Produktdetails
  • Verlag: Argon
  • ISBN-13: 9783870244996
  • ISBN-10: 3870244992
  • Artikelnr.: 10204038
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2002

Wenn der Vetter mit der Kusine
Evolutionsreport von Randal Keynes: Darwin nutzte seine Familie als faszinierendes Studienobjekt

Religiöse und politische Abweichler legten an der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert die Fundamente für Großbritanniens Wohlstand. Der radikale Unitarier Josiah Wedgewood gründete 1759 eine Porzellanmanufaktur, die bis heute besteht. Charles Darwins Großvater Erasmus schmiedete erotische Verse, unterstützte die Französische Revolution und sorgte mit seinem Sohn Robert medizinisch für das Wohlergehen der aufstrebenden Wedgewoods, was den Ärzten Darwin ebenfalls ein erhebliches Vermögen einbrachte.

Nicht nur politische und wirtschaftliche Interessen verbanden die in den West Counties ansässigen Darwins und Wedgewoods. Durch Eheschließungen wurden die Bande zusätzlich gestärkt. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bestanden schließlich vier Ehen zwischen Vettern und Kusinen die beiden wohlhabenden Familien, darunter auch die von Charles und Emma Darwin. Doch in einer Hinsicht standen diese Ehen unter einem ungünstigen Stern: vierzehn von sechsundzwanzig Kindern, die ihnen entstammten, starben früh oder hatten selbst keine Nachkommen. Auch Emma und Charles Darwin blieben von schweren Schicksalsschlägen nicht verschont.

Annies Schatulle ist ein Kästchen, in dem Charles' und Emmas erste, 1841 geborene Tochter ihre Schreibutensilien verwahrte. Annie starb im Alter von zehn Jahren, wahrscheinlich an den Folgen der Schwindsucht, im Beisein ihres Vaters in dem Heilbadeort Malvern. Der Tod des geliebten Kindes erschütterte Charles und Emma zutiefst. Die beiden versuchten auf je eigene Weise mit ihrer Trauer fertig zu werden. Charles Darwin schrieb bewegende Erinnerungen an seine Tochter, Emma sammelte Andenken aus Annies kurzem Leben und verwahrte sie in dem Schreibkästchen der Tochter. Randal Keynes, ein Ururenkel Darwins, stieß beim Durchsuchen von "Familien-Krimskrams" auf dieses Kästchen und verfolgte von nun an die Spur Annies in Briefen und Notizen.

Um aus diesem faszinierenden, aber doch recht kargen Material ein lohnenswertes Buch machen zu können, wendet Keynes, ehemaliger Beamter im britischen Verteidigungsministerium, einen Kunstgriff an: Er behauptet, Darwins Leben und sein wissenschaftliches Wirken seien aus einem Guß gewesen. In seiner Schilderung verwebt Keynes die Entwicklung von Darwins Denken über den Artenwandel, vor allem die Entstehung des Menschen, mit den persönlichen und familiären Erfahrungen des Naturforschers.

Der Autor schildert, wie Darwins ständig wachsende Familie ihn nicht nur als warmherzigen, liebevollen und außerordentlich duldsamen und nachsichtigen Vater erfuhr, sondern daß er in seinen Kindern auch faszinierende Studienobjekte vorfand: So sammelte er unter dem Titel "Naturgeschichte von Babys" in einem Notizheft seine Beobachtungen über das Verhalten des Nachwuchses. Doch damit gibt sich Randal Keynes noch nicht zufrieden: Annies Tod sowie die Einsicht in die Vergänglichkeit und Grausamkeit des menschlichen Lebens sollen Darwins Abwendung vom christlichen Glauben verständlich machen und seinem wissenschaftlichen Werk Einheit verleihen. Das Verhalten der Kinder und die Tatsache, daß auch sie der unnachsichtigen natürlichen Auslese ausgesetzt waren, ließen in ihm angeblich die Erkenntnis reifen, daß der Mensch auch nur ein Teil der Natur ist und ihren Gesetzen folgen muß.

Darwins Werk und sein Privatleben als eine Einheit zu betrachten bietet zweifellos einen reizvollen Deutungsrahmen. Darwins biologische Theorien standen unter dem Vorzeichen der sexuellen Reproduktion. Sie ermöglichte die Entstehung von Variation und hielt einen Vererbungsmechanismus bereit. In seinen frühen Notizbüchern betrachtete Darwin die Entstehung neuer Arten analog zur Entstehung von Nachwuchs. Sexualität bot jedoch nicht nur eine Analogie, sondern auch einen Mechanismus für den Artenwandel. Sexualität verursachte erbliche Variation und erlaubte gleichzeitig ihre Vererbung.

Darwins vielköpfige Familie war auch ein Experimentierfeld, um die Möglichkeiten und Folgen der sexuellen Fortpflanzung zu studieren - die Folgen von Ehen zwischen Vettern und Kusinen sind ihm nicht entgangen: Seine eigenen Krankheiten und die seiner Kinder illustrierten nur zu deutlich die Gefahren der Inzucht. 1871 drängte er seinen Nachbarn, den Bankier, Naturforscher und Abgeordneten John Lubbock, dazu, eine Gesetzesänderung einzubringen, damit bei der nächsten Volkszählung auch nach Ehen zwischen Kusinen und Vettern gefragt werden konnte. Kurzum, auch sein ganz privates Umfeld diente ihm als Quelle für den Einblick in die Bedeutung der sexuellen Fortpflanzung für den Wandel in der Natur.

Randal Keynes' Beharren auf der Evolution des Menschen, auf Darwins Verhältnis zu seinen Kindern und schließlich auf die Rolle des Glaubens gibt seinem Buch eine narrative und logische Geschlossenheit, ist aber auch ein wenig künstlich und chronologisch nicht immer konsistent. Gerade Darwins Verhältnis zum Christentum ist oft nur durch widersprüchliche Zitate aus dessen notorisch unzuverlässiger Autobiographie zu belegen und deshalb keineswegs so einfach zu interpretieren, wie Keynes es immer wieder unternimmt. Wann und in welchem Maß Darwin sich tatsächlich vom Glauben abwandte, muß offenbleiben. Das Zeugnisse, die seine Notizbücher und Briefe enthalten, sind weitaus weniger eindeutig, als Keynes uns glauben machen will. Sie bieten eine ziemlich unerschöpfliches Arsenal an Formulierungen, die je nach Bedarf eine frühe Distanzierung oder eine lebenslange Gläubigkeit suggerieren.

Grundlegend Neues zur Entwicklung von Darwins wissenschaftlichem Denken bietet Randal Keynes also nicht. Er erschließt jedoch auf eine einfühlsame Weise Aspekte von Darwins Leben, die in den meisten Biographien zu kurz kommen. "Annies Schatulle" vervollständigt das Lebensbild: Neben Darwin, den liberal gesinnten Vertreter des Frühkapitalismus, wie er in Adrian Desmonds und John Moores meisterhafter, auch auf deutsch vorliegender Darwin-Biographie geschildert wird, tritt der aufmerksame, liebevolle Familienvater, der in der Tradition seines unkonventionellen Großvaters Erasmus und seines Großonkels Josiah Wedgewood Rousseaus und Pestalozzis Erziehungsmethoden in die Praxis umzusetzen versuchte. Indem Keynes diese Aspekte in den Vordergrund rückt, schafft er ein Korrektiv gegen das Verdikt, die Evolutionslehre müsse unbarmherzig sein, weil ihr Begründer ein rücksichtloser Kapitalist war, der letztlich nur die in der Natur beobachtbaren Konkurrenzmechanismen auf den Menschen übertrug.

THOMAS WEBER.

Randal Keynes: "Annies Schatulle". Charles Darwin, seine Tochter und die menschliche Evolution. Aus dem Englischen von Elvira Willems. Argon Verlag, Berlin 2002. 400 S., 30 Abb., geb., 24,90 [Euro]

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Die Annie des Titels ist eine mit zehn Jahren verstorbene Tochter Charles Darwins - und mit dem Inhalt der Schatulle, in der sich Erinnerungen an ihr Leben finden, präsentiert der Autor ein Porträt seines Ururgroßvaters Charles Darwin "im Kreise seiner Familie". Vor allem bedeutet das, ihn als großen Beobachter nicht nur der Tier- sondern auch der Menschenwelt kennenzulernen, insbesondere seiner Kinder. Trotz dieses wissenschaftlichen Interesses war er, wie der Rezensent Reinhard Kaiser nach der Lektüre des Buches versichert, "ein liebevoller Vater", der sich durch "Sympathie mit dem Kummer" immer wieder von der rein objektiven Aufmerksamkeit abbringen ließ. Der Band ist geprägt, so Reinhard Kaiser, von einer erfreulichen "Weitschweifigkeit", die auch Darwins Kinder in den Blick rückt und nicht zuletzt deshalb nie zu Langeweile führt, weil die gleichfalls wunderbare Selbstbeschreiber ihres Alltags waren.

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