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Familiäre, wissenschaftliche und gesellschaftliche Formen der Erinnerung an den Nationalsozialismus stehen in einem engen wechselseitigen Verhältnis zueinander. Der Sammelband bündelt mit 34 Beiträgen eine fünfjährige intensive Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Täterschaft und ihren Folgen. Die ersten drei Kapitel stellen internationale Forschungsergebnisse zur Diskussion, in den folgenden zwei Themenblöcken präsentieren Kinder und Enkel von Täterinnen und Tätern ihre Sicht auf die Folgewirkungen in Familie und Gesellschaft. Der als DVD beiliegende Film "Nationalsozialistische…mehr

Produktbeschreibung
Familiäre, wissenschaftliche und gesellschaftliche Formen der Erinnerung an den Nationalsozialismus stehen in einem engen wechselseitigen Verhältnis zueinander. Der Sammelband bündelt mit 34 Beiträgen eine fünfjährige intensive Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Täterschaft und ihren Folgen. Die ersten drei Kapitel stellen internationale Forschungsergebnisse zur Diskussion, in den folgenden zwei Themenblöcken präsentieren Kinder und Enkel von Täterinnen und Tätern ihre Sicht auf die Folgewirkungen in Familie und Gesellschaft. Der als DVD beiliegende Film "Nationalsozialistische Täterschaft in der eigenen Familie. Erinnerungsberichte der zweiten und dritten Generation" versammelt zehn filmische Porträts, in denen Nachkommen von NS-Täterinnen und Tätern über ihre Auseinandersetzung mit Täterschaft in der Familie und deren Auswirkungen auf ihr eigenes Leben berichten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2016

Mordende Verwaltung
Die Täter des Holocausts: Rund 200 000 bis 250 000 Deutsche und Österreicher

Seit der sogenannten Goldhagen-Kontroverse (1996), in deren Verlauf der amerikanische Politologe Daniel Jonah Goldhagen "ganz gewöhnliche Deutsche" und deren "eliminatorischen Antisemitismus" für die Judenmorde im Zweiten Weltkrieg verantwortlich machte, rückt die differenzierte Täterforschung immer mehr in den Mittelpunkt der Holocaust-Forschung. Nach diversen Monographien liegt jetzt ein umfangreicher Sammelband vor, der die Ergebnisse von Konferenzen mit Historikern, NS-Verfolgten und Nachkommen der NS-Täter bündelt.

Impulse kamen von der Tagung "Täterschaften. Akteure des Terrors und ihre Opfer", veranstaltet von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Kooperation mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg sowie von der internationalen Tagung "Der Umgang mit nationalsozialistischer Täterschaft in den Familien von TäterInnen und NS-Verfolgten nach 1945". Unter den 170 Teilnehmern befanden sich Wissenschaftler aus ganz Europa und den Vereinigten Staaten. Bei dieser Gelegenheit trafen Kinder und Enkel von hohen Nazis - etwa von Hans Frank, dem Generalgouverneur und "Schlächter von Polen", und von SA-Obergruppenführer Hanns Ludin, der als deutscher Gesandter in Bratislava (Pressburg) mitverantwortlich war für die Deportation der slowakischen Juden - auf die Kinder und Enkel von Holocaust-Überlebenden.

In seiner Einleitung erläutert der Herausgeber Oliver von Wrochem die Grundthese des Sammelbandes: Das öffentliche, gesellschaftliche und das familiale Erinnern an den Nationalsozialismus stünden in einem Wechselverhältnis zueinander. Dabei werden viele Zeitgenossen immer wieder mit Widersprüchen im Kontext der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen konfrontiert: "Und nicht selten sind wissenschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Formen der Auseinandersetzungen mit Täterschaft durch familiengeschichtliche Dimensionen verflochten."

Grundlegend und zugleich wegweisend ist der Beitrag des Historikers Frank Bajohr über die neuere Täterforschung. Entgegen früheren Schätzungen mit überschaubaren Zahlen gehen die neuesten Befunde von rund 200 000 bis 250 000 deutschen und österreichischen Tätern des Holocausts aus. Hinzuzufügen ist noch eine große Zahl ausländischer Kollaborateure, darunter insbesondere Litauer, Letten und Ukrainer, die in Hilfspolizei-Formation unmittelbar an den Tötungen mitwirkten. Bei den Mordaktionen war nicht nur die SS in den Konzentrations- und Vernichtungslagern beteiligt, sondern auch der weitverzweigte gesamte SS- und Polizei-Apparat. Dazu gehörten neben dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei (Gestapo und Kripo) und des SD ebenso wie die Ordnungspolizei, die insgesamt über eine Million Juden und Kommunisten durch Exekutionen und mit Hilfe mobiler Gaswagen in den besetzten Ostgebieten ermordeten.

Schlüsselpositionen im RSHA und bei den Einsatzkommandos besetzte die Alterskohorte der um die Jahrhundertwende geborenen Generation, die den Ersten Weltkrieg zwar als Jugendliche erlebt hatte, aber nicht mehr oder nur kurzfristig zum militärischen Einsatz gekommen war. Diese Kriegsjugendgeneration einte die Erfahrung des verlorenen Krieges und der politisch-sozialen Umwälzungen nach 1918 ebenso wie die Furcht vor einer ungesicherten beruflichen Zukunft. Die vermeintliche Schuld an dieser Entwicklung gaben sie vornehmlich den Juden und Sozialisten. Ihr aufgestauter Tatendrang führte sie über völkisch-antisemitische Bünde zu den Keimzellen des militanten Nationalsozialismus.

Besonders ambitionierte Jungakademiker traten der SS und Polizei bei, die bevorzugte Einstellung und beruflichen Aufstieg ermöglichten. Der neue Typus der SS- und Polizeiführer verstand sich ganz im Sinne Reinhard Heydrichs als "politischer Soldat und Kämpfer" ("Wandlungen unseres Kampfes", 1935). "Nicht die klassische Verwaltung, sondern die ,kämpfende Verwaltung' galt als Ideal." Auf Beachtung und Beförderung durfte hoffen, wer als "Draufgänger" jenseits des Schreibtisches agierte und sich in seinem Handeln nicht durch Recht und Gesetz hindern ließ. "Diese Entgrenzung der Handlungspraxis ging mit ungeahnten Karrieremöglichkeiten einher und eröffnete ehrgeizigen jungen Männern Machtpositionen, in die sie qua Lebensalter und Qualifikation normalerweise niemals gekommen wären. Auf diese Weise beförderte die institutionell determinierte Handlungspraxis eine Radikalisierungsspirale, die für die Eskalation der Mordpraxis und das Handeln der Täter konstitutiv war."

Ohne den Krieg, der den Tätern rechtlich unbegrenzte Handlungsmöglichkeiten verschaffte und spezifische Bedingungen schuf, die im zivilen Leben undenkbar waren, wäre eine vergleichbare Eskalation von Gewalt und Vernichtung nicht möglich gewesen. Der Krieg und die ihm zugrundeliegenden Feindbilder schufen, so Bajohr in seiner Bilanz, "einen spezifischen Referenzrahmen des Verhaltens und konfrontierten die Akteure mit Rollenerwartungen, denen sich die Mehrheit der Täter reibungslos anpasste".

Gerhard Paul analysiert mit Blick auf Adolf Eichmann und Rudolf Höß (Lagerkommandant von Auschwitz) die Wandlungen der Bilder von männlichen NS-Tätern in der bundesrepublikanischen Gesellschaft und Wissenschaft. Dietrich Kuhlbrodt, ehemaliger Staatsanwalt bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, erläutert, mit welchen politischen und gesellschaftlichen Widerständen die juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen konfrontiert war. Elissa Mailänder fragt nach relevanten Verbindungen zwischen weiblicher Täterschaft und nationalsozialistischer Ideologie. Am Beispiel der Fernsehsendung "Unsere Mütter, unsere Väter" problematisiert sie die Wahrnehmung dieser Täterschaft in Wissenschaft und Gesellschaft.

Das zweite Kapitel ("Bildung und Gesellschaft") enthält Beiträge, die verschiedene Ansätze und Perspektiven der Beschäftigung mit NS-Täterschaft präsentieren. Oliver von Wrochem berichtet über die Arbeit mit Nachkommen von NS-Tätern an Gedenkstätten und die Kluft zwischen öffentlichem Gedenken und privater Erinnerung. Uta George beschreibt Bildungsangebote der Gedenkstätte Hadamar für Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, in denen es um "Euthanasie"-Verbrechen geht und um das Lebensrecht von Menschen mit Behinderungen.

Das dritte Kapitel gibt eine Podiumsdiskussion zwischen Niklas Frank, Malte Ludin, Alexandra Senfft und Horst Ohde über Motive und Formen der Konfrontation mit Täterschaft in der eigenen Familie wieder. Im vierten und fünften Kapitel werden Erfahrungen mit der Täterschaft der Eltern und Großeltern vorgestellt. Laut Wrochem zeigen diese Beiträge über das Spannungsverhältnis zwischen Familiengeschichte und Gesellschaftsgeschichte, "dass die Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Täterschaft in Deutschland noch lange nicht abgeschlossen" sei.

HANS-JÜRGEN DÖSCHER

Oliver von Wrochem (Herausgeber): Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie. Metropol Verlag, Berlin 2016. 535 S., mit DVD, 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Hans-Jürgen Döscher ahnt, dass die differenzierte Auseinandersetzung mit NS-Täterschaft noch lange nicht abgeschlossen ist. Wenn er den von Oliver von Wrochem herausgegebenen Sammelband mit Tagungsergebnisbeiträgen von Wissenschaftlern aus Europa und USA zur Hand nimmt, erkennt er, inwieweit das Erinnern an den Holocaust in einem Wechselverhältnis zwischen Familie und Öffentlichkeit geschieht. Wegweisend im Band scheint ihm Frank Bajohrs Text über neuere Täterforschung, der die Rollenerwartungen bei den Tätern erkundet. Auch Dietrich Kuhlbrodts Beitrag über politische und gesellschaftliche Widerstände gegen die juristische Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen und Elissa Mailänders Frage nach Verbindungen zwischen weiblicher Täterschaft und nationalsozialistischer Ideologie findet er aufschlussreich.

© Perlentaucher Medien GmbH