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Nach den militärischen Rückschlägen von Stalingrad und dem zunehmenden Bombenkrieg gegen die deutschen Städte wurde die Kriegslage im Jahr 1944 für die Deutschen immer aussichtsloser. Selbst die angeblich so effektive Propaganda Goebbels'; vermochte den Menschen kaum noch Siegeszuversicht zu vermitteln. In den Augen der Bevölkerung galten nur noch die Informationen von Wehrmachtssoldaten als glaubwürdig. Aus dieser Erkenntis heraus entstand eine Propagandaaktion von Wehrmacht und Reichspropagandaministerium: Frontsoldaten sollten die Menschen in den zerbombten Städten mit Parolen zum…mehr

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Produktbeschreibung
Nach den militärischen Rückschlägen von Stalingrad und dem zunehmenden Bombenkrieg gegen die deutschen Städte wurde die Kriegslage im Jahr 1944 für die Deutschen immer aussichtsloser. Selbst die angeblich so effektive Propaganda Goebbels'; vermochte den Menschen kaum noch Siegeszuversicht zu vermitteln. In den Augen der Bevölkerung galten nur noch die Informationen von Wehrmachtssoldaten als glaubwürdig. Aus dieser Erkenntis heraus entstand eine Propagandaaktion von Wehrmacht und Reichspropagandaministerium: Frontsoldaten sollten die Menschen in den zerbombten Städten mit Parolen zum Durchhalten animieren und zugleich Berichte über Meinungen und Stimmungen in der Bevölkerung aufzeichnen.
Der Band enthält Dokumente zur Organisation und Durchführung dieser Mundpropaganda-Aktion sowie die erhaltenen Stimmungsberichte aus den Städten Berlin, Nürnberg, Hamburg und Wien. Die Edition dieses Quellenbestandes beleuchtet einerseits die lange geleugnete Zusammenarbeit zwischen Wehrmacht undPartei und liefert andererseits einen für die letzte Kriegsphase ungewöhnlich umfangreichen und detaillierten Beitrag zur Sozialgeschichte des Krieges an der Heimatfront.
Autorenporträt
Wolfram Wette, geboren 1940, studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie, 1971 Dr. phil., 1991 Habilitation, 1971-1995 am Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) in Freiburg i. Br.; seit 1998 apl. Professor für Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Universität Freiburg i. Br.. Mitbegründer und mehrfach Sprecher des Arbeitskreises Historische Friedensforschung (AHF), Mitherausgeber der Reihe "Geschichte und Frieden" und des Jahrbuchs "für Historische Friedensforschung"
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2002

Berlin, im April 1945
Verdeckte Ermittlungen aufgedeckt: Die Wehrmacht spionierte bei Kriegsende in der Bevölkerung und bekam nur noch Spott zu hören / Von Götz Aly

Der Titel des Buches erweckt den Eindruck, als gehe es um die deutschen Zustände am Ende des Zweiten Weltkriegs. Davon kann keine Rede sein. Tatsächlich spielt der lesenswerte Band weit überwiegend in Berlin. Dokumentiert sind darin die Stimmungsberichte eines verdeckt arbeitenden Wehrmachtskommandos, das sich "Sondereinsatz Berlin" nannte. Sie umfassen den Zeitraum vom 10. Oktober 1944 bis zum 7. April 1945. Im Zusammenhang gelesen, bilden sie ein sozialgeschichtliches Heimatkundebuch im besten Sinn des Wortes.

Die Lage der deutschen Armeen war aussichtslos. Daher setzten die Meinungsmacher, Politiker und Militärs des NS-Staates auf das Mittel "Kraft durch Furcht". Sie behaupteten, der Feind wolle die Deutschen ausrotten, und gaben die Parole aus "Sieg oder Untergang". Erstmals richtete sich der Terror des Regimes in voller Breite gegen die eigene Bevölkerung. In dieser Lage entwickelte die Wehrmacht im Herbst 1944 eine "Mundpropaganda-Aktion" (MPA) - zum Zweck der Verbreitung von ausdrücklich so bezeichneten Lügengerüchten. Die dafür in Berlin eingesetzten 30 Soldaten und Unteroffiziere hatten jeweils zu zweit - der eine in Uniform, der andere in Zivil - Orte aufzusuchen, wo "sich die Bevölkerung als besonders aufgelockert und gesprächig erweist": in Markthallen, Luftschutzbunkern, Bierlokalen oder Menschenschlangen. Ihre Aufgabe bestand darin, "über Mißstände jeder Art, die beobachtet werden oder von denen gesprochen wird, wahrheitsgemäß und ungeschminkt zu berichten".

Gleichzeitig sollten die MPA-Soldaten die Gespräche lenken und ihre unwahren Propaganda-Erzählungen mit der Überzeugungskraft des Frontsoldaten ("Er muß es ja wissen") unter diejenigen Leute bringen, die der offiziellen Staatspropaganda jetzt mißtrauten. Beispielsweise sprach Joseph Goebbels in der Anfang April 1945 gezeigten Wochenschau im niederschlesischen Lauban davon, in den nächsten Tagen und Wochen würden die feindlich besetzten Gebiete befreit werden. "Stets bricht ein großes Hohngelächter aus", notierten die Wehrmachtsspitzel; über den Kulturfilm "Junges Volk", der die Tätigkeit von HJ und BdM "in schöner Form" zeigte, berichteten sie, er rufe regelmäßig Fußscharren hervor, Hüsteln und anzügliche Bemerkungen. In Berlin wurde die hoch geheime Spitzeltruppe von einem Oberstleutnant Wasserfall angeführt. Sie sollte die Bevölkerung nicht nur aushorchen und in ihrer Meinungsbildung beeinflussen, sondern zugleich als polizeilich-exekutive Hilfstruppe agieren. "Kleinmütige oder geschwätzige Menschen" waren von diesen Kommandos in "geeigneter Form zu belehren", aber "dort, wo Böswilligkeit erkennbar ist", so hieß es in der entsprechenden Weisung, "muß brutal zugepackt werden".

Nachdem die Preise bis in den September 1944 weitgehend stabil hatten gehalten werden können, entwickelte sich sprunghaft ein umfangreicher Schwarzhandel. Im Café "Landsberger Platz" kosteten vier Schnäpse satte 35 Reichsmark, abgegeben wurden sie nur an Stammgäste, und zwar in Coca-Cola-Flaschen. Eine Zigarette wurde auf dem Schwarzmarkt am Alexanderplatz für ein Pfund Brot oder 30 Gramm Fleisch getauscht. Die Ordner im Hochbunker Friedrichshain ließen sich gegen kleine Gaben gern dazu bewegen, günstige Plätze zuzuweisen. Wie immer in Zeiten der Mangelwirtschaft wurde das Personal im Distributionssektor frech: ". . . zwei Verkäuferinnen lasen kichernd Privatbriefe, obwohl eine längere Schlange von Hausfrauen dort nach Gemüse anstand." In der Schönhauser Allee benutzen "kochfaule Frauen" unberechtigterweise die Volksküchen; der einfache Berliner sorgte sich im Dezember 1944 um den Weihnachtsbaum; das Café "Alois" am Wittenbergplatz bevölkerten am hellichten Vormittag "angemalte, mit rot lackierten Fingernägeln versehene Dämchen", die dort "ständig kritische Bemerkungen" von sich gaben.

Die Führung hatte ihre traumwandlerische Sicherheit im Umgang mit den Massen eingebüßt. Zu den unmöglichsten Zeiten bedröhnte der Großdeutsche Rundfunk seine Hörer mit Bach, Bruckner und Wagner, während man "besonders nach Fliegerangriffen heitere und beschwingte Musik hören" wollte. Die einen fürchteten, daß Hitler tot sei, die anderen, daß es demnächst überhaupt keine Zigaretten mehr geben würde. Unter den Halbwüchsigen wurden Wehrmachtshosen modern, Jugendliche liefen zum Spaß mit Gasmasken herum und nähten Offiziersschulterstücke auf ihre Jacken. Eine "sogen. Deutsche Frau war eindeutig mit den Ausländern sehr intim" - "artvergessen" nannte der tüchtige Mehrheitsdeutsche solche Mitbürgerinnen. Immer wieder, bis in die letzten Tage des Krieges, beklagten sich die Berliner hundertfach, "daß in Berlin viel zu viele Ausländer" lebten, "sie hätten noch immer zuviel Freiheit, und man müßte sie endlich in Lagern unterbringen".

Am 1. März 1935 belauschten die Horcher von Oberstleutnant Wasserfall zwei Arbeiterinnen in Wedding: "Ich halte von dem ganzen Kram nichts mehr", sagte die eine und fuhr fort, "der Adolf soll doch aufhören, dann haben wir wenigstens noch ein paar Männekens aufgespart!" Die Kollegin dachte weniger praktisch, meinte "Unsinn" und appellierte an das Gemeinschaftsgefühl. Die Fabriken legten Feierschichten ein, weil es an Energie, Rohstoffen und zugelieferten Produkten fehlte. Die Stadt steckte voller Flüchtlinge, die alliierten Bomber veranstalteten ungestört eine Bombenabwurfschau, die Schüsse der Flak ließen sich an einer Hand abzählen.

Die Flüchtlinge aus den deutschen Ostprovinzen, die in diesen Tagen zu Hunderttausenden die Stadt passierten, berichteten zum Teil freundlich über die Russen. So seien in Landsberg/Warthe die russischen Panzerspitzen an ihnen vorbeigefahren, "hätten dann gehalten und Flüchtlinge auf Panzern mitgenommen", ähnlich Günstiges erzählten die Einwohner aus dem für kurze Zeit von der Wehrmacht zurückeroberten Jarotschin. In Tilsit waren die verängstigten Einwohnerinnen, die sich mit ihren Kindern in einer Kirche versammelt hatten, von russischen Lastautos in die Nähe der deutschen Linien gebracht worden ("So schlecht sind die Russen gar nicht").

Der Band läse sich noch besser, hätten die Herausgeber auf die geschwätzig-politisierende Bevormundung in den kommentierenden Anmerkungen verzichtet. Zum Beispiel klagte da ein Wehrmachtsspitzel, in der Gegend am Kurfürstendamm herrschte "Intellektualismus", und fuhr fort: "Weitaus dankbarer und befriedigender ist der Einsatz in reinen Arbeitergegenden." Wer durch einen solchen Satz vom geraden Weg antifaschistischer Korrektheit (Merke: Monopolkapital + braves, allenfalls verführtes Volk = Naziregime!) abzugleiten droht, kriegt am weltanschaulich geladenen Weidezaun der Fußnoten sofort einen Schlag verpaßt: "Vgl. dazu Werner, Bleib übrig!, der die These der zunehmenden Akzeptanz nationalsozialistischer Werte durch die Arbeiterschaft widerlegt." Wenn aber auf mehr als 200 Seiten einmal eine Deutsche zur Verteidigung eines Ausländers öffentlich bemerkt, man habe "durch die Polen- und Judenbehandlung" schon genug Schuld auf sich geladen, kommt umgehend die nationalpädagogisch wertvolle, aber unsinnige Anmerkung: "Signifikanter Hinweis darauf, daß die Verbrechen an Juden und Angehörigen anderer Länder der deutschen Bevölkerung bereits während des Krieges durchaus bekannt gewesen sind. Vgl. dazu Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker . . ." Entgegengesetzt fällt der Kommentar aus, wenn an anderer Stelle ein Wehrmachtsspitzel einen Reservepolizisten denunziert, der sowjetische Kriegsgefangene bei der Enttrümmerung bewachte und sie dabei mit "Kamerad" anredete. Man hüte sich, darin ein signifikantes Ereignis zu sehen, sofort belehren die Herausgeber: "Besonders die sowjetischen Kriegsgefangenen wurden von der Wehrmacht, aber auch von Zivilisten im allgemeinen schlecht behandelt."

Trotz solcher politpädagogischer Zudringlichkeit liest sich das Buch interessant. Es handelt von der für Deutschland blutigsten Phase des Zweiten Weltkriegs. In der Zeit vom Juli 1944 bis zum folgenden Mai starben insgesamt 2,3 Millionen Wehrmachtssoldaten, ebenso viele wie in den knapp fünf Kriegsjahren zuvor. Die größten Zerstörungen deutscher Städte wurden in diesen Monaten verursacht - von Königsberg bis Würzburg, von Hildesheim bis Dresden. Hunderttausende Menschen fanden bei Luftangriffen den Tod, acht Millionen wurden im Gebiet der heutigen Bundesrepublik obdachlos, von den vielen Millionen Flüchtlingen nicht zu reden. Schon zu Beginn des sogenannten Endkampfes hatte die Reichsregierung die bis dahin fast ungebrochene Massenunterstützung im August 1944 verloren. Der Indikator dafür steht zwar nicht in diesem Band, er ist aber eindeutig: Exakt vom August 1944 an trugen die Deutschen ihr überschüssiges Geld nicht mehr wie bis dahin treu und regimeergeben zur Sparkasse. Statt dessen horteten sie ihr Bargeld fast von einem Tag auf den anderen und zu Millionen gleichzeitig unter der Matratze.

Allerdings bedeutete die neue Skepsis gegenüber der eigenen, so lange unterstützten Führung nicht, daß sich das Volk von nun an dem Krieg verweigert hätte oder umstürzlerischen Ideen gefolgt wäre. Die meisten sahen - das wird in dem Band sehr deutlich - keine Alternative, hatten aus guten Gründen Angst vor der Niederlage und der feindlichen Besetzung. So sollten, mußten und wollten die Leute bis weit in den Februar 1945 hinein durchhalten, um die Katastrophe wenigstens nicht als Objekte über sich hereinbrechen zu lassen, sondern um sie kämpfend, aktiv herbeizuführen. Die Option "selbstbestimmter Untergang" wurde populär. Noch in der Rückschau sprachen die meisten Beteiligten nicht von der Niederlage, sondern vom "Zusammenbruch".

Doch im Februar fehlte es plötzlich - für die Berliner erstmals in diesem Krieg - an Vollmilch. Und exakt zu diesem Zeitpunkt begannen sie, Führerbilder und "Mein Kampf"-Ausgaben in aller Stille zu entsorgen. Gleichzeitig erließ der Berliner Oberbürgermeister Ludwig Steeg die Anordnung, sämtliche Akten "betr. Arisierung jüdischer Geschäfte" zu vernichten, "um diese nicht in die Hände der Russen fallen zu lassen". Die Soldaten zeigten sich niedergeschlagen und stumpf - "ja, wenn wir genügend Flieger und Sprit hätten, dann würden wir den Iwan schon zusammenhauen". Den Bestattungsinstituten gingen die Särge aus, statt dessen gab es Papiertüten.

In Wedding entlief Anfang April bei einem Bombenangriff der schwarze Zwergdackel "Bübchen" - "Gebe Klavier, Akkordeon, Wäsche oder Geld" für den Finder, plakatierte die traurige Besitzerin am Bahnhof Gesundbrunnen. "Der Herausgeber dieses Plakates dürfte wohl noch nicht gemerkt haben, daß es heute Dinge gibt, die wichtiger sind als das ,Bübchen'." Aber die Überwachungsschergen der Wehrmacht hatten verspielt. In ihrem letzten Bericht vom 10. April hieß es endlich: "Die Lage wird durchweg als aussichtslos bezeichnet. Und so hört man immer öfter, besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Die wenigen Menschen, die noch zum Guten reden, werden mitleidig oder spöttisch belächelt, heftig angegriffen oder - wie es in einem Bericht heißt - ,wie Wundertiere' angestarrt."

Wolfram Wette, Ricarda Bremer, Detlef Vogel (Hg.): Das letzte halbe Jahr. Stimmungsberichte der Wehrmachtspropaganda 1944/45. Klartext Verlag, Essen 2001. 249 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 29,90 Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.03.2002

„Die Stimmung ist gut”
Wie die deutsche Bevölkerung den Krieg ertrug
WOLFRAM WETTE, RICARDA BREMER, DETLEF VOGEL (Hrsg.): Das letzte halbe Jahr. Stimmungsberichte der Wehrmachtspropaganda 1944/45, Klartext Verlag, Essen 2001. 449 Seiten, 29,90 Euro.
Als die Alliierten die Bombardierung deutscher Städte verstärkten und ihre Armeen an allen Fronten vorrückten, startete das Reichspropagandaministerium in Kooperation mit der Wehrmacht eine „geheime Mundpropaganda-Aktion”: Frontsoldaten von „nationalsozialistischer Zuverlässigkeit”, möglichst kriegsversehrt, erhielten auf Grund ihres Ansehens in der Bevölkerung den Auftrag, das „Vertrauen in die Führung zu festigen und die Überzeugung zu erhärten, dass dieser Krieg um jeden Preis gewonnen werden muss”. Außerdem hatten diese Soldaten für die politische und die militärische Führung Berichte zu verfassen über die Haltung der Bevölkerung und über die allgemeine „Stimmung”. Und schließlich mussten sie über die von den „Volksgenossen” vorgebrachten „Missstände wahrheitsgemäß und ungeschminkt berichten”. Ausgewählt für die Aktion wurden Berlin, Nürnberg, Hamburg und Wien.
Am ergiebigsten und durchaus repräsentativ für die meisten deutschen Städte war der „Sondereinsatz Berlin”, der von Oktober 1944 bis April 1945 dauerte. Die Berichte dokumentieren erregend authentisch, was die Bevölkerung in den letzten Monaten des Krieges erduldete, besonders was die unteren Schichten bewegte, deren Viertel die NS-Propagandisten bevorzugt besuchten.
Die Menschen klagten vor allem über die unzureichende Lebensmittelzuteilung, die Knappheit aller Güter des täglichen Bedarfs, den Kohlenmangel und die Abschaltungen von Strom und Gas sowie die Überfüllung der Luftschutzbunker. Ihr Groll richtete sich gegen die „besser gestellten Kreise”, die bei der Versorgung begünstigt würden, und gegen die „feinen Leute des Westens mit Zentralheizung”, also gegen die sozialen Ungerechtigkeiten, die auch das NS-Regime, wie die Unterprivilegierten wohl erwartet hatten, nicht beseitigte. Nahezu jeder Bericht hält fest, dass auf „die Ausländer geschimpft” wurde, die „herumlungern und frech auftreten”. Des Öfteren ist von Deserteuren die Rede. Sie galten als „Drückeberger”, als „feige Elemente”. Dass sie erschossen oder erhängt wurden, fand Zustimmung.
Den Berichten zufolge herrschte unter den Berlinern eine „ruhige Zuversicht”, dass Deutschland den Krieg gewinnen werde. Auch Bürger, die Hitlers Diktatur ablehnten, glaubten, dass Deutschland militärisch angegriffen worden sei, und fühlten sich „verpflichtet, zum Vaterland zu stehen”. Die Haltung der Bevölkerung sei gut, hieß es denn auch häufig in den Aufzeichnungen.
Allerdings würde, so die Agenten des Regimes, immer nachdrücklicher nach dem Einsatz der von der Führung angekündigten „Wunderwaffe”gefragt, nach der „neuen Luftabwehr” und der „Gegenoffensive”. Da sich die Verhältnisse, zumal auch durch den Zustrom der Flüchtlinge aus dem Osten, dramatisch verschlechterten, musste zugegeben werden, dass die Berliner bedrückt seien.
Dass „keine staatsfeindlichen Bemerkungen” zu hören waren, wie die Berichterstatter betonten, ist verständlich, denn für die Gegner des NS- Regimes wäre es lebensgefährlich gewesen, ihre Meinungen frei zu äußern. Zu widersprechen ist der Anmerkung der Herausgeber, dass passiver Widerstand „als gängige Praxis in der Zeit des Nationalsozialismus” sich „nicht gegen das System als solches, sondern lediglich gegen einzelne Anordnungen oder Zustände gerichtet” habe. So gehörte gerade das von den Agenten gemeldete Abreißen und „Beschmieren” von Propagandaplakaten zu den freilich wenigen Möglichkeiten der NS-Gegner, passiven Widerstand zu leisten. Dass sich indes die Unmutsäußerungen über die Zustände nicht gegen das System richteten, wird kaum zu bestreiten sein. So wurde auch nicht bezweifelt, dass „der Führer das Beste” wolle. Noch im Februar 1945 rühmten die Berichterstatter die „vorbildliche Haltung” der Berliner nach Luftangriffen.
Inzwischen wurden aber auch Stimmen laut, die einen Sieg Deutschlands in Frage stellten und für die katastrophale Lage „die Partei” verantwortlich machten. Anfang April mussten die Agenten einräumen, dass bei „äußerlich meist gelassener Haltung die Stimmung der Berliner so ziemlich auf den Nullpunkt herabgesunken” sei und man sich frage: „Wozu das alles noch?”
Aus den von den Herausgebern hervorragend erläuterten und mit Literaturhinweisen versehenen Stimmungsberichten lässt sich unschwer schließen, dass es auch aktiven Widerstandskämpfern nicht gelungen wäre, das deutsche Volk zu einem Aufstand gegen das NS-Regime zu bewegen.
FREYAEISNER
Die Rezensentin ist Historikerin
in München.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Diese "hervorragend erläuterten" Stimmungsberichte dokumentieren laut Rezensentin Freya Eisner "erregend authentisch" Situation und Einstellungen vor allem der unteren Schichten der Berliner Bevölkerung von Oktober 1944 bis April 1945. Zugleich machen sie deutlich, dass eine Mobilisierung des deutschen Volkes gegen die Machthaber angesichts der vorherrschenden Kritiklosigkeit gegenüber dem Naziregime und der Überzeugung sich im Verteidigungskrieg zu befinden, auch für aktive Widerstandskämpfer aussichtslos gewesen wäre, schreibt Eisner. Die Aufzeichnungen stammen von linientreue Informanten, die neben ihrer propagandistischen Tätigkeit der politischen und militärischen Führung 'wahrheitsgemäß und ungeschminkt' über Nöte und Äußerungen der Bevölkerung zu berichten hatten, so Eisner.

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