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Produktdetails
  • Verlag: Stroemfeld
  • Seitenzahl: 103
  • Deutsch
  • Abmessung: 200mm
  • Gewicht: 166g
  • ISBN-13: 9783878777960
  • ISBN-10: 3878777965
  • Artikelnr.: 22546060
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.03.2007

Den ersten Hunger stillt der Söhne Blut
Der bloße Anblick bleicht schon alle Wangen: Bilder und Texte zur Laokoon-Gruppe
Mit der Entdeckung der Marmor-Gruppe des Laokoon in Rom vor 500 Jahren gesellte sich zu den beiden Hauptmotiven des Mythos über den Priester als schamlosen Lüstling – er soll seine Kinder auf einem Altar gezeugt haben – sowie als weisen Warner vor dem Weihegeschenk des hölzernen Pferdes die neuzeitliche Auseinandersetzung mit dem Marmorwerk.
Die von Christoph Schmälzle herausgegebene und kundig eingeleitete Anthologie vereinigt 64 Texte, insbesondere zur Rezeptionsgeschichte. Eher kurze sind darunter, wie der sachliche Eintrag aus der Städtechronik von Raffaele Maffei über den epochalen Zufallsfund des römischen Bürgers Felice de Fredis in dessen Weinberg, aber auch ausführliche, wie Schillers Verse über Trojas Zerstörung, eine Vergil-Übersetzung.
Seufzer der Selbstbeherrschung
Der Reiz des Bändchens besteht darin, dass kanonische Aussagen von Plinius, Lessing und Winckelmann mit weniger bekannten Äußerungen in einen Dialog treten. So sah Sören Kierkegaard im Laokoon eine Metapher der dem ehelichen Leben wohl strukturell innewohnenden Fesselung. Dass gerade in Zeiten der deutschen Teilung der Laokoon bevorzugtes Referenzobjekt blieb, zeigt die Lessingpreisrede von Peter Weiss oder Johannes R. Bechers Gedicht „Laokoon”. Natürlich denkt man gerade aus deutscher Sicht bei Laokoon sogleich an Winckelmann und Lessing. Insbesondere die Deutung des geöffneten Mundes als selbstbeherrschtes Seufzen machte Furore, verstellte aber zugleich den Blick auf die Deutungsversuche der vorangegangenen zweieinhalb Jahrhunderte. Dabei waren Lessings Ideen zur textuellen und ikonischen Vermittlung so neu nicht, wenn man erfährt, dass schon Bartholomeo Marliani in seiner Rom-Topographie von 1544 in Anlehnung an Horaz medienspezifische Kunstzugänge zum Thema gemacht hatte. Eine Imitation nach Vergils Beschreibung sei für die Bildhauer nicht in Frage gekommen, weil „sie in vielem den Ohren, nicht aber den Augen entspricht und gefällt.”
Die Materialisierung des bisher vornehmlich literarisch und vereinzelt in Bildern greifbaren Laokoon-Stoffes stachelte zu einem Wettstreit der Künste an: Was kann das Bild zeigen, was das Wort nicht vermitteln kann und umgekehrt? Eine zentrale Rolle hatte in diesem Paragone schon das im Jahr 1506 entstandene Bildgedicht des Humanisten Jacopo Sadoleto gespielt, der im sterbenden Stein ein „schier atmendes Bildwerk” vernahm.
Goethe sollte an diesem Artefakt vorausschauende Gedanken zum bewegten Bild formulieren: „Um die Intention des Laokoons recht zu fassen, stelle man sich in gehöriger Entfernung, mit geschlossenen Augen, davor, man öffne sie und schließe sie sogleich wieder, so wird man den ganzen Marmor in Bewegung sehen.”
Eine Reihe von Romtouristen, wie Karl Philipp Moritz, legte Wert darauf, das Kunstwerk nachts bei Fackelschein in Augenschein zu nehmen, da sich im flackernden Licht die Marmoroberfläche verlebendigte: Die Adern schwollen an, die Muskeln hoben und senkten sich, unter der warmen Haut meinte man durchpulstes Fleisch wahrzunehmen.
Die dem spektakulären Skulpturenensemble inhärente cineastische Qualität steigerte Uwe Saeger in seinem 2002 erschienenen Roman „Laokoons Traum” bis zur Selbstzertrümmerung: „Die Skulptur zerbrach am Ort ihrer Verbringung infolge einer inneren Kompression, die aufgrund der Jahrhunderte andauernden Verspannung sich explosionsartig aufbrauchte.”
Schmälzles Auswahl entfaltet ein facettenreiches Bild der Laokoon-Rezeption. Der Archäologie-Diskurs des 19. Jahrhundert wird ebenso behandelt wie der Kanonisierungseifer in den Kunstakademien des Barock. Auch das konfessionelle Spannungsfeld, in der die Marmorgruppe von Anfang an stand, macht die Blütenlese nachvollziehbar. Weil antikenbegeisterte Päpste das Figuren-Ensemble vereinnahmten, verkörperte es auch den ästhetischen Primat der katholischen Kirche. Seine Aufstellung im Statuenhof der vatikanischen Belvedere-Villa verdeckte die Tatsache, dass sie dort gar nicht gefunden worden war.
Luther und die Märtyrer
August Strindberg ließ Martin Luther in die Rolle eines kunstfremden Augenzeugen schlüpfen. Als die restaurierte, mit Blumen geschmückte Laokoon-Figur in einer Prozession unter dem Klang der Kirchenglocken durch die Straßen Roms geführt wurde, musste der Reformator in diesem Statuen-Ensemble heilige Märtyrer vermuten. Tatsächlich sollte in der Kunsttheorie der Gegenreformation an der Laokoon-Gruppe eine Norm christlicher Märtyrerikonographie konstruiert werden. Höchstwahrscheinlich wäre so manches Werk, das den von Pfeilen durchbohrten Körper des heiligen Sebastian darstellt, ohne das Vorbild des Laokoons anders gestaltet worden.
Leider wird der Leser mit Text und Bild sehr allein gelassen. Vielleicht konstituiert aber gerade eine von Faktenballast unbeschwerte Einstellung, die die Konfrontation zwischen heute und damals sucht, einen Überraschungsraum von Assoziationen. STEFAN LAUBE
CHRISTOPH SCHMÄLZLE (HRSG.): Marmor in Bewegung. Ansichten der Laokoon-Gruppe. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main und Basel 2006. 103 Seiten, 14,80 Euro.
Frosch-Laokoon von Wilhelm Höpfner, 1939. Abb. aus dem bespr. Band
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Stefan Laube lobt die von Christoph Schmälze herausgegebene 64 Texte umfassende Anthologie zur berühmten Laokoon-Gruppe für die vielen Facetten, in denen vor allem die Rezeptionsgeschichte der antiken Plastik erhellt wird. Neben den berühmten Auseinandersetzungen mit der Laokoon-Gruppe beispielsweise von Winckelmann oder Lessing stehen Kierkegaards Interpretationen der Plastik als Verbildlichung der ehelichen Fesseln oder Strindbergs Text über eine Begegnung Luthers mit der Laokoon-Gruppe bei einer Prozession in Rom, wodurch die verschiedenen Texte in einen lebendigen "Dialog treten", freut sich Laube. Ein bisschen mehr Anleitung neben der kenntnisreichen Einleitung hätte sich der Rezensent mitunter zwar gewünscht. Doch ganz auf die Texte angewiesen kann der Leser seinen freien Assoziationen umso besser nachgeben und das führt zu so manchen Überraschungen, so Laube angetan.

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