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In zwei Ländern würde er nie auftreten, soll Arthur Rubinstein einmal gesagt haben, und zwar in Tibet und in Deutschland. Gefragt, weshalb gerade diese beiden, antwortete der Pianist, Tibet sei zu hoch, Deutschland zu niedrig. Für viele Juden und Israelis blieb Deutschland Jahre lang der schwarze Fleck auf der Karte. Fast ein halbes Jahrhundert später haben jüdische Solisten, aus Israel und der ganzen Welt, längst einen markanten Platz im deutschen Musikbetrieb eingenommen. Haben sich die Beziehungen zwischen Juden und Deutschen "normalisiert"? Oder erleben wir eine Renaissance der…mehr

Produktbeschreibung
In zwei Ländern würde er nie auftreten, soll Arthur Rubinstein einmal gesagt haben, und zwar in Tibet und in Deutschland. Gefragt, weshalb gerade diese beiden, antwortete der Pianist, Tibet sei zu hoch, Deutschland zu niedrig. Für viele Juden und Israelis blieb Deutschland Jahre lang der schwarze Fleck auf der Karte. Fast ein halbes Jahrhundert später haben jüdische Solisten, aus Israel und der ganzen Welt, längst einen markanten Platz im deutschen Musikbetrieb eingenommen. Haben sich die Beziehungen zwischen Juden und Deutschen "normalisiert"? Oder erleben wir eine Renaissance der deutsch-jüdischen Musikkultur vor 1933? Anat Feinberg hat sich auf Erkundungsreise gemacht: Neben prominenten Dirigenten wie Michael Gielen, Kurt Sanderling, Eliahu Inbal und Adam Fischer stellten sich auch Solisten, Orchestermitglieder, Opernsänger sowie Musikpädagogen den oft unbequemen Fragen. Ein ungewöhnlicher Blick hinter die Kulissen des deutschen Musikbetriebs. Vor allem aber stehen Lebensgeschichten im Mittelpunkt, denen trotz denkbar größter Unterschiede eines gemeinsam ist: ihr Reichtum an biographischer und musikalischer Erfahrung.
Autorenporträt
Anat Feinberg, Honorarprofessorin
für hebräische und
jüdische Literatur an der
Hochschule für Jüdische
Studien Heidelberg. Zahlreiche
Veröffentlichungen zur
hebräischen Literatur und
zum Theater. Zuletzt »Nachklänge.
Jüdische Musiker in
Deutschland nach 1945«
(2005) und »Moderne hebräische
Literatur. Ein Handbuch
« (edition text + kritik,
2005).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2005

Sie bringen neue Töne in das Land der Täter
Anat Feinbergs Gespräche mit jüdischen Musikern, die nach 1945 in Deutschland leben
„Ich lasse mir nicht die Ermordung meiner Eltern bezahlen”, sagt der Dirigent Konrad Latte unmissverständlich. Er wollte 1945 keine Fragebögen ausfüllen, schon gar nicht, als der Beamte des Arbeitsamtes Hamm ihn beschied: „Sie sollten froh sein, dass Sie in die Volksgemeinschaft aufgenommen werden!” Latte lehnte eine Position im Bergbau ab, korrepetierte stattdessen an der Düsseldorfer Oper, später an der Berliner Staatsoper. Dann ging Latte mit seiner Frau nach Cottbus, bis er es in der DDR nicht mehr aushielt. 1953 gründete er in Westberlin das Berliner Barockorchester, das unter seiner Leitung bis 1997 erfolgreich musizierte. Latte stammte aus Breslau, seine Familie war assimiliert. Mit den Nürnberger Rassegesetzen wurde es für die Lattes immer schwieriger, die Schwester Gabi starb an dem Scharlach, den der Vater aus Buchenwald mitbrachte. Die Eltern wurden deportiert und in Auschwitz ermordet. Konrad Latte überlebte, ständig vom Tode bedroht, unerkannt in Berlin, von Freunden und Widerständlern unterstützt.
Dies ist eine jener Lebens- und Überlebensgeschichten, die Anat Feinberg im Gespräch mit jüdischen Musikern erfahren hat, als sie nach dem Leben dieser Menschen in Deutschland nach 1945 fragte. Feinberg lehrt hebräische und jüdische Literatur an der Universität Heidelberg. Im Großen und Ganzen sind es fünf Komplexe, denen Feinberg in ihren Gesprächen nachforscht: Herkunft und Ausbildung; jüdisch-religiöse Traditionen in der Elternfamilie und später im eigenen Leben; Antisemitismuserfahrungen in der Bundesrepublik; Verhältnis zu Israel; Heimat. Bei Violinisten stellt sie noch das Phänomen der Vielzahl überragender jüdischer Geiger zur Debatte.
Die Interviews sind nun in dem sehr lesenswerten Buch „Nachklänge” erschienen. Feinberg nimmt damit jene Spur auf, die sich vor der Nazizeit unübersehbar durch das deutsche Musikleben zog, das ohne die vielfältige Verflechtung jüdischer Musiker in Ausübung und Lehre überhaupt nicht in jener bis heute überragenden Qualität denkbar gewesen wäre. Die Vertreibung, wo nicht Vernichtung der jüdisch-deutschen Kultur durch die Nazis bedeutete eine zuletzt unheilbare Zerstörung jahrzehnteweit über 1945 hinaus. In deutschen Musikhochschulen, in Ensembles, auf Solistenpodien und an Dirigentenpulten herrschte da oft der mediokre Geist von Kriegsgewinnlern, die nun die Plätze der Hinausgeworfenen, Verjagten oder Ermordeten einnahmen.
Rabbiner oder Dirigent?
Arthur Rubinstein, Jascha Heifetz oder Gregor Piatigorsky spielten nach 1933 nie wieder in Deutschland, Isaac Stern kam erst 1999, kurz vor seinem Tod, als Lehrer zu einem Kammermusikkurs nach Köln. Vom unbeirrbaren Menschenfreund Yehudi Menuhin abgesehen, der zum Entsetzen jüdischer Kollegen und Freunde sofort nach dem Krieg wieder in Deutschland spielte, kehrten immerhin die großen Geiger Mischa Elman und Nathan Milstein Mitte der sechziger Jahre auf deutsche Podien zurück, Vladimir Horowitz erschien in den achtziger Jahren am Ende seiner Karriere. Eigentlich ist es unglaublich, dass sich überhaupt einige entschlossen, ins Nachkriegsdeutschland zurückzukehren und sogar im Land der Täter zu leben.
Wer aber denkt, es könnte der Generation nach den Holocaust-Überlebenden leichter fallen, sich hier niederzulassen, wird in diesen aufschlussreichen Gesprächen eines anderen belehrt. So erzählt die in München lebende Pianistin Yaara Tal, gebürtige Israelin, dass ihr Vater bis zu seinem Tode nicht den Namen ihres deutschen Klavier- und Lebenspartners Andreas Groethuysen über die Lippen brachte. Oder Helene Schneiderman aus den USA, gefeierte Kammersängerin der Stuttgarter Oper, schildert den schmerzhaften Schock ihrer Eltern, als sie hören mussten, die Tochter habe sich in einen deutschen Juden verliebt. Ähnlich erging es Eliahu Inbal, aus einer tiefreligiösen israelischen Familie stammend, die von ihm erwartete, Rabbiner zu werden, nicht aber ein bekannter Dirigent. Als er eine Deutsche heiratete und hier blieb, traf er bei seinen Verwandten und Bekannten anfangs nur auf Unverständnis.
Dennoch haben diese Künstler ihren Entschluss nicht bereut. Sie preisen das einzigartig reiche deutsche Musikleben, der ungarische Dirigent Adam Fischer, in Hamburg lebend und Feinbergs Untersuchung sehr skeptisch gegenüberstehend, nennt Deutschland sogar das „absolute Zentrum der Opernwelt”.
Die Begegnung mit Europa und speziell Deutschland begann bei den meisten Jüngeren bereits im Elternhaus und setzte sich in der Ausbildung fort. Viele der Lehrer waren Juden und kamen aus Mitteleuropa, lebten im deutschsprachigen Raum oder begannen dort die Laufbahn. Sie gaben viel von ihren künstlerischen Urerfahrungen an die Schüler weiter.
Die Fragen nach jüdischen Traditionen in den Familien, der Feier religiöser Festtage und dem Besuch der Synagoge finden differenzierte Antworten. Es gibt fest im jüdischen Glauben Verwurzelte. Aber der Doyen der großen Dirigenten, der 93-jährige Kurt Sanderling, war beispielsweise nie Mitglied der jüdischen Gemeinde und außerdem „ein Ungläubiger”, der sich stets zuerst als Deutscher gefühlt hat. Sein Kollege Michael Gielen hat sogar so gut wie nie am jüdischen Gemeindeleben teilgenommen. Von antisemitischen Erfahrungen im heutigen Deutschland können die meisten nicht viel erzählen, da in Künstlermilieus solche Ressentiments seltener vorkommen.
Die komplizierte Situation Israels weckt bei manchen Trauer und Ohnmacht über die schier unlösbar verkeilten Verhältnisse, manche halten Scharons Politik für grundfalsch, andere erläutern, wie Israel ihnen Selbstbewusstsein und Stolz vermittelt hat. Insgesamt schält sich aus der Fülle der Schicksale, Werdegänge und Lebenswege jenes Zentrum heraus, in dem sich alle treffen und das den Kern jedes Einzelnen bildet ob als Lebensinhalt, als Heimat, als Rettung oder als Beruf: die Musik.
HARALD EGGEBRECHT
ANAT FEINBERG: Nachklänge. Jüdische Musiker in Deutschland nach 1945.
Philo Verlag Berlin Wien 2005. 280 Seiten, 24 Euro.
„Ein Ungläubiger”: Der Dirigent Kurt Sanderling
Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Wunderbare Künstlerporträts seien Annat Feinberg bei einigen der dreizehn Interviews gelungen, lobt Rezensent Ulrich Teusch und findet alle interessant. Die Fragen entsprächen zwar grundsätzlich einem vorgegebenen Schema, doch zeige sich die Gesprächsführung von Annat Feinberg stets flexibel für "spontane" Richtungsänderungen. Geordnet, so der Rezensent, seien die Interviews nach dem Alter der jüdischen Musiker, wobei der jüngste der 1963 geborene Pianist Jascha Nestow sei. Die große Zeit eines jüdisch bereicherten Musiklebens in Deutschland möge zwar vorbei sein, resümiert Feinberg, doch gäben die von Annat Feinberg aufgezeichneten Erfahrungen jüdischer Musiker zumindest Anlass für ein wenig Hoffnung.

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