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Der Ruf nach einer 'Leitkultur' zeugt einmal mehr davon, wie mobilisierungsfähig der Wunsch nach vorgefertigten Leitbildern in der bundesrepublikanischen Gesellschaft noch ist. Das Buch von Richard Herzinger ist ein Plädoyer für das Wagnis einer offenen Gesellschaft ohne vorgeschriebene Werte und festgefügte Identitäten.

Produktbeschreibung
Der Ruf nach einer 'Leitkultur' zeugt einmal mehr davon, wie mobilisierungsfähig der Wunsch nach vorgefertigten Leitbildern in der bundesrepublikanischen Gesellschaft noch ist. Das Buch von Richard Herzinger ist ein Plädoyer für das Wagnis einer offenen Gesellschaft ohne vorgeschriebene Werte und festgefügte Identitäten.
Autorenporträt
Richard Herzinger wurde 1955 in Frankfurt am Main geboren. Nach der Promotion veröffentlichte er zahlreiche Essays zu Kultur, Politik und Literatur. Heute lebt er als Autor der 'Zeit' in Berlin. Zuletzt erschien sein viel beachtetes Buch 'Die Tyrannei des Gemeinsinns'.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2001

Nicht alles ist verhandelbar
Stärken und Schwächen einer modernen offenen Gesellschaft

Richard Herzinger: Republik ohne Mitte. Ein politischer Essay. Siedler Verlag, Berlin 2001. 191 Seiten, 18,- Euro.

"Die offene Gesellschaft ist kein vorgefertigtes Modell . . . Sie ist ein nie abschließbarer Prozeß ohne Garantie auf Gelingen. Ihre Substanz besteht nicht in ewig gültigen Wahrheiten, in die Völker, Nationen und Kontinente nach Hegelschem Muster dialektisch hineinwachsen könnten, um dann bei sich selbst angekommen zu sein. Die offene Gesellschaft ist nichts als das Bekenntnis zu einer offenbleibenden Frage: wie das gesellschaftliche Zusammenleben in größtmöglicher Selbstbestimmung aller Individuen unter Einhaltung eines zivilen Regelwerkes weitestgehend gerecht und friedlich zu organisieren sei. An die Stelle der Konzeption von Gesellschaft als einer an Übereinstimmung orientierten Wertegemeinschaft tritt die Praxis einer vereinbarungsorientierten Konfliktgesellschaft. Sie kann ihre Gemeinsamkeit nur im Erlernen des Umgangs mit der permanenten Nichtübereinstimmung finden . . . Pluralismus bedeutet eben nicht, daß am Ende des zugelassenen Streits doch wieder alle am gleichen Strang ziehen, sondern daß Gegensätze im aktiven Gegeneinander fortbestehen dürfen."

Dieses beliebig ausgewählte Zitat enthält die Grundthese des Essays, die Richard Herzinger in immer neuen Formulierungen wortgewandt und gedankenreich vor dem Leser ausbreitet. Niemand wird bestreiten, daß etwas Richtiges an der Behauptung ist, moderne Gesellschaften müßten weithin ohne vorgegebene Werte und unbefragte Identitäten auskommen. Tatsächlich formt sich der gemeinsame Identitätskern in permanenten Debatten ständig um. Aber es gibt eben, mehr oder weniger fest umrissen, diesen Kern hinter - oder unter - wechselnden Moden und Konjunkturen öffentlicher Debatten.

Wir wissen nicht erst seit dem 11. September, aber seit diesem beklemmenden Datum besonders klar, daß Herzingers These daher allenfalls partiell zutrifft. Vor eine existentielle Herausforderung gestellt - zumal wenn sie unsichtbar, daher zunächst unfaßbar, also besonders beängstigend ist wie die terroristischen Anschläge in New York und Washington -, wird eine offene Gesellschaft ohne alle vorgegebenen Werte und festgefügten Identitäten nicht weit kommen. Die Vereinigten Staaten haben daher nach dem 11. September Richard Herzingers These stark relativiert. Schon optisch waren die Massenversammlungen mit ihren Meeren von Sternenbannern außerordentlich eindrucksvoll, bewiesen sie doch einen breiten, selbstverständlichen Patriotismus.

Im Angesicht einer Bedrohung, die sich nach amerikanischer Überzeugung gegen jeden einzelnen richtet, verschwanden zeitweilig alle innenpolitischen Gegensätze. Die Einmütigkeit der Amerikaner zeigte sich nicht nur im allgemeinen Entsetzen über den Terror, sondern auch an der gemeinsamen Entschlossenheit, ihm unbedingt entgegenzutreten, ihn zu vernichten. Die Art und Weise, wie die Amerikaner mit der unerwarteten Herausforderung umgehen, beweist schlagend eine wortlose, kollektive Reaktionsfähigkeit und damit die Lebenskraft der Vereinigten Staaten. Dergleichen ist nicht selbstverständlich. Glaubt man Herzinger, ist eine solche spontane, gemeinsame Reaktion in einer modernen Gesellschaft unmöglich. Sie bleibt, folgt man ihm, unbegreiflich.

Das mag in Deutschland, das aber in dieser Hinsicht ein Sonderfall ist, so sein. Nur mit Bangen mag man sich vorstellen, wie die Bundesrepublik reagieren würde, wenn es einem vergleichbaren Anschlag ausgesetzt wäre. Schon vor vielen Jahren haben erst Dolf Sternberger, dann Jürgen Habermas vorgeschlagen, die deutsche Identität auf einen bloßen Verfassungspatriotismus zu gründen. Der Vorschlag war blutleer, blieb akademisch. Von anderen wurde Auschwitz als Fundament unserer Gesellschaft ins Gespräch gebracht. Für die Bewältigung einer ernsthaften Krise wird Auschwitz als rein negativer Anknüpfungspunkt, als Erinnerungsort von Schuld und Scham, aber ungeeignet sein. Es kann kaum dem Zusammenhalt des Landes positiv dienen, weil es keinen Raum bietet für entschlossenes Selbstgefühl, zupackende Aktivität. Natürlich gibt es eine deutsche Leitkultur, die uns Halt bieten könnte. Aber die verbreitete Angst im Umgang mit dem Begriff beweist die Brüchigkeit unserer Substanz - eine Schwäche, der Herzinger positive Seiten abzugewinnen versucht.

Eine Gesellschaft, in der alle politischen, sozialen und kulturellen Fragen als verhandelbar gelten, als Gegenstand bloß temporärer Vereinbarungen, wird sich einer ernsthaften Herausforderung nicht gewachsen zeigen. Alle großen Demokratien zehren von ihrem historisch gewachsenen Selbstbewußtsein. Italiener sind auch nach Jahrhunderten noch stolz, die Sprache Dantes zu sprechen. Engländer haben bis heute keine Hemmungen, Shakespeare für sich zu reklamieren. Warum zögern die Deutschen, sich in Goethe, in der Weimarer Klassik wiederzuerkennen? Wenn es solche Erinnerungsorte, nationale Haltepunkte der Selbstvergewisserung, in Deutschland nicht gibt, wenn wir kein Sinnzentrum haben, das die Gesellschaft unausgesprochen im Kern zusammenhält, wenn unser Zusammenleben tatsächlich substantiell so leer ist, wie Herzinger vermutet, kann man einer existentiellen Krise der Republik nur besorgt entgegensehen.

ARNULF BARING

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ein einziger Satz ist es, um den sich Uwe Justus Wenzel in seiner Rezension, ganz gegen die offenkundige Gewichtung des Autors, das räumt Wenzel selber ein, interpretatorisch bemüht. In diesem Satz geht es darum, dass gerade die "Präsenz" der substanziellen "Leerstelle" im Zentrum den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer liberalen Gesellschaft "gewährleistet". Der Rezensent ist hier skeptisch: hier droht, ganz gegen Herzingers Intention, die Schaffung einer neuen "Mitte" in der metaphysischen Überhöhung der "formellen" Spielregeln, deren bloße Formalität der Autor gerade zum entscheidenden Charakteristikum der liberalen Gesellschaft erklärt. Mit solchen Fragen liegt Wenzel, wie er selbst betont, neben der Spur dieses weniger philosophisch als tagespolitisch gemeinten Essays, dem es um die Verteidigung des Konsums und der Individualisierung geht: nur im Zulassen "kultureller Desintegration" scheint Herzinger "staatsbürgerliche Integration" noch möglich. Aber auch auf dieser Ebene ist der Rezensent angesichts der Ereignisse vom 11. September nicht restlos überzeugt.

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