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»Berlin ist verliebt in das Neue«, schreibt Anselm(a) Heine 1908 im Berlin-Führer »Ich weiß Bescheid in Berlin«. Diese Liebe zum Neuen artikuliert sich nicht nur in der Faszination für alles Elektrische - in den Augen ausländischer Besucher gilt Berlin um diese Zeit als »electrically the most important city« -, sondern auch in der raschen Übernahme aller 'fads and fashions', vom 'cakewalk' bis zum »Körperformen«- (sprich: 'bodybuilding') Wettbewerb, dessen erster Sieger 1912 öffentlich gekürt wird. Diese allseitige Modernität, die unter anderem in der dem Berliner zugeschriebenen…mehr

Produktbeschreibung
»Berlin ist verliebt in das Neue«, schreibt Anselm(a) Heine 1908 im Berlin-Führer »Ich weiß Bescheid in Berlin«. Diese Liebe zum Neuen artikuliert sich nicht nur in der Faszination für alles Elektrische - in den Augen ausländischer Besucher gilt Berlin um diese Zeit als »electrically the most important city« -, sondern auch in der raschen Übernahme aller 'fads and fashions', vom 'cakewalk' bis zum »Körperformen«- (sprich: 'bodybuilding') Wettbewerb, dessen erster Sieger 1912 öffentlich gekürt wird. Diese allseitige Modernität, die unter anderem in der dem Berliner zugeschriebenen »Telefonierwut« zum Ausdruck kommt - Brecht kann angeblich nur schreiben, wenn das Telefon oft läutet -, macht Berlin in den Augen des Kulturhistorikers Wilhelm Hausenstein zur absoluten, nichts als modernen Stadt. Kein Wunder, dass der Berliner in den Augen der Zeitgenossen als der Großstadtmensch schlechthin gilt: sachlich, gegenwärtig und stets erpicht aufs Neue.Im rückhaltlosen Bekenntnis zur Kulturindustrie ist die Besonderheit der Berliner Moderne im europäischen Vergleich zu sehen. Dieses Bekenntnis wird auch von der künstlerischen Avantgarde geteilt, die nicht nur die Gestaltungsmittel der Moderne für massenkulturelle Zwecke, etwa in der Schaufensterkunst, einsetzt, sondern auch die Prinzipien der Massenkünste wie das Revueformat oder den Schlager für ihre Zwecke anwendet.Es ist diese Gleichzeitigkeit von Stadt und Mensch, die Einheit von technischem und mentalem Wandel, die in den Vorstellungen der Zeitgenossen, ob bewundert oder verpönt, den Charakter Berlins und der Berliner ausmacht.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2017

So lebt man in der Menschenwerkstatt

Sei wachsam und gleichgültig: Rolf Lindner erinnert an die Zeit, in der Berlin noch nicht von Großstadtprovinzlern besiedelt war.

Die Berliner Sensation 1925 war das "Erbsenfenster" im Kaufhaus Wertheim an der Leipziger Straße. Im Schaufenster stand eine mit Erbsen gefüllte Riesenflasche, und wer die richtige Zahl der Erbsen erriet, konnte einen Apollo-Sportwagen, einen Ibach-Flügel oder ein Appartment gewinnen. Solche Herausforderungen appellierten nicht an Herkunft, Bildung und Benimm, sondern an Wachsamkeit, Verstand und Rechenhaftigkeit. Das war charakteristisch für das neue Gattungswesen namens "Großstädter", das prototypisch in Berlin um 1900 heranwuchs.

Mit Dutzenden solcher Begebenheiten, geschöpft aus den schönsten Quellen der zeitgenössischen Wissenschaft, Literatur und Publizistik, schildert der Berliner Kultursoziologe Rolf Lindner den Gärungsprozess in der "Menschenwerkstatt Berlin" (Heinrich Mann). Die deutsche Hauptstadt, die der Baedecker 1908 mangels historisch-architektonischer Substanz als "die größte rein moderne Stadt in Europa" beschrieb, war - anders als Paris oder London - ein grund- und voraussetzungsloses Riesengebilde, das die totale Gleichzeitigkeit von technischem und mentalem Wandel entfesselte.

Im Gegensatz zu den Theoriegespinsten der heutigen Kulturwissenschaft zeichnet sich die Berlin-Schrift des passionierten Empirikers Rolf Lindner nicht allein durch historisches Wissen und Gegenstandsnähe, sondern vor allem durch Liebe zu seinem Thema aus. Seine kleine Anthropologie der jungen und traditionslosen Kolonialstadt an der Spree fragt nach den Voraussetzungen und Auswirkungen der inneren und äußeren Urbanisierung von Bewohnern und Stadt oder, mit den Worten Georg Simmels, nach der "Steigerung des Nervenlebens" im Wechselspiel von subjektiver und objektiver Kultur.

Um große Menschenmassen in Bahnhöfen, Warenhäusern, Lunaparks oder Mietshäusern zu ertragen, mussten die Städter neue psychologische Überlebenstechniken entwickeln, die der umstrittene Bevölkerungsbiologe Willy Hellpach auf die brillante Gegensatzformel "sensuelle Vigilanz" und "emotionale Indifferenz" brachte. Wer die Vertrauenswürdigkeit von Fremden besser einschätzen wollte, las Taschenbuch-Ausgaben von Lavaters Physiognomie. Nach dem Verlust vormoderner Eindeutigkeiten, so Lindner, mussten die Leute wieder soziale Bestimmtheiten erkennen. Dafür sensibilisierten sie sich für Äußerlichkeiten, um zu Spurenlesern von Kleidungs- und Verhaltenscodes in der Nachfolge Balzacs zu werden.

Kein Wunder, dass die Bildsoziologie von August Sanders' fotografischer Typenlehre höchstes Lob von Döblin, Benjamin und Tucholsky erntete, die darin Orientierungswissen für Gruppenzugehörigkeiten fanden. Aber wenn das Abwehrvermögen gegen Lärm zu schwach wurde, griffen die Großstädter zur Erfindung des Berliner Drogisten Maximilian Negwer namens "Ohropax". Das Leben in der Großstadt musste von Kindesbeinen auf gelernt werden, weshalb Berliner Schulen 1902 Verkehrsunterricht einführten. Wenn Berufs-Eignungstests die optisch-akustische Simultanwahrnehmung maßen, nutzte die neue Wissenschaft der Psychotechnik ähnliche Reiz-Reaktions-Muster von Klingel-, Summ- und Lichtreizen, wie die Leute sie von Hupen, Sirenen und Ampeln auf der Straße kannten.

Als Haupttugenden der inneren Urbanisierung Berlins nennt Lindner "Sinneswachheit, Souveränität, Gelassenheit", die ihr objektives Echo dann in der äußeren Urbanisierung von Stadt, Kulturindustrie und Populärmoderne fanden. Berlin war um 1900 die größte Industriestadt Europas und Weltmarktführer in der Elektrotechnik. So gab sich die Stadt einem Licht- und Elektrizitätskult hin, ließ tausend künstliche Sonnen in der Nacht aufgehen und illuminierte Schaufenster wie Theaterbühnen, auf denen dann Künstler-Dekorateure wie Behrens, Endell, Osthaus oder Kiesler ihre Waren-Inszenierungen aufführten. Das Leben in der Nacht galt als Vollendung der Urbanität, weshalb Kurt Weill zur Berliner "Lichtwoche" 1928 seinen Song "Berlin im Licht" beisteuerte. Und wer auf sich hielt, hing rund um die Uhr am Telefon: Mit 50 000 Anschlüssen besaß Berlin bereits 1900 so viele private Telefone wie damals ganz Frankreich.

Parallel zur industriellen Serienfertigung wuchs Berlin auch zur Hauptstadt der vorgefertigten Mode-Konfektion heran, ersetzte die "Probiermamsels" durch "Mannequins" und machte die Saison-Mode in Kinos und Revuen zum Objekt der Massenbegierde. Begeistert von der neuen Sachlichkeit der Reklameästhetik, arbeiteten Brecht, Bronnen, Kästner, Remarque und Ringelnatz als Werbetexter, weil sie, so Linder, diese Worte der Großstadt als Textgattung der Moderne sahen. Die Trennung von Kunst und Populärkultur war aufgehoben und die ganze Stadt zu einem "Erlebnisraum mit kinematographischer Qualität" geworden.

Das zeichnet das Party- und Reiseziel Berlin bis heute aus, nur die urbanen Tugenden der eingeborenen Berliner scheinen stark geschwächt: Neuerdings gerieren sich viele wie Großstadtprovinzler und begegnen allem, was mit Rollkoffern und Rucksäcken durch die Stadt zieht, mit lautstarker Aversion. So vermittelt Lindner nebenbei die Erkenntnis, dass früher doch nicht alles schlechter war.

MICHAEL MÖNNINGER.

Rolf Lindner: "Berlin, absolute Stadt". Eine kleine Anthropologie der großen Stadt.

Kadmos Verlag, Berlin 2016. 157 S., zahlr. Abb., br., 22,50 [Euro].

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