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In einem Arbeitslager in der chinesischen Einöde sind Künstler und Akademiker inhaftiert, sie sollen umerzogen, ihre Loyalität zum Kommunismus soll gestärkt werden. Wie ihre Mithäftlinge sind auch die Musikerin und ihr Geliebter, der Gelehrte, dem wirksamen Belohnungssystem des Lagerkommandanten ausgesetzt. Doch dann bricht die große Hungersnot aus und die Gefangenen werden sich selbst überlassen, ein verzweifelter Überlebenskampf beginnt. Klar und poetisch erzählt Yan Lianke in VIER BÜCHER von der Zeit der großen chinesischen Hungersnot, von Liebe, Integrität, Würde und Moral im Angesicht absurden Grauens.…mehr

Produktbeschreibung
In einem Arbeitslager in der chinesischen Einöde sind Künstler und Akademiker inhaftiert, sie sollen umerzogen, ihre Loyalität zum Kommunismus soll gestärkt werden. Wie ihre Mithäftlinge sind auch die Musikerin und ihr Geliebter, der Gelehrte, dem wirksamen Belohnungssystem des Lagerkommandanten ausgesetzt. Doch dann bricht die große Hungersnot aus und die Gefangenen werden sich selbst überlassen, ein verzweifelter Überlebenskampf beginnt.
Klar und poetisch erzählt Yan Lianke in VIER BÜCHER von der Zeit der großen chinesischen Hungersnot, von Liebe, Integrität, Würde und Moral im Angesicht absurden Grauens.
Autorenporträt
Yan Lianke, 1958 geboren, gehört zu den wichtigsten Schriftstellern Chinas. Einige seiner Romane wurden sofort nach Erscheinen verboten, andere haben eine riesige Leserschaft. Er hat alle wichtigen Preise Chinas gewonnen, hat 2014 den Franz-Kafka-Preis gewonnen, war und ist Finalist des Man Booker International Preises 2016 wie 2017 und muss ständig mit Zensur kämpfen, weil er sich nicht an die Sprachregelungen und Denkverbote der Partei hält.

Rezensionen
Der chinesische Sisyphos
Liebe in Zeiten des Stahlschmelzens: Yan Liankes brillanter historischer Roman über die große Hungersnot unter Mao

"Das Große Stahlschmelzen erschütterte die Welt. Unser Lager brannte vor Begeisterung." Der 1958 geborene, vielfach preisgekrönte und oft indizierte chinesische Autor Yan Lianke ist mit Werken wie "Dem Volke dienen" und "Lenins Küsse" als meisterhafter Entzauberer von Heilsversprechen, Kampagnengläubigkeit und Ideologien bekannt, der noch im Irrwitz des mobilisierten Alltags zarte Pflanzen des Humors gedeihen lässt. Sein 2011 in Taiwan publizierter Roman "Die vier Bücher" evoziert im Titel vier klassische konfuzianische Texte, spiegelt China aber gerade im westlichen Gedankengut.

Der Roman spielt Ende der fünfziger Jahre während des "Großen Sprungs nach vorn", als China den Westen agrarisch und industriell überflügeln wollte, was zig Millionen Tote kostete. Historisches Dekor sind die "Drei bitteren Jahre" des Hungers von 1959 bis 1961, die durch Überschwemmungen und Dürre erschwert wurden. Yan beschwört die Gigantomanie der Getreide-Produktionsquoten bei irrationalem Anbau (zu dicht gesäte Felder) und der "Stahlschlachten" mit Mini-Hochöfen, die mit abgeholzten Wäldern einhergingen. Aber nicht Bauern stehen im Zentrum des Buchs, sondern ein in der Ebene des Gelben Flusses gelegenes Umerziehungscamp für Intellektuelle, "Lager Nr. 99".

Die titelgebenden "vier Bücher" bilden den Roman: "Das himmlische Kind" erzählt in einem die Genesis imitierenden Ton, die von einem "Schriftsteller" und Insassen verfasste Studie "Die Delinquenten" liest sich wie ein Stasi-Bericht, die vom gleichen Verfasser geschriebenen "Alten Wege" sollen ihm als Skizzenbuch für spätere wahre Literatur dienen, und der "Neue Mythos des Sisyphos" bildet den Epilog. Yans Roman beschreibt dabei einen GULag-ähnlichen Orwellschen Ort mit durchnumerierten Bewohnern.

Neben der ominösen "Obrigkeit" gibt es eine "Geliebte Zentrale", und selbst Mao kommt nur als "Oberster der Oberen" vor. Der Lagerleiter ist ein schlicht "das Kind" genanntes minderjähriges, doch machtvolles Wesen, das teils an einen Kind-Kaiser, teils an Rotgardisten erinnert.

Neben dem Schriftsteller sind der "Theologe", der "Gelehrte" und die "Musikerin" zentrale Figuren. Zwischen letzteren beiden, die mittels Anordnung ihrer Essstäbchen eine Geheimsprache der Liebe im Lager entwickeln, entspinnt sich ein streng beäugte und geahndete "Amour fou". Ein ausgeklügeltes Belohnungssystem, das nach Erhalt von fünf Sternen den Status eines "neuen Menschen" verleiht, als der man das Lager verlassen darf, ist Ansporn und Freiheitsversprechen.

Psychologisch dicht erzählt Yan vom Lageralltag als Schwanken zwischen Euphorie, Trotz und Verstörung, Erpressung, Appellen ans Heldentum und trotz Rückschlägen - zwischenzeitlich brennt die Heimstatt des Kindes nieder und mit ihr Urkunden und Illusionen - seelisch tief verankertem Führerglauben. Beschneidungen des Geistes und Bücherverbrennungen gehören zum Alltag. Yan legt die inhärente unfreiwillige Komik offen, wenn der "schriftstellernde Denunziant" petzt, dass der Theologe im Hohlraum einer Ausgabe des "Kapitals" eine Taschenbibel versteckt. Oder wenn die Klarsichtfolie, mit der die Musikerin eine Chopin-Biographie einpackt, Zeugnis für "kleinbürgerliche Sentimentalitäten" wird. Als Lagerstillleben kommen ein Wald von Schandhüten, "in Schnee gehüllte Puppen" und die "Menge der Knienden" daher. Farbenspiele des roten Horizonts werden mit Todesmotiven überblendet: "Die letzten roten Lichtstrahlen tränkten die Erde wie Blut" oder "Am Boden schimmerten unzählige helle Baumstümpfe wie neugeborene Sonnen".

Religion und Ideologie verschmelzen im Motiv der mit dem Turmbau zu Babel assoziierten Eisenpagode von Kaifeng, die das Kind auf Einladung des Provinzgouverneurs erklimmt. Der Gelbe Fluss als mythische Wiege der Zivilisation Chinas wird als Ort der Verbannung, natürlicher Wall und Todesgrenze umgedeutet. Surreal-märchenhafte Passagen wie die Blutdüngung, als der Schriftsteller zur Ertragssteigerung Sämlinge mit eigenem Blut bestreut, oder schwarzer Eisensand, den ein "Techniker" mit einem Magneten aus dem Gelben Fluss gewinnt, sind in Yans Epos Wiedergabemodi der entfesselten, bisweilen selbst vor Kannibalismus nicht zurückschreckenden Realität.

Während das Kind sich zusehends zurückzieht, sind die Insassen auf sich selbst gestellt. Manche Gefangene essen Schuhe und Gürtel aus Leder. Im Alltag des Massensterbens erklärt jede Brigade ihr westlichstes Zimmer zur Leichenkammer. Yan zeichnet Eskalationen des Elends - die Musikerin prostituiert sich gegen Dampfbrötchen von einem Lageroffizier, um ihrem Geliebten davon abzugeben - und Implosionen des Leids: Bei Toten ist unklar, ob sie erfroren oder verhungerten. Sogar Stürme haben, nachdem alle Wurzeln in einem Kilometer Umkreis gegessen waren, keine Bäume zum Entwurzeln mehr. Gerade solche Bilder überzeugen.

Die Umerziehung erweist sich als geis-tige Abwärtsspirale. Als das "Musterlager" beim Besuch von "Oberen" nur durch beigemischte Sandsäcke die vorgegebene Menge an Weizen vortäuschen kann, gibt es kaum mehr Auswege aus dem Teufelskreis aus leeren Versprechen und unerfüllbaren Forderungen. Von einer Reise nach Peking als Erwachsener zurückgekehrt, findet das Kind ein schlimmes Ende.

Das vierte Buch, "Der neue Mythos des Sisyphos", ist zum Finale mit Anklängen an Camus als Requiem für die Millionen Toten der großen Hungersnot gedacht - und als Hommage an die Leidensfähigkeit der Überlebenden, die dem huis clos der Lager einen Lebensinhalt abgewannen und, "die dürren Hälse gereckt wie kahle Äste", den Hierarchien des Hungers trotzten.

STEFFEN GNAM

Yan Lianke: "Die vier Bücher". Roman.

Aus dem Chinesischen von Marc Hermann. Eichborn Verlag, Köln 2017. 351 S., geb., 24,- [Euro].

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