Produktdetails
  • Verlag: Stroemfeld
  • Seitenzahl: 181
  • Abmessung: 200mm
  • Gewicht: 282g
  • ISBN-13: 9783878777779
  • ISBN-10: 3878777779
  • Artikelnr.: 10179916
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.04.2002

Sandgesäumt staunen die alten Bilder
Versuch einer strengen Übersetzung von Versen in die Sprache des Begriffs: Die „Celan-Provokationen” von Roland Reuß
Die vier Studien dieses Bändchens sind zum erstenmal vor zehn Jahren oder sogar noch etwas früher erschienen, lange vor John Felstiners Biographie (1995), lange vor Celans Gedichten aus dem Nachlaß (1997). Nun treten sie fast gleichzeitig an die Seite von „Paul Celan. Poetik der Fremdheit” (2000) und „Poésie contre poésie” (2001) von Jean Bollack sowie „Der Stein hinterm Aug” von Otto Pöggeler.
Obwohl seine Texte mit Anmerkungen gespickt sind, nimmt Roland Reuß nie Bezug auf neuere Auseinandersetzungen mit Paul Celan und seinem Werk. Auch die im August 2001 geschriebene Einleitung hält hauptsächlich die Widersacher von damals in Schach, die „holistischen Hermeneutiken der Tradition von Schleiermacher bis Gadamer”. Dessen Kommentar zu Celans „Atemkristall” erschien 1973. Gadamer hatte einen angeblichen Ratschlag Celans wohl zu sehr beim Wort genommen („Lesen Sie! Immerzu lesen, das Verständnis kommt von selbst”) und dabei nur an die Gedichte gedacht, wo man doch verstehen kann und nach Reuß verstehen muss, dass Celan dabei auch Lesestoff wie das Grimmsche Wörterbuch und Alfred Dückers „Die Windkanter des Norddeutschen Diluviums” mitgemeint haben könnte. Denn Celans Gedichte „setzen die Institution Bibliothek voraus”.
Gespräch in Versen
Gadamer hatte sich tatsächlich nicht gescheut zu erzählen, er habe „Atemkristall” „in einer Sandkuhle in den holländischen Dünen” gelesen – sein Freimut mag ihn ehren, aber für den Spott brauchte er dann nicht zu sorgen: Das „Begreifen in den Dünen” wird geradezu ein Emblem des „Antiintellektualismus”! Dagegen formuliert Reuß: „Interpretation ist Übersetzung poetischer Texte in die Sprache des Begriffs.” Er unternimmt dies, indem er sich an theoretische Äußerungen Celans wie an einen Mast bindet. Die letzte Studie – „Bemerkungen zum Ort von Celans Dichtungsbegriff” – sollte man darum zuerst lesen, denn sie führt in einer eingänglicheren Sprache als die drei Interpretationen in deren Methodik ein. Die zwei ersten Schritte („Zumutungen der Platzanweiser” - Celans Rezeption in der frühen Bundesrepublik, „Innenansichten” - Celans Reflexion über die Voraussetzungen des eigenen Schreibens) führen geradlinig zu m dritten: „Eine andere Sprechweise”.
Hier fällt der Grundbegriff, der für Roland Reuß den Weg zu seiner Interpretation von Celans Dichten weist: der Begriff des „Gesprächs” in der Büchner-Preis-Rede. „An dem Glauben, daß ein solches Gespräch tatsächlich wirklich werden kann, hängt der Begriff von Dichtung, den die Büchner-Preis- Rede entwickelt.” Dieser Absatz ist für die Position des Autors zentral, er stand wörtlich genau schon in der drei Jahre früher geschriebenen Studie „Rembrandts Celan”, welche das Büchlein eröffnet.
In engstem Zusammenhang mit dieser Vorstellung des realen, nicht metaphorisch zu verstehenden Gesprächs steht die andere Forderung, die der Autor in der Einleitung an die „Interpretation” stellt: „Die Sprache des Gedichts ist als Verssprache aktualisiertes Sprechen.” Er ist hier tatsächlich einer Qualität der Poesie Celans auf der Spur, die in den großen Debatten der nationalen und internationalen Celan-Forschung wenig Interesse und wohl noch weniger Verständnis gefunden hat. Aber nun schränkt er die Bedeutung dieses aktualisierten Sprechens ganz auf „Semantik” ein und behauptet, dass die „Nichtübereinstimmung von syntaktischer Ordnung und Ordnung des Verses semantische Relevanz hat”. Ein Beispiel: In dem schönen Vers „Schwimmhäute zwischen den Worten” möchte der Interpret „in dem Verhältniswort 'zwischen' eine erste solche 'Schwimmhaut' ausmachen”. Der Leser folgt ihm nur noch zögernd, hat er doch schon zuvor erkennen müssen, dass die Häufung von Rhythmen wie „ihr Zeithof - ein Tümpel” als ein metrisches Abbild jenes „zwischen”gehört werden kann, dass die betonte Silbe zwischen den beiden unbetonten also auch eine „Schwimmhaut” ist. Sind Metrik und Rhythmus wirklich ein Kapital, welches so bequeme semantische Zinsen abwirft? Man wird zugeben müssen, dass dies vorkommt – aber da hatte womöglich gerade nicht die Sternstunde der Poesie geschlagen.
Doch was Metrik und Rhythmus vermitteln, ist über Semantik hinaus der Anspruch eines Sprechens, dem im Zeitalter der Gott- und Götterferne keine natürliche Autorität mehr zuwächst, nur noch das Wagnis einer Hoffnung, welcher das mögliche Scheitern immer vor Augen steht.
Wie man an ausgeschiedenen und nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Gedichten Paul Celans sehen kann, war er ein überaus kritischer Leser seiner eigenen Gedichte. Vielleicht wird die Celan-Kritik, nachdem sie sich lange genug mit Verstehen und Begreifen abgearbeitet hat, ein Urteil wagen und fragen, was dieses oder jenes große Gedicht an den Abgrund des Scheiterns drängt. Die berühmte „Todesfuge” könnte dabei an der Spitze stehen. Wenn Celan, wie berichtet wird, später nur ungern sah, dass sie in Lesebüchern stand und in Feierstunden rezitiert wurde, hatte er vielleicht selber auch noch andere Gründe als den sehr berechtigten Widerstand gegen die „von den Agenten des Staates abgesegneten Lesebücher”. Vielleicht spürte gerade er trotz allem dabei den kalten Hauch von jenem Körnchen Wahrheit in Adornos Ausspruch über die Möglichkeit und Unmöglichkeit von Dichtung nach Auschwitz. Celans Verssprache muss für jeden Interpreten zu einem Gegenstand werden, der mehr verlangt als nur die Freilegung immer neuer Bedeutungsschichten. Die Übersetzung in die Sprache des Begriffs geschieht aber natürlich in den allermeisten Fällen auch bei Roland Reuß durch eine genaue semantische Analyse. Der Interpret darf hier voraussetzen, dass Celan selber solche Wanderungen durch Enzyklopädien und Wörterbücher gemacht hat, die dem Philologen nun Entdeckungen erlauben wie etwa die zum Wort „Einkanter” im Gedicht „Einkanter: Rembrandt”. Reuß- strenge Beschränkung auf den Text und die Sprache und der gleichzeitige Verzicht auf die Nutzung biographischer Anlässe ist hierbei bemerkenswert. Seit Peter Szondis Entschlüsselung eines Gedichts von Celan, an dessen biographischem Anlaß er selber beteiligt war, sind die Interpreten verunsichert: „Auch ohne das von Szondi abstrakt (vom Gedicht) erläuterte Hintergrundwissen ist das Gedicht einem möglichen Verstehen und Begreifen zugänglich.” Aber doch nicht ohne das Hintergrundwissen aus Büchern! Was Reuß entschlüsseln möchte, ist die Sprache und die öffentliche Welt, der sie angehört. Nirgend macht er den Versuch, Privates zu entschleiern.
Im Dickicht der Verbotstafeln
Der Titel des Büchleins „Im Zeithof” - ein Vers aus dem Gedicht „Schwimmhäute” - besteht auf Celans Anspruch, „der Daten eingedenk” zu bleiben. Und der Untertitel „Celan-Provokationen” stellt den Anspruch, jenes „Gespräch durch die Zeiten hindurch” zu führen, welches einmal durch das Gedicht begonnen worden ist. Die Doppeldeutigkeit des Untertitels ist darum treffend, denn er bedeutet zwar gewiss auch, dass Celan mit seinen Gedichten weiterhin provoziert, zugleich aber, dass Celan vom Interpreten provoziert wird. Die geduldigen Leseanstrengungen von Roland Reuß sind für den Celan- Leser so etwas wie ein gutes Beispiel bei seinem eigenen Versuch, sich von dieser Dichtung „als gemeint” zu erfahren. Mehrdeutigkeit ist diesem Vorgang wesentlich, und der Interpret erinnert oft daran. Trotzdem durchzieht seinen gesamten Text ein fremdartiger und, sagen wir's frei heraus, abstoßender Ton aus einer anderen Welt: aus der Konkurrenzwelt der Celan-Interpreten.
Der Leser kann darum leicht den Eindruck gewinnen, dass es nicht ungefährlich ist, Celan zu verstehen. Wird er sich nicht auch irgendwann einer jener interpretatorischen Verfehlungen schuldig machen, die hinter den vielen Verbotstafeln lauern? Was sich in diesem Buch nicht alles „verbietet”, „wahrgenommen werden will”, „naheliegt”! Da wird „man sich vor Vereinfachungen zu hüten”, „beiden möglichen Varianten nachzugehen haben”, da ist „die Lektüre aufgefordert”, etwas ist eine „krasse Unterbestimmung”, anderes einfach „barbarisch”. Und Achtung: „Die Interpretation ist am allerwenigsten die Aussprache dessen, was mir so anlässlich der Lektüre eines Textes durch den Kopf ging.”
Überrascht ist man freilich doch – und fast ein wenig neidisch –, was und wieviel ihm so durch den Kopf gegangen ist. Nur selten werden solche Gänge als Holzwege deklariert, und doch wäre das für den Leser genau so interessant wie die geduldige Verfolgung so vieler „zutreffender” Assoziationen. Einmal wehrt der Interpret eine gelehrte Beziehung auf Ovid ab – „sie dürfte kaum nachzuweisen sein”. Sind denn die zahlreichen etymologischen Aufschlüsselungen, die der Autor selber vornimmt, nachzuweisen? Wie die Bücher anderer Celan- Kenner leidet auch das Buch von Roland Reuß unter seiner unabweisbaren Kompetenz: sie verwandelt sich unter der Hand in Autorität. So besteht für den Leser die Gefahr, nicht in ein „Gespräch” verwickelt zu werden, sondern in eine Pflichtvorlesung. Der Autor ahnt das womöglich, und es scheint, als sehnte sich sein Buch nach einer anderen Sprache.
HANS-HERBERT RÄKEL
ROLAND REUSS: Im Zeithof. Celan-Provokationen. Stroemfeld Verlag, Frankfurt und Basel 2001. 181 Seiten, 12 Euro.
Passfoto von Paul Celan, 1955.
Foto: Deutsches
Literaturarchiv Marbach
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Tot ist er schon lange, doch still wird es um ihn immer noch nicht: In einer Sammelbesprechung hat sich Ernst Osterkamp neue Publikationen von und über Paul Celan vorgenommen. Wohl hinter vorgehaltener Hand lächelnd hat Ernst Osterkamp seine Kritik über "Im Zeithof", die im Stroemfeld Verlag erschienenen "Celan-Provokationen" (Untertitel) von Roland Reuß geschrieben, eines "Großmeisters des hohen Tons der priesterlichen Unterweisung", der in der Celan-Philologie nicht selten geworden sei. Zum einen ist der FAZ-Kritiker amüsiert ob der Reußschen Verbindung des Autoritativen ("Indes ist darauf zu insistieren") mit dem Vagen, Schwammigen. Andererseits die Forderung des Philologen, Celan nur mit einer gut sortierten Bibliothek im Rücken zu lesen. Der "natürliche Feind" von Reuß sei der "entspannte Leser, der bei der Lektüre von Gedichten mit nichts als seiner Bildung und seiner ästhetischen Sensibilität auszukommen meint". Immerhin lese man nach der Lektüre von Reuß' Band Gadamer "mit sehr viel größerem Gewinn": "Liegt der doch allen Ernstes in einer Sandkuhle in den holländischen Dünen und glaubt dort Celans 'Atemkristall' zu verstehen!"

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