Produktdetails
  • Internationaler Merve Diskurs (IMD) 227
  • Verlag: Merve
  • Seitenzahl: 112
  • Deutsch
  • Abmessung: 170mm x 120mm
  • Gewicht: 100g
  • ISBN-13: 9783883961590
  • ISBN-10: 3883961590
  • Artikelnr.: 08506482
Autorenporträt
Hannes Böhringer, geboren 1948 in Hilden bei Düsseldorf, ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Bildenden Künste Braunschweig. Gastprofessuren in Paris, Budapest und Madison (WI).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.2000

Fast getroffen
Hannes Böhringer will schlicht Kunst und Philosophie vereinen

Schluß mit der "différence", es lebe das "presque rien". "Fast nichts", das ist der unbenennbare kleine Unterschied, die winzige Abweichung, der der Berliner Philosoph Hannes Böhringer einen der Ankerbegriffe seiner "Suche nach Einfachheit" abgewinnt. Während die postmodernen Theoretiker um den Begriff der Differenz kreisen und so im Abschied von der Identität diese weiterhin voraussetzen, stellt Böhringer die Verschiebung als Tatsache dar, die nicht letztgültig zu erklären ist: "Der Punkt, fast nichts, ist der Durchgangspunkt vom Nichts zum Sein: Anfang." Anders als etwa Derrida geht er dabei von einer konkreten Basis aus: Nicht deduktiv, sondern induktiv, anhand einfacher Beispiele aus dem Bereich der modernen Kunst, demonstriert er, wie durch "fast nichts", eine minimale Intervention, "nothing special", entsteht, das dennoch Kunst ist - und nicht nur Kunst, sondern eine Erscheinungsweise der Realität schlechthin.

"Poetik" wird hier verstanden als Symbol für den Vermittlungsprozeß zwischen zeitgenössischer Konzeptkunst und Philosophie. Bereits in seinen früheren Schriften ("Begriffsfelder" 1985, "Moneten" 1990) hat Böhringer den künstlerischen Charakter der Philosophie ebenso herausgestrichen wie die reflexiven Qualitäten der Kunst: Sie ist "die Religion der Aufgeklärten und Gebildeten geworden, eine Religion ohne Unbedingtheit". Er bedient sich ihrer in dem quasihegelianischen Sinne, daß sie Wahrheit in sinnlicher Gestalt enthüllt.

Die Abweichung, die bereits für Roman Jakobson ein zentrales Konzept der Poetizität war, ist ein Instrument unserer Wahrnehmungsselektion. Wenn also Kunst für Böhringer eine Reduzierung vornehmen soll, wenn sie zu einer "Kultur der Einfachheit" zurückkehren und "von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen" absehen soll, dann könnte sie damit ein Exempel für unsere Denk- und Lebensakte im allgemeinen liefern. Andernfalls, wenn wir weiter den postmodernen Widerspruch mit seiner Entgegensetzung von Einfachheit und Komplexität aktualisieren, wird sich das Realitätstheater in immer neuen Varianten duplizieren und uns entgleiten; die Postmoderne nämlich ist "die überforderte Moderne".

Ein maßgeblicher Bezugspunkt in Böhringers Auseinandersetzung mit der Kunst ist Fluxus, die Avantgarde-Bewegung des hintergründigen Sinnspiels, der steten Balance zwischen Ja und Nein. Auch sein philosophisches Sprechen ist nicht eindeutig festzumachen, und das ist Vor- und Nachteil zugleich. Wir erfahren wenig von ihm über die postmoderne Binsenweisheit hinaus, daß eigentlich alles gleich gültig ist. Allenfalls weist er auf die Punkte, an denen sich die Antithesen und Wendungen ereignen, jene unscheinbaren Auslöser, die den Hebel umlegen von "Ja" zu "Nein". Läßt sich zur Zeit anderes über Vorgänge in der Welt aussagen? Offensichtlich ist das die reduzierte Position, das "nothing special", dem seine Unscheinbarkeit den eigentümlichen "Witz" verleiht.

Böhringer praktiziert einen suggestiven Denk- und Schreibstil, der sich in Assoziationen fortbewegt. Nahezu unbemerkt gelangt der Leser von einem Begriffsfeld zum nächsten und wird von dem Phänomen überrascht, das der Poptheoretiker Kodwo Eshdun mit der Formel "libidonize the brain" umschreibt. Der luftige Duktus macht vergessen, daß man am Ende beinahe so schlau ist wie zuvor. Man wird daher Leibniz zustimmen, dem Böhringer das Eingangszitat entlieh: Das Nichts ist halt einfacher und leichter als Etwas.

ENNO STAHL

Hannes Böhringer: "Auf der Suche nach Einfachheit". Eine Poetik. Merve-Verlag, Berlin 2000. 110 S., Abb., br., 18 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Zwar räumt Enno Stahl ein, dass man am Ende der Lektüre "beinahe so schlau ist wie zuvor". Dennoch hat er das Buch offenbar mit einigem Gewinn gelesen. Stahl erklärt dem Leser, dass es Böhringer vor allem um das `fast nichts` geht, um den `Durchgangspunkt vom Nichts zum Sein: Anfang`. Hier beginnt, wie der Leser erfährt, für Böhringer Kunst, was er denn auch "anhand einfacher Beispiele" deutlich mache. Insbesondere die Fluxus-Bewegung spielt nach Stahl hier eine bedeutende Rolle. Darüber hinaus zeigt sich der Rezensent fasziniert von Böhringers "suggestivem Denk- und Schreibstil, der sich in Assoziationen fortbewegt", was den Leser beinahe unmerklich in immer wieder neue "Begriffsfelder" leitet.

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