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Die deutsche Ausgabe der Gefängnishefte ist ein unverzichtbares Kompendium für alle politisch, kulturell und philosophisch Interessierten, die an den zentralen emanzipatorischen Gedankenformationen des 20. Jahrhunderts partizipieren wollen.

Produktbeschreibung
Die deutsche Ausgabe der Gefängnishefte ist ein unverzichtbares Kompendium für alle politisch, kulturell und philosophisch Interessierten, die an den zentralen emanzipatorischen Gedankenformationen des 20. Jahrhunderts partizipieren wollen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.07.2000

Die offene Gesellschaft singt mehrstimmig
Die deutsche Gesamtausgabe der „Gefängnishefte” ist abgeschlossen – und man kann Antonio Gramsci neu entdecken
Sie kommen zur Unzeit. Welche Auflage hätten sie erzielen können in der antiautoritären Aufbruchstimmung der späten Sechziger, welches Interesse erfahren in den linksbewegten Siebzigern, als man vom „Eurokommunismus” träumte und händeringend Stichwortgeber suchte. Doch Antonio Gramscis Gefängnishefte waren nur in einem schmalen Auswahlbändchen erhältlich – jetzt endlich liegen sie in vollständiger Ausgabe vor. „Damals”, schreibt der Herausgeber Wolfgang Fritz Haug, wäre „das Erscheinen der Gefängnishefte eine öffentliche Sensation gewesen. ” Heute sind sie kaum mehr als „ein Geheimtipp für besonders Interessierte”.
In der Tat: In schönster geschichtlicher Ironie ist Gramsci, der wie kaum ein anderer die Verkrustungen des Alltagsverstandes aufzubrechen, das Denken in eingefahrenen Kategorien zu überwinden suchte, selbst ein Opfer leichtfertiger Katalogisierung geworden. Zehn Jahre nach dem Mauerfall liegt sein Werk auf dem Schutthaufen der ideologischen Hinterlassenschaften des Ostens, unbeachtet und vor allem ungelesen.
Verdient hat er das nicht. Denn nichts war Gramsci fremder als die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts. Orthodoxe Marxisten, schreibt Haug, hätten Gramsci von je als „unsicheren Kantonisten” betrachtet. Und dass er es auch in der DDR nie zu größerer Ehre als der eines Auswahlbandes brachte, dürfte auch ein solider Nachweis einer demokratischen Gesinnung sein.
Ein halbes Jahrhundert vor Lyotard läutete Gramsci den „Großen Erzählungen” die Totenglocke, praktizierte er jenen selbstreflexiven, gebrochenen Stil, der später zum ästhetisch-programmatischen Ideal der Postmoderne arrivierte. Gramscis Aufzeichnungen, so Haug in seiner Einleitung, bilden „formal ein Anti-Werk”. Aus zahllosen Perspektiven geht Gramsci seine Themen an, die Gefängnishefte sind mehr Skizzenbuch als geschlossene Theorie, eher essayistische Notizensammlung als strenges Lehrgebäude.
Aber wie könnte man anders schreiben in einer ausweglosen persönlichen Situation, in Jahren tiefster Einsamkeit und Isolation? 1926 verhaften Mussolinis Schergen den Abgeordneten Gramsci, Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Italiens, unter Missachtung seiner parlamentarischen Immunität; eine willfährige Justiz verurteilt ihn zu zwanzig Jahren Haft. „Ich bin”, schreibt er 1932 aus dem Gefängnis an seine Schwägerin Tatjana Schucht, „an einem solchen Punkt angelangt, dass meine Widerstandskräfte kurz vor dem Zusammenbruch stehen, ich weiß nicht, mit was für Konsequenzen. ” Trotzdem diszipliniert er sich, zwingt sich zu Lektüre und Produktivität. Aber die Kräfte schwinden, unaufhaltsam. 1934 kommt er auf Bewährung wieder frei, doch drei Jahre später stirbt der von Geburt an Kränkelnde an den Folgen seiner Haft.
Kursorische Erkundungen
Die Haftbedingungen forcieren zwar den fragmentarischen Entwurf – aber sie bedingen ihn nicht. In der Enge der Zelle übt Gramsci den Zweifel. „Jeder Lehrer ist immer auch Schüler, und jeder Schüler Lehrer”, notierte er im zehnten Heft, und schon zu Beginn des achten erinnerte er sich selbst an den „provisorischen Charakter” seiner Ausführungen: „Manche von ihnen könnten bei den weiteren Untersuchungen aufgegeben werden, und womöglich könnte sich die entgegengesetzte Behauptung als die richtige erweisen. ” Intellektuelle Redlichkeit ist der wohl vornehmste Charakter der Gefängnishefte – und der größte Hemmschuh für eine durchgehende Lektüre.
Angesichts der bisweilen chaotisch anmutenden – natürlich auch den begrenzten Lektüremöglichkeiten geschuldeten – Textgestaltung werden viele Leser das gewaltige Material bloß kursorisch erkunden. Mag sein, dass sie so den Kontext zerreißen, mag sein, dass sie, wie W. F. Haug warnend schreibt, „Passagen eines work in progress, das in ständiger Auseinandersetzung sich entwickelt, in Maximen einer scheinbar statischen Anschauung” verwandeln. Gerade eine solche eklektische Lektüre könnte freilich einen neuen, frischen Gramsci hervortreten lassen, einen Philosophen jenseits aller marxistischen Positionen – eine Chance, Gramsci so zu lesen, wie er sein Leben lang immer war: ein nüchterner Analytiker und Aufklärer, der anschreibt gegen die „Glaubensvorstellungen und Illusionen des Volkes”. Zu ihnen zählt er: „Glaube an die Gerechtigkeit, an die Gleichheit, an die Brüderlichkei”. Fromme Worte. Gramsci attackiert sie mit Sarkasmus, einem „positiven, schöpferischen, progressiven Sarkasmus” allerdings, gerichtet gegen den „Leichengestank, der durch die humanitäre Schminke des berufsmäßigen Vertreter der ,unsterblichen Prinzipien‘ dringt”.
Was immer den Häftling bewogen haben mag, den Begriff Marxismus durch die Formel „Philosophie der Praxis” zu ersetzen – die unerbittliche Schere des Zensors oder Distanz zur reinen Lehre –, aus heutiger Sicht erweist sich die Wortwahl als wahrer Glücksfall. Denn sie könnte ihren Autor davor bewahren, von seinen Exegeten in ein überkommenes politisches Vokabular gezwängt zu werden. Die Zeiten, in denen Feuilletonisten in Verbindung mit Gramscis Werk noch unbedarft von „unterdrückten Klassen”, „ausgebeuteten Arbeitern und Bauern” und „Bourgeoisie” schrieben, sind zwar längst vorbei – aber zumindest unterschwellig bestimmen solche Begriffe die Rezeption noch immer.
Man ist Konformist
Aber Gramsci war kein Ideologe. Wohl aber ein aufmerksamer Beobachter weltanschaulicher Konjunkturen. Und ein Moralist im klassischen Wortsinn. „Man ist Konformist irgendeines Konformismus”, notiert er lapidar, und das Weltbild der allermeisten Konformisten fand er „bizarr zusammengesetzt”: Archaisches und Modernstes auf engstem Raum beieinander, „Elemente des Höhlenmenschen” neben Prinzipien der „fortgeschrittensten Wissenschaft”.
Vielleicht gilt das heute noch mehr als damals. Aber in den zwanziger, dreißiger Jahren mischten sich die konfusen Weltbilder zu einem explosiven politischen Gebräu. In Italien hat Mussolini die Gesellschaft erobert, in Deutschland steht Hitler vor der Machtergreifung. Noch im Kerker nimmt Gramsci die Verrohung des allgemeinen Bewusstseins wahr. Aufmerksam beobachtet er die ausgeklügelten Mobilisierungstechniken der autoritären Regimes. Mit allen denkbaren Mitteln wirkt der Staat auf seine Bürger ein, durch unmittelbare Gewalt, aber auch über die Kirche, die Gewerkschaften, „die Bibliotheken, die Schulen, die Zirkel und Clubs verschiedener Art bis hin zur Architektur, zur Anlage der Straßen und der Straßennamen”. Es ist offensichtlich: Der Staat missbraucht seine Macht. Aber wäre es nicht auch denkbar, dass er ganz anders wirkt, nämlich „erzieherisch und bildend”?
Indem er dem Staat eine zumindest potentiell positive Rolle zugesteht, löst sich Gramsci vom marxistischen Ideologiebegriff, der nur in den Kategorien von Entfremdung und Verführung denken kann. Und mitten in der politischen Dämmerzeit Europas malt er sich die hellen demokratischen Verhältnisse der Zukunft aus – dann wird man die „Einfachen” zu einer „höheren Lebensauffassung” zu führen. Klug verzichtet er darauf, deren Wesen näher zu erläutern. Selbst wenn er Formeln anzubieten hätte – sie würden sich in reiner Form nicht durchsetzen. „Viele Systeme und Strömungen koexistieren miteinander. ” Die offene Gesellschaft singt immer mehrstimmig.
Trotzdem wirkt der Staat erzieherisch, auch heute noch: Gerade in diesen Wochen hat Gramscis Begriff der „Zivilgesellschaft” ganz unverhofft neue Beachtung gefunden. In Zeiten knapper Kassen wirbt der Staat für ein erneuertes bürgerliches Selbstverständnis. Trüge die Gesamtausgabe dazu bei, Gramsci nicht als Ideologen, sondern als Analytiker öffentlicher Debatten und zugleich als ihren fähigen Moderator vorzustellen, hätte sie ihren vornehmsten Zweck erfüllt.
KERSTEN KNIPP
ANTONIO GRAMSCI: Gefängnishefte. Hrsg. Peter Jehle, Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug unter Mitwirkung von Ruedi Graf. Bd 9: Heft 22–29, Argument Verlag, Hamburg 2000. 69 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.12.2000

Sein Stil mußte noch eleganter werden
Sozialistischer Realismus schulte sich am Märchen: Antonio Gramscis Gefängnishefte übersetzten den Marxismus in Mentalitätsgeschichte

Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat die intellektuelle Situation in Europa grundlegend verändert. Die kommunistische Ideologie ist desavouiert, Gesellschaftskritik indes keineswegs obsolet geworden. Angesichts der sozialen Konflikte im Kapitalismus hat sich das vorschnell verkündete "Ende der Geschichte" als Farce erwiesen. Befreit von den dogmatischen Fesseln des Marxismus-Leninismus, kann ein Autor "entdeckt" werden, der diesem angehört hatte, sich jedoch wie kaum einer seiner Mitstreiter von den ideologischen Zwängen gelöst hat: Antonio Gramsci.

Als Sohn eines niederen Finanzbeamten 1891 auf Sardinien geboren, studierte Gramsci in Turin Sprachwissenschaften und Jura. Nachdem er die Proteste der Bauern und sardischen Bergarbeiter verfolgt hatte, engagierte er sich in der sozialistischen Jugendbewegung Turins. Seit 1914 schrieb er politische Beiträge, Theaterkritiken und Notizen aus dem Alltagsleben für sozialistische Zeitungen. Zunächst begriff er sich eher als Anhänger des Philosophen Benedetto Croce; nach dem bolschewistischen Aufstand in Rußland wandte er sich der Rätebewegung zu und schlug die Gründung eines proletarischen Kulturbundes vor. Als Redakteur der Turiner Tageszeitung "Avanti" begründete er 1919 die sozialistische Kulturzeitschrift "L'ordine nuovo" und trat in die Leitung der Sozialistischen Partei Turins ein. 1921 nahm er am Parteitag in Livorno teil, auf dem sich die linke Fraktion von der Partei trennte und die Kommunistische Partei Italiens gründete, deren Generalsekretär Gramsci drei Jahre später wurde. 1922 ging er als Mitglied des Zentralkomitees zur Konferenz der Kommunistischen Internationale nach Moskau.

Dort hielt er sich ein halbes Jahr in einem Sanatorium auf, wo er seine zukünftige Frau Julia Schucht kennenlernte. Nachdem Mussolini mit seiner faschistischen Partei in Italien die Macht ergriffen hatte, wurde gegen Gramsci ein Haftbefehl erlassen. Vorübergehend als Verbindungsmann der Dritten Internationale in Wien tätig, ist er 1924 in das von Mussolini geduldete Parlament gewählt worden, so daß er zunächst noch parlamentarische Immunität genoß. Im November 1926 aber wurde Gramsci verhaftet und zunächst auf die Insel Ustica verbannt. Ein Mailänder Gericht verurteilte ihn zu über zwanzig Jahren Haft, und 1928 kam er in ein apulisches Gefängnis in Turi in der Nähe von Bari. Ohne ärztliche Versorgung und unter schweren Krankheiten leidend, begann Gramsci, von seinem Freund Piero Sraffa und seiner Schwägerin Tatjana Schucht mit Büchern und Zeitschriften versorgt, Aufzeichnungen, Exzerpte und Notizen anzufertigen, jene Gefängnishefte, an denen er bis 1935, solange es seine Gesundheit zuließ, arbeitete. Obgleich er 1933 in eine Klinik in Formia eingewiesen wurde, verschlechterte sich Gramscis Gesundheitszustand rapide. Im folgenden Jahr wurde er auf Bewährung freigelassen, so daß er 1935 in ein Krankenhaus in Rom überführt werden konnte. Im April 1937 aber, er hatte schon erste Vorkehrungen für eine Rückkehr nach Sardinien getroffen, ist Gramsci gestorben.

Nachdem Gramsci auf der Insel Ustica zusammen mit anderen politischen Verbannten historische und literarische Arbeitsgruppen organisiert hatte, entwarf er 1927 für die Zeit seines Gefängnisaufenthaltes einen ambitionierten Plan. Er war, wie er seiner Schwägerin in einem Brief schrieb, von der Idee besessen, etwas "für ewig", so seine auf deutsch gewählte Formulierung, zu schaffen. Er dachte an vier miteinander zusammenhängende Themen: erstens die Entstehung der italienischen Öffentlichkeit im neunzehnten Jahrhundert und den Wandel der Intellektuellen; zweitens die vergleichende Sprachwissenschaft, wobei er an Turiner Seminararbeiten anknüpfen konnte; drittens das Theater Pirandellos; und viertens das Phänomen des Trivialromans und den literarischen Geschmack der Masse.

Zwei Jahre aber dauerte es, bis ihm die notwendigen Arbeitsmittel gestattet wurden. Nun kamen Themen hinzu wie "Theorie der Geschichte und Geschichtsschreibung" und "Amerikanismus und Fordismus" oder "Erfahrungen des Gefängnislebens". Als Gramsci 1935 seine Arbeit abbrach, waren vier Hefte mit Übersetzungsübungen und neunundzwanzig Hefte mit Notizen, Exzerpten und Überlegungen zusammengekommen.

Die Editions- und Rezeptionsgeschichte dieser Gefängnishefte, die nun erstmals in einer mustergültigen kritischen Ausgabe vollständig auf deutsch vorliegen, ist nicht nur von der politischen Entwicklung der Nachkriegszeit geprägt, sondern auch davon abhängig, daß Gramsci die Politik der Dritten Internationale in den dreißiger Jahren nicht mehr mitgetragen und sich im Gefängnis immer mehr von der Kommunistischen Partei gelöst hatte. Dennoch wurde er unter seinem Nachfolger im Amt des Parteivorsitzes Palmiro Togliatti zur Galionsfigur des italienischen Kommunismus. Ende der vierziger Jahre hatte Togliatti eine nach thematischen Gesichtspunkten zusammengestellte sechsbändige Auswahl aus den Gefängnisheften herausgegeben, die zwar eine breite Rezeption der Texte ermöglichte, Gramsci andererseits aber als orthodoxen marxistisch-leninistischen Autor darstellte.

Der interpretatorische Trick bestand darin, daß unterstellt wurde, die dem Jargon des historischen Materialismus sich nicht fügende Sprache Gramscis sei eine Tarnsprache gewesen, der er sich bedient habe, um die Gefängniszensur zu hintergehen. Eine sehr vordergründige und nicht stichhaltige Argumentation, wie der Mitherausgeber der deutschen Ausgabe Wolfgang Fritz Haug im Vorwort zum sechsten Band schlüssig nachweist. Anfang der sechziger Jahre begann eine von Valentino Gerratana geleitete Arbeitsgruppe am Gramsci-Institut in Rom mit der Vorbereitung einer kritischen Ausgabe, die die Gefängnishefte vollständig und in der chronologischen Ordnung, in der Gramsci an ihnen gearbeitet hat, wiedergeben und Gramscis eigene Überarbeitungen - zahlreiche Abschnitte hatte er in stilistisch und begrifflich veränderten Versionen in neue Hefte übertragen - kenntlich machen sollte. Was diese 1975 vorgelegte vierbändige Edition darüber hinaus auszeichnet, ist der mit großer Sorgfalt und philologischer Präzision erstellte kritische Apparat, in dem auch der Zustand der einzelnen Hefte genau beschrieben ist und die Quellen Gramscis bibliographisch exakt nachgewiesen sind.

Diese Ausgabe bildet die Grundlage der deutschen Übersetzung der Gefängnishefte. Die Rezeptionsgeschichte in Deutschland ist gleichfalls vom politischen Kontext abhängig. In der DDR galt Gramsci zunächst als unsicherer Kantonist, lediglich eine kleine Auswahl aus den Briefen, die Gramsci im Gefängnis geschrieben hatte, und der Entwurf eines Essays über die süditalienische Frage konnten 1956 im Ost-Berliner Dietz-Verlag erscheinen. In Westdeutschland hing die Gramsci-Rezeption mit der politischen Entwicklung der Studentenbewegung zusammen. Maßgebend blieb über Jahre hinweg die von Christian Riechers übersetzte Auswahl, die er 1967 unter dem Titel "Philosophie der Praxis" im Fischer-Verlag herausgegeben hatte. Während Riechers Gramsci mit Mao in Verbindung brachte, wurde er in der seit 1980 auch in Ostdeutschland einsetzenden Gramsci-Rezeption in erster Linie als "Führer der revolutionären Arbeiterklasse Italiens" vorgeführt, der sich vornehmlich auf Lenin berufen habe. Diese marxistisch-leninistische Deutung Gramscis war auch in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien verbreitet. Nachträglich kann man dem Suhrkamp Verlag nur dankbar sein, daß er die für 1979 angekündigte vierbändige Ausgabe der Werke Gramscis nicht hat erscheinen lassen, hatte doch der als Herausgeber vorgesehene Alessandro Mazzone Gramsci als Leninisten interpretiert.

Befreit von den alten ideologischen Dogmen, gestatten die nun in vorbildlicher Edition auf deutsch vorliegenden Gefängnishefte einen unvoreingenommenen Blick auf das Werk Gramscis, das vor allem in fünf Aspekten eine frappierende Aktualität erhalten hat. Unübersehbar ist erstens, daß der von Gramsci immer wieder reflektierte Begriff der Zivilgesellschaft zu einem zentralen Schlagwort der politischen Sprache geworden ist. Auch wenn dieser Terminus in den Jargon von Politiker-Statements hinabzugleiten droht, kann er zu einem hilfreichen analytischen Konzept werden, wenn es darum geht, die Selbstorganisation der Gesellschaft und die politische Tätigkeit der Bürger zu untersuchen und von der Ebene des Staates begrifflich zu unterscheiden. Zweitens erlaubt es der von Gramsci entwickelte Begriff der kulturellen Hegemonie, präzise zu bestimmen, wer, wann und mit welchen Mitteln das intellektuelle Klima bestimmt. Wer die Begriffe besetzt und die öffentliche Meinung beherrscht, übt auch politische Führung aus - ein Mechanismus von Herrschaft, den Gramsci immer wieder und an unterschiedlichen historischen Phänomenen durchdacht hat.

Für die historische Semantik sind drittens die von Gramsci unter dem Titel "Enzyklopädische Begriffe" gesammelten Notizen aufschlußreich, und viertens kann die neue Kultur- und Alltagsgeschichte auf ein immenses Material in Gramscis Notizen zu Massenkultur, Folklore und Trivialromanen zurückgreifen. Fünftens schließlich ist die Frage, die für Gramsci seit seinen ersten Überlegungen im Gefängnis im Mittelpunkt seines Interesses stand, die Rolle und die Funktion der Intellektuellen, heute nicht zuletzt deshalb aktuell, weil nach dem Siegeszug der anthropologisch orientierten Kulturgeschichte offenbar geworden ist, daß Kultur auch in ihren politikgeschichtlichen Zusammenhängen und Politik umgekehrt in einem mentalitätsgeschichtlichen Sinn zu bedenken ist, mithin Ideengeschichte in einem neuen Sinn, eben als Geschichte der Intellektuellen, wiederkehrt.

Eröffnet wird die Gesamtausgabe mit einem kurzen Vorwort von Wolfgang Fritz Haug, das auch auf die deutsche Rezeptionsgeschichte und die Aktualität Gramscis eingeht, sowie mit einer Übersetzung jener Einleitung, die Valentino Gerratana zuerst für die kritische italienische Edition von 1975 geschrieben hatte. Gramsci sollte, wie der Mitherausgeber Klaus Bochmann in seiner editorischen Vorbemerkung hervorhebt, so nahe am Original wie dem deutschen Leser zumutbar übersetzt werden. Welche Schwierigkeiten eine angemessene Übersetzung Gramscis bereitete, stellt Haug auch im Vorwort zum sechsten Band dar, der die ausschließlich auf philosophische Fragen konzentrierten Hefte zehn und elf enthält und abweichend von der italienischen Edition einen eigenen Titel "Philosophie der Praxis" erhalten hat. Den Abschluß der neunbändigen deutschen Ausgabe bildet ein Nachwort des Mitübersetzers Peter Jehle, der noch einmal auf die Probleme eingeht, Gramscis Sprache ins Deutsche zu übertragen. Plausibel begründet Jehle darin auch, daß die Übersetzung jener Passagen, die Gramsci später überarbeitete, sich enger an den italienischen Sprachstil hält, während in der Übertragung der zweiten Fassungen "der Lesbarkeit mehr Rechte" einzuräumen waren. Wie sehr die Übersetzer ihre Arbeit durchdacht haben, macht nicht zuletzt Jehles Bemerkung deutlich, daß vieles, "was im Original im Unentschiedenen bleiben konnte", beim Übersetzen entschieden werden mußte.

Antonio Gramsci selbst hatte die Arbeit an seinem Projekt mit Übersetzungsübungen begonnen. Die in der italienischen Ausgabe der Gefängnishefte abgedruckten Übersetzungsbeispiele Gramscis konnten in die deutsche Ausgabe nicht übernommen werden. Bedauerlicherweise aber, dies sei abschließend notiert, fehlt die in der Einleitung angekündigte Beschreibung der Übersetzungen aus dem Deutschen. Zu hoffen ist, daß sie in dem angekündigten Registerband nachgeliefert wird. Nicht uninteressant mag für deutsche Leser der Hinweis sein, daß Gramsci einen großen Teil seiner Übersetzungsübungen den Märchen der Brüder Grimm gewidmet hatte.

ULRICH WYRWA

Antonio Gramsci: "Gefängnishefte". Kritische Gesamtausgabe auf der Grundlage der von Valentino Gerratana im Auftrag des Gramsci-Instituts besorgten Edition. Hrsg. vom Deutschen Gramsci-Projekt unter der wissenschaftlichen Leitung von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug. Aus dem Italienischen von Klaus Bochmann, Ruedi Graf, Wolfgang Fritz Haug, Peter Jehle, Gerhard Kuck, Joachim Meinert und Leonie Schroeder. Neun Bände. Argument-Verlag, Hamburg 1991-1999. 2249 S., 919 S. Anmerkungen, geb., Subskr.-Preis je Band 57,- DM, Einzelpreis 69,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

In gewisser Weise sind wir alle "Gramscianer", findet Rober Misik, der Rezensent dieser deutschen Fassung der 9-bändigen Gesamtausgabe von Gramscis Aufzeichnungskonvolut, das nur bedingt Werkcharakter hat. "Gramscianer" sind wir, weil wir heute einen Sinn haben für die Bedeutung, die neben der reinen Politik die Sphäre des Kulturellen und des Gesellschaftlichen für das Politische hat. Gramsci war der erste Marxist, der auf der Wirkmacht von "Institutionen, Traditionen und Konventionen" insistierte, der betonte, dass es für die Linke auf diesem Gebiet die Hegemonie zu erstreben gelte, wolle man eine Veränderung der (schlechten) Verhältnisse herbeiführen. Die Formel aus den Gefängnisheften: "Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft". Was man zur Überwindung der Ideologie braucht, sind "andere Erzählungen", die von den Intellektuellen zu liefern seien. Robert Misik findet Gramscis in den "Gefängnisheften" aufgeworfene Fragen nach der Gesellschaft, ihrem Konsens, der "Bedeutung der Tradition, der Intellektuellen, der Ideen in diesem Feld" auch und gerade heute für relevant und aktuell. Gepriesen wird der Argument Verlag, weil er mit der Herausgabe dieser Bände "das schlicht Notwendige getan hat."

© Perlentaucher Medien GmbH
"Gerade in diesen Wochen hat Gramscis Begriff der 'Zivilgesellschaft' ganz unverhofft neue Beachtung gefunden. In Zeiten knapper Kassen wirbt der Staat für ein erneuertes bürgerliches Selbstverständnis. Trüge die Gesamtausgabe dazu bei, Gramsci nicht als Ideologen, sondern als Analytiker öffentlicher Debatten und zugleich als ihren fähigen Moderator vorzustellen, hätte sie ihre vornehmste Aufgabe erfüllt." (Süddeutsche Zeitung vom 8./9. Juli 2000)