Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 19,80 €
  • Gebundenes Buch

Der groß angelegte Versuch, die Opfer des Dritten Reiches zu entschädigen, ist historisch ohne Beispiel. Mehr als eine Million Menschen erhielten im Laufe der Jahrzehnte Wiedergutmachung, aber viele weitere Millionen, die ebenfalls unter dem nationalsozialistischen Terror gelitten hatten, blieben davon ausgeschlossen.Die in diesem Band versammelten Studien liefern ein ebenso reichhaltiges wie komplexes Bild der Praxis der Wiedergutmachung. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen den Gerechtigkeitserwartungen der einstigen Verfolgten und den Gesellschaften, in denen…mehr

Produktbeschreibung
Der groß angelegte Versuch, die Opfer des Dritten Reiches zu entschädigen, ist historisch ohne Beispiel. Mehr als eine Million Menschen erhielten im Laufe der Jahrzehnte Wiedergutmachung, aber viele weitere Millionen, die ebenfalls unter dem nationalsozialistischen Terror gelitten hatten, blieben davon ausgeschlossen.Die in diesem Band versammelten Studien liefern ein ebenso reichhaltiges wie komplexes Bild der Praxis der Wiedergutmachung. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen den Gerechtigkeitserwartungen der einstigen Verfolgten und den Gesellschaften, in denen sie Leistungen erhielten. Der Blick richtet sich auf die Erfahrungen der verschiedenen Verfolgtengruppen, aber auch auf die vielfältigen Akteure der Entschädigung in Deutschland und Israel. Mit dieser doppelten Perspektive leistet der Band nicht zuletzt einen Beitrag zur Bestimmung aktueller Chancen und Grenzen einer Bewältigung historischen Unrechts durch bürokratische und rechtliche Verfahren.
Autorenporträt
José Brunner, geb. 1954, ist Professor an der juristischen Fakultät des Instituts für Wissenschaftsphilosophie und -geschichte der Universität Tel Aviv. Von 2005 bis 2013 war er Direktor des Minerva Instituts für deutsche Geschichte Tel Aviv.Veröffentlichungen u. a.: Die Politik des Traumas. Gewalterfahrungen und psychisches Leid in den USA, in Deutschland und im Israel / Palästina Konflikt (2014).

Norbert Frei, geb. 1955, war Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Leiter des »Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts«.Frei hat zahlreiche Publikationen zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts vorgelegt.Constantin Goschler, geb. 1960, ist Professor für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum.Veröffentlichungen u.a.: Europäische Zeitgeschichte seit 1945 (Hg. zus. mit Rüdiger Graf, 2010); »Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus, 1945-1954« (2002); »Rudolf Virchow. Mediziner, Anthropologe, Politiker« (2002)
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.06.2009

Blindheit und Engstirnigkeit
Die Wiedergutmachung von NS-Unrecht war ein großes Unterfangen, aber alles andere als eine Erfolgsgeschichte
Der Schatten des Holocaust ist in den vergangenen Jahrzehnten um so größer geworden, je mehr wir uns historisch von ihm entfernt haben. Entgegen allen Erwartungen bleibt der Judenmord lebendige Geschichte, und das Thema Wiedergutmachung als präzedenzloses Projekt ist nach wie vor aktuell. Um wieder als geachtetes Mitglied in die Völkerfamilie aufgenommen zu werden, musste die junge Bundesrepublik nach den Verwerfungen des Nationalsozialismus ein klares Zeichen setzen – moralisch wie materiell. Das Luxemburger Wiedergutmachungsabkommen von 1952 war einmalig in seiner Art, es ist ein besonderes Beispiel dafür, wie sich ein Volk darum bemüht, ein im größten Ausmaß begangenes Unrecht zu sühnen.
Dabei hat Adenauer, der das Abkommen mit Israel gegen heftige Widerstände unbeirrt auf den Weg brachte, sehr wohl gewusst, dass die Wiedergutmachung nicht nur bei der Wiederherstellung der deutschen Selbstachtung helfen, sondern auch dazu beitragen würde, die verlorengegangene Reputation in der Welt wieder zu erlangen. Zugleich ging es ihm darum, für Vertrauen in die deutsche Nachkriegspolitik zu werben.
Die Wiedergutmachungsleistungen stellen das größte Entschädigungsunterfangen in der Geschichte der Menschheit dar. Dennoch erhielten die meisten Opfer des Nationalsozialismus entweder überhaupt keine Entschädigung für das ihnen zugefügte Leid oder nur eine reichlich verspätete symbolische Leistung. Was auf deutscher Seite anfangs als das Projekt einer schmalen neuen Elite und nicht einmal innerhalb der Bonner Regierungskoalition unumstritten war (Adenauer benötigte die Unterstützung der SPD-Fraktion), wurde schließlich ein Teil des politisch-moralischen Selbstverständnisses einer historisch aufgeklärten Zivilgesellschaft. Dazu gehörte auch, dass das durch die Praxis der Wiedergutmachung im Laufe der Jahrzehnte zugewachsene moralische und politische Kapital für die Bundesrepublik von offenkundigem Vorteil war. Das gilt für die Bundesrepublik wohlgemerkt, denn die DDR hat sich bis zu ihrem Ende einer materiellen Wiedergutmachung verweigert.
In Israel war das Konzept der Wiedergutmachung anfangs nicht weniger umstritten als in der Bundesrepublik. Die Frage, ob man von den Deutschen „Blutgeld” nehmen dürfe, hat die israelische Aufbaugesellschaft tief gespalten. Was die Größenordnung der geleisteten individuellen Entschädigungen betrifft, so ist festzuhalten, dass sich die Zahlungen über eine Zeitspanne von mehr als fünf Jahrzehnten erstreckten und den deutschen Staatshaushalt nicht ernstlich belasteten. Anders ausgedrückt: Die seit 1961 angewachsenen jährlichen Zahlungen von drei Milliarden Mark bedeuteten nie mehr als ein Prozent des Bruttosozialprodukts und weniger als vier Prozent der staatlichen Gesamtausgaben. Einer der Vorsitzenden der israelischen Delegation bei den Verhandlungen zum Luxemburger Wiedergutmachungsabkommen, Felix Shinnar, berechnete 1970, dass die individuellen Entschädigungen an NS-Verfolgte jeden Deutschen jährlich 50 Mark kosteten. Aufgrund der Wiedergutmachung ergab sich für Israel seit Anfang der 50er Jahre ein unausgesetzter Zwang zur Kooperation. Es war eine komplizierte Wahrnehmungsgeschichte, in der die Notwendigkeit zum Gespräch von deutscher Seite gerne vorschnell als Bereitschaft zur Aussöhnung gedeutet wurde, wenn es aus israelischer Sicht vor allem darum ging, die Deutschen mit Forderungen zu konfrontieren und sie dazu zu bringen, zum Überleben des jüdischen Staates beizutragen.
Die Beiträge des Sammelbandes sind das Ergebnis eines Forschungsprojekts deutscher und israelischer Wissenschaftler. Er benennt die wichtigsten Bereiche und zeigt zumindest exemplarisch, wo Wiedergutmachung im Sinne von individueller Entschädigung geleistet – oder auch verweigert wurde. Nach der Lektüre lässt sich konstatieren, dass die Wiedergutmachung als Patentrezept nicht taugt. Ihre Praxis erwies sich, je genauer sie erforscht wurde, als äußerst widersprüchlich: voller ernstgemeinter Bemühungen, den Opfern zu ihrem Recht zu verhelfen und ihnen Genugtuung zu verschaffen, aber auch gespickt mit Blindheit und Engstirnigkeit, voller Unzulänglichkeiten und Ungerechtigkeiten, die oft noch dort entstanden, wo man ihnen abzuhelfen gedachte. Es besteht deshalb nicht der geringste Grund, die Geschichte der Wiedergutmachung zu einer simplen Erfolgsgeschichte umzuschreiben.
Durch den vorliegenden Sammelband darf die Politik- und Diplomatiegeschichte der Wiedergutmachung als weitgehend erforscht gelten. LUDGER HEID
NORBERT FREI / JOSÉ BRUNNER / CONSTANTIN GOSCHLER (Hg.): Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel. Wallstein Verlag, Göttingen 2009. 773 Seiten, 52 Euro.
Kanzler Konrad Adenauer und der israelische Ministerpräsident David Ben Gurion im März 1960 in New York. Foto: epd
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rolf Wiggershaus liest die vorliegende, breit angelegte Untersuchung zur Praxis der Wiedergutmachung als Gegenperspektive zur Politik der Entschädigung und zu internationalen Abkommen. Die Beiträge deutscher und israelischer Autoren beeindrucken ihn durch Details bei der Sichtbarmachung der hinter der Praxis verborgenen Kämpfe um Anerkennung, der Lernprozesse und Hierarchisierungen. Was gilt als spezifisch nationalsozialistische Verfolgung? Am Beispiel der Sinti und Roma und der Homosexuellen erfährt Wiggershaus, wie stark die Wiedergutmachung von gesellschaftlichen Vorurteilen geprägt war "und blieb". Und er kann ermessen, wie marginal monetär nicht messbare Schäden wie Demütigung und Traumatisierung behandelt wurden. Das Fazit der Herausgeber erscheint Wiggershaus so wohlbegründet wie ernüchternd: Die Wiedergutmachung sei kein Erfolgsmodell, sondern ein Lehrstück, eine Geschichte auch der Engstirnigkeit und neuer Ungerechtigkeiten.

© Perlentaucher Medien GmbH