammenspiel. Er umschreibt damit auch den "impeto", den antreibenden und dann aufzubrauchenden Schwung, der die Kräfte antreibt, die nach Leonardo das System der Welt bewegen.

Im "Codex Atlanticus" hat Leonardo, angeregt vom Flügelschlag des Adlers, der ihn in höchste Lüfte trägt, darüber sinniert, daß "der Mensch, mit eigens dafür erdachten großen Flügeln die Luft, indem er ihrem Widerstand Kraft entgegensetzt und ihn so überwindet, unterjochen und sich über sie erheben kann". So haben die Vögel Leonardos Traum eben doch bewegt. Vielleicht nicht den privaten, sondern den von ihm für die Menschheit geträumten vom Fliegen. Auf Folio 16r, also gleich zu Beginn des nach seiner Art von hinten begonnenen und meist seitenverkehrt geschriebenen Texts, hat Leonardo ebenso knapp wie zuversichtlich auch den eigentlichen Hintersinn dieser Flugstudien fixiert: "Überredung zu dem Unterfangen, die jeden Einwand entkräftet."

ANDREAS BEYER

Leonardo da Vinci: "Der Vögel Flug/Sul volo degli uccelli". Deutsch/italienische Ausgabe. Herausgegeben von Marianne Schneider, Schirmer/Mosel, München Paris London 2000. 111 S., 40 Farbtafeln mit 174 Illustrationen, geb., 98,- DM

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Angezogen scheint der Rezensent Andreas Beyer durchaus von der von Marianne Schneider herausgegebenen und übersetzten "attraktiven Edition" von Leonardo da Vincis Überlegungen zum Vogelflug zu sein. Deutsche Übertragung, altitalienisches Original und ein Faksimile des Manuskripts bietet diese Ausgabe. Anlass genug jedenfalls für den Rezensenten, weit ausholend die Wirkungsgeschichte dieser Manuskripte bis hin zu Freud auszuführen. Vielleicht wollte uns der Rezensent so auf Umwegen mitteilen, dass das einzige, was dieser gelobten Ausgabe fehlt, ein von ihm verfasstes Vorwort ist. Wer weiß...

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