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"Der Blick des Protagonisten ist unschuldig und grausam, wie er nur bei Kindern sein kann." (Antonio Tabucchi, Corriere della Sera) "Ein Werk von unwiderstehlicher Faszination. (...) Man muß sich der Anmut des Textes hingeben, dem allgegenwärtigen Tragikomischen, das mit großer Leichtigkeit dargeboten wird. Hut ab!" (La Repubblica) Als der Arno 1966 über die Ufer tritt, scheint dies ein Vorbote dafür zu sein, daß die Welt aus den Fugen gerät. Bislang hat sich der kleine Junge vor allem für den ersten Tag im Kindergarten interessiert, für die Besuche bei den Großeltern und die Ferien am Meer.…mehr

Produktbeschreibung
"Der Blick des Protagonisten ist unschuldig und grausam, wie er nur bei Kindern sein kann." (Antonio Tabucchi, Corriere della Sera) "Ein Werk von unwiderstehlicher Faszination. (...) Man muß sich der Anmut des Textes hingeben, dem allgegenwärtigen Tragikomischen, das mit großer Leichtigkeit dargeboten wird. Hut ab!" (La Repubblica) Als der Arno 1966 über die Ufer tritt, scheint dies ein Vorbote dafür zu sein, daß die Welt aus den Fugen gerät. Bislang hat sich der kleine Junge vor allem für den ersten Tag im Kindergarten interessiert, für die Besuche bei den Großeltern und die Ferien am Meer. Doch dann passieren Dinge, die nicht mehr in diese heile Welt passen wollen. Der Großvater stirbt, die Eltern streiten sich immer häufiger, die Mutter verliebt sich in einen anderen, und der Vater zieht aus. Der Junge ist sich selbst überlassen. Er fängt an, Zwiesprache mit seinem toten Bruder zu halten. In ihm findet er einen Verbündeten, um sich in der ihm unverständlichen Erwachsenenwelt zurechtzufinden. Der Blick des Kindes, sein trauriger Ernst, gepaart mit sprachlicher Leichtigkeit machen diesen Roman zu einem Erlebnis, das lange nachwirkt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.2002

Mein Bruder, der Engel
Sozial korrekt: Valerio Aiolli schaut durch Artischockenaugen

Fortschritt hat, wie wir wissen, seinen Preis. Folgt man seinen Anklägern, blieb vor allem eines auf der Strecke: Natürlichkeit und Ursprünglichkeit. Widersprochen haben dem stets die Künste. Unbeirrbar traten sie für die Redefreiheit jener "anderen" Vernunft ein, die aus unserer Natur spricht. Anwälte wie Herder, Leopardi oder Baudelaire beriefen sich dabei gern auf das Kind und seinen hellen, von kulturellen Trübungen freien Blick auf die Welt.

Valerio Aiollis Romandebüt "Ich und mein Bruder" schaut durch das Perspektiv eines Sechsjährigen. So gut wie nichts ist geblieben von den einstmals offenen, unbefangenen Augen. Sie wirken wie eine gealterte Illusion der Moderne, die kaum etwas mit Kindern, aber viel mit den Sehnsüchten desillusionierter Erwachsener zu tun hatten. Inzwischen, so gibt Aiolli zu verstehen, hat der Fortschritt auch "Kinderaugen" sentimental aufgeklärt. Sie sind ihrerseits zum Medium geworden. Längst sehen sie nicht mehr durch die "laterna magica" Prousts, sondern gleichen einer Filmkamera.

Aiollis Roman nimmt, insofern, an einem Medienübergang teil, den er zugleich selbst thematisch bloßlegt: Er ist in seiner Art ein geschriebener Film, weit davon entfernt, als Filme noch visuelle Romane waren. In einer kleinen Szene schaut der Roman in seinen eigenen Spiegel. Die Mutter hatte gerade einen Artischockenauflauf zu Boden geworfen, wütend über ihren mürrischen Mann. "Ich schaue das an", heißt es vom Jungen. "Und sehe die Kasserolle, die da unten liegt, mit noch einem einzigen Artischockenherzen drin. Ein großes Auge, das von unten heraufschaut. Die Artischocke ist die Pupille." Das Kind sieht sich, mit diskreter Hilfestellung des Erzählers, selber sehen. In seinen kleinen Blick von unten ist diese Welt eingelassen. Das heißt, es nimmt nur ihren Vordergrund, die Einzelheiten, das Äußere wahr. Die Zusammenhänge selbst bleiben ihm verschlossen. Nirgendwo wird analysiert; nur registriert. So wie ein richtiger Junge nicht weinen darf, ist auch der Stil seiner Beobachtungen: genau, verschlossen, als wollte er sich nichts von allem anmerken lassen. Dadurch kommt ein ebenso reizvolles wie riskantes Doppelspiel in Gang. Der Junge nimmt auf und gibt wieder, ohne zu verstehen. Es ist am Leser, seine Wahrnehmungen zu deuten. Wenn man so will, ist das die eigentliche Handlung des Romans. Doch liegt es daran, daß die Signale von der einen zur anderen Seite nicht kräftig genug oder allzu subtil sind - man kann sich gut vorstellen, daß nicht jeder Leser dieses perspektivische Doppelspiel gewinnt.

Zumal sich aus einer kindlichen Ich-Sicht wenig action-Kapital schlagen läßt. Erst wer sich auf diese Handlungsarmut einläßt, kann etwas erleben. Dann beginnt die Geschichte des Jungen im Kleinen den Umbruch der Werte im Großen zu reflektieren. Wie Zeichen an der Wand erscheinen dabei die Eltern, die sich nicht mehr verstehen; der sterbende Großvater; ein tödlich verunglückter Onkel; unseriöse Geschäfte. Dazu die verheerende Überschwemmung von Florenz, die mit '68 zusammenzuspielen scheint und alles mit sich fortreißt, was bisher galt. In kindlicher Nahaufnahme gesehen: Die beiden Horte seiner Identität, Familie und Haus, zerbrechen. Die Eltern entfremden sich; der Vater geht; die Mutter flüchtet in ein Abenteuer; das Kind wird abgeschoben. Gleichzeitig scheitert der Hausbau. Nichts ist mehr so, wie es war.

Erst von hier aus wird die Geschichte hinter der Geschichte, die eigentliche, sichtbar. Wie würde der Junge auf das reagieren, was er sieht, aber nicht durchschaut? - Er hatte einen Bruder, gestorben, bevor er selbst geboren wurde. Doch im kreatürlichen Gedenken der Großmutter blieb er wie anwesend; als Engel etwa auf dem Gemälde in ihrem Schlafzimmer; an seinem Geburtstag, wo sie ihm einen Platz freihielt; in ihren Worten. Eine unmerkliche Wiederauferstehung setzt ein. Je mehr die Eltern sich von ihrem Kind entfernen, desto näher rückte er seinem toten Bruder, unterhält sich mit ihm und wird sein ständiger Begleiter. Sein eigenes Leben verlagert sich immer mehr von außen nach innen. Bald lebt er in einer eigenen Welt. Er spricht kaum noch, nur mit seinem "alter ego" - ein Abbild der gestörten Kommunikation um ihn herum. Als die Eltern sich schließlich trennen, löst auch er sich völlig ab und sperrt sich ganz in sich ein. Die äußere Entfremdung löst eine Alienation in ihm aus.

Auf diesen verhängnisvollen Parallelismus kommt es Aiolli an. Die Welt der Kinder ist nur heil, wenn es die ihrer Eltern ist. Naives Einvernehmen - es liegt nicht in uns wie ein verschütteter Schatz der Natur, der bloß wieder gefunden und gehoben sein will. Er zeigt sich erst, wenn die Erwachsenen ihre Vernunft walten lassen. Natürlichkeit, will Aiolli sagen, ist eine sensible Angelegenheit von Kultur. Daß dies am besten die Kunst kann, wußte der Kleine noch nicht. Aber sein Erzähler. Deshalb hat er die bedrohte Perspektive des Kindes unter den besonderen Schutz des Romans gestellt. Eine Prise social correctness durfte dabei allerdings nicht fehlen. Am Krankenbett läßt er die Eltern wieder zueinander und den Jungen zu sich finden. Überhaupt ist der Erzähler die stumme Hauptperson. So wie der Junge mit seinem Bruder führt er ein Selbstgespräch mit seiner Kindheit. Herausgekommen ist dabei ein Kulturschadensbericht von '68. Jede wohlfeile Nostalgie liegt ihm allerdings fern, als wolle er verschweigen, an was ihm - wieder - gelegen ist: an Familie.

WINFRIED WEHLE

Valerio Aiolli: "Ich und mein Bruder". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Angelika Beck. Pendo Verlag, Zürich 2001. 224 S., geb., 17,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein bemerkenswertes Romandebüt, meint Winfried Wehle, das den Leser teilhaben lässt an einem Medienübergang. Das Buch wirke wie ein geschriebener Film, aber nicht im herkömmlichen Sinn. Der Autor mache sich die Erzählperspektive eines sechsjährigen Kindes zu eigen, das beschreibt und registriert, aber nicht dazu in der Lage ist, das Gesehene zu analysieren, kommentieren oder gar die Zusammenhänge zu durchschauen. Es ist am Leser, behauptet Wehle, dieses perspektivische Doppelspiel zu er- und begreifen. Er bezweifelt jedoch, dass dies allen Lesern gelingen wird. Denn der Roman sei äußerlich betrachtet recht handlungsarm; der Junge beschreibe scheinbar unberührt das Auseinanderfallen der Ehe der Eltern und das Scheitern des geplanten Hausbaus - ein "Kulturschadensbericht von '68", wie Wehle den Roman zeitlich lokalisiert. Je deutlicher der Zusammenbruch um ihn herum sich abzeichne, um sehr mehr ziehe sich der Junge in sich zurück und führe eine Art Selbstgespräch mit seinem als Baby verstorbenen älteren Bruder. Aiolli beschreibt einen "verhängnisvollen Parallelismus", resümiert Wehle, in dem er aufzeigt, dass die Welt der Kinder nur intakt bleibt, wenn die Eltern in der ihren einigermaßen vernünftig agierten.

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