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Man kennt den Dichter Günter Kunert als einen, der die Weltläufte immer skeptisch oder doch zumindest abwartend verfolgt hat. Gewiß war er eher ein Warner als ein Apologet der Zukunft. Nun hat er ein Buch mit Miniaturen geschrieben, stets beginnend mit den drei Worten 'Der alte Mann', in denen er sich in einem hintergründigen, oft heiter-selbstironischen Ton über die Schulter schaut. 'Der alte Mann' zieht Bilanz, er blickt naturgemäß eher zurück als nach vorn, wehmütig zuweilen, weil die Kräfte nachlassen, mit denen der Alltag gemeistert werden muß. Von vielem heißt es Abschiednehmen. Das…mehr

Produktbeschreibung
Man kennt den Dichter Günter Kunert als einen, der die Weltläufte immer skeptisch oder doch zumindest abwartend verfolgt hat. Gewiß war er eher ein Warner als ein Apologet der Zukunft. Nun hat er ein Buch mit Miniaturen geschrieben, stets beginnend mit den drei Worten 'Der alte Mann', in denen er sich in einem hintergründigen, oft heiter-selbstironischen Ton über die Schulter schaut. 'Der alte Mann' zieht Bilanz, er blickt naturgemäß eher zurück als nach vorn, wehmütig zuweilen, weil die Kräfte nachlassen, mit denen der Alltag gemeistert werden muß. Von vielem heißt es Abschiednehmen. Das Treppensteigen fällt schwerer als früher, aber auch die Rolltreppen im Kaufhaus haben ihre Tücken, und beim Bezahlen läßt sich das Kleingeld nicht mehr so leicht aus dem Portemonnaie abzählen. Daß manche Wahrnehmungen blasser werden, ist betrüblich - allerdings nicht nur, denkt man an die Zumutungen unserer Gegenwart. Nicht wenige Probleme werden andere lösen müssen. Die Abenteuer finden im Kopfstatt, und immer größeren Raum nehmen Erinnerungen ein, die mit den Sehnsüchten und Träumen in einen Schwebezustand gebracht werden, in dem sich Protest und Einverständnis mit dem Unabwendbaren die Waage halten. In dieser Spannung bewegen sich Kunerts 'Gespräche', denen 13 Zeichnungen des Autors beigegeben sind.
Autorenporträt
Günter Kunert wurde 1929 in Berlin geboren, 1979 reiste er aus der DDR in die Bundesrepublik aus und lebt heute in Itzehoe. Für sein außerordentlich vielfältiges und umfangreiches Werk - Gedichte, Essays, Reisebücher, ein Roman, Erzählungen, Kinderbücher, Theaterstücke, Filmdrehbücher - wurde er mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2006

Vorerst eine Made - dann wollen wir weitersehen
Porträt des Künstlers als alter Mann: Günter Kunerts neue Gedichte siegen über die Resignation / Von Walter Hinck

Kein Abriß Potemkinscher Dörfer mehr, keine Satire auf den "Sieg der Kulisse über die Realität" im Kommunismus, keine Sottisen gegen eine deutsche Philosophensprache, die ihren Ruf des Genialen dem Respekt der Leser vor dem Unverstandenen verdankt, kein Protest mehr gegen den Eurozentrismus und die Selbstvernichtung der Menschheit durch die Umweltzerstörung, also keine Kassandrarufe mehr. Der Prophet der planetarischen Katastrophe ist selbst in ein Stadium gekommen, wo sich die kleinen Katastrophen des Alltags ereignen und der altersmüde, schmerzreiche Körper dem nimmermüden Geist zusetzt. Im neuen Band spricht ein "alter Mann" mit "seiner Seele".

Obwohl mich früh Altersbildnisse in Malerei und Graphik beeindruckt haben, etwa Dürers Porträt seiner alten Mutter und "Der Man was alt 93 Johr" oder die erschütternden Selbstbildnisse des alten Rembrandt, sind körperliche Alterserscheinungen kein bevorzugtes Thema von Kunst. Zu den Lieblingsgegenständen der Poesie gehören Schönheit und Jugend. Spiritualistische Bewegungen wie die des Mittelalters suchen das Körperliche zu ignorieren, ebenso der Idealismus. Schiller, dem mit seiner schweren Krankheit schon im "besten" Mannesalter die Alterserfahrung körperlicher Bedingtheit aufgezwungen wurde, wäre nie auf den Gedanken gekommen, Gedichte über das fatale Leibliche seiner eigenen Person zu verfassen. Freilich fällt dem Körperhaften in unserer mehr am Sinnlichen als an Sinn gelegenen Gesellschaft auch eine andere öffentliche Bedeutung zu. Wo Millionen von Methusalems nach Arzneimitteln anstehen oder in Altersheime drängen, wird die Leibabhängigkeit menschlicher Existenz auffälliger, wo uns das Fernsehen täglich Körperwelten ins Haus flimmert, da schärft sich der Blick für Verfallserscheinungen, gerade weil die alles retuschierende Mode sie nicht mehr verbergen kann.

Die neuen reimlosen und freirhythmischen Gedichte Kunerts beginnen alle mit der Zeile "Der alte Mann". Gewidmet sind sie seiner Frau Marianne: "Ein alter G. für eine alte M." Gewiß ist es ein Rollen-Ich, von dem die Gedichte sprechen, doch werden Übereinstimmungen mit dem Autor, auch in den zwölf über den Band verteilten Zeichnungen Kunerts, signalisiert. Eines der stärksten Gedichte eröffnet den Band. Es handelt vom Zufluchtsort des eingeschränkten Daseins: der Erinnerung. "Was wurde aus meinen / Windspielen? Aus meinen / Schnupftabakdosen und anderen / Preziosen? Aus Preußen? / Aus Schlesien? Aus Potsdam?" Von verschwundenen privaten Schätzen des Sammlers haben sich die Fragen historischen Verlusten zugewandt.

Auf dem Globus, den er rotieren läßt, entdeckt der alte Mann einen weißen Fleck. Dort möchte er sein Domizil aufschlagen, "wo Kontrast / zur trostlosen Wichtigkeit / die Nichtigkeit Trost offeriert". Hades und Hölle nimmt schon das Leben vorweg, in den "Qualen der Knie", der entzündeten Gelenke. Überhaupt: Wie ein Polyp mit seinen vielen Fangarmen greift das Gebrechen nach dem Körper des alten Mannes. Gebrechen werden zum poetischen Gegenstand erst, wenn sie nicht allein als medizinischer Befund mitgeteilt werden, sondern wenn ein künstlerisches Stilmittel sie uns interessant macht. Körperlichen Gebrechen kann auch ein Zug des Komischen anhaften, aber zumeist kommt Mitleid dem Lachen in die Quere. Ein plötzlich stolpernder und fallender Mann kann, weil wir von ihm Beherrschung des Gleichgewichts erwarten, komisch wirken, nicht aber das fallende Kind und nicht der Alte, der durch sein Gebrechen zu Fall kommt. Es bedarf feinerer Mittel poetischer Distanzierung.

Aus dem Repertoire seiner Sprechweisen wählt Kunert die ironische. Ihr kommt die Gedichtform epigrammatischer Kürze entgegen, eine Form, die Konzentration voraussetzt und geistreiche Zuspitzung erlaubt. Sie ist der rechte Rahmen all der kleinen Havarien des Alltags: der Suche nach der verlegten Brille, des Anwachsens der Zehennägel zu Krallen, des "herkuläischen Ringens" mit den Socken, der fieberhaften, aber unerträglich langen Suche nach Kleingeld bei Einkäufen. Manchmal löst sich das Mißgeschick in Anekdoten auf: Der Mann, der seinen rechten Schuh nicht findet, umwickelt kurzerhand den baren Fuß mit einer Binde und taucht so im Supermarkt als Kranker auf. Doch die Selbstbeobachtung (im Spiegel) kann auch Selbstabwehr auslösen: "Dich akzeptiere ich nicht, du / Dickwanst, du Fettsack, du / Bauchballon, plissiertes / Unding".

Schwerer wiegen der Schwund der männlichen Potenz und die Havarien im Gehirn: das Abbröckeln der Erinnerung, das Nachlassen des Gedächtnisses. Der alte Mann weiß das "Schwert des Damokles" über sich. Der "Count down" läuft; da kann es geschehen, daß ihn beim Gießen einer Blume das Sich-Öffnen einer Blüte "erschüttert". Nur kurz hält beim Lesen der Todesanzeigen die Befriedigung darüber an, daß es wieder einen anderen getroffen hat. Und zunehmend werden körperliche Defekte zu symbolischen Zeichen. Der alte Mann, der sich am Geländer die Treppe hinuntertastet, denkt schon an die Sargträger: "Immer geht es / mit uns abwärts. Zuletzt aber / werden wir dabei / von geübten Schultern ertragen." Nur das Wortspiel am Ende, der Austausch von "getragen" durch "ertragen", fängt die Resignation noch einmal ab.

Der notorische Skeptiker Kunert gibt auch jetzt nicht klein bei. Von einem Jenseits her winkt ihm kein Heilsversprechen zu. Und das Goethesche "Stirb und werde" quittiert er mit Sarkasmus: "Vorerst eine Made - dann / wollen wir weitersehen." Manchmal nähern sich Ironie und Selbstironie dem Zynismus, manchmal scheint das parodistische Spiel mit Zitaten von Johann Rist, Paul Gerhardt, Goethe und Brecht zu salopp zu geraten. In Wahrheit aber muß die Ironie einer versteckten Melancholie die Waage halten. Der alte Mann gleicht dem Spaßmacher im Zirkus. Er kauft einen Clown aus Blech, der klappert mit Tschinellen und dreht sich im Kreise. "So / ist das Leben, sagt der Clown / zu dem alten Mann. Wer / daran zweifelt, ist ein / Clown. Wie wir beide."

Mich erinnern manche der Epigrammgedichte an späte Gedichte des gelähmten Heine, der auch unter Tränen noch der Ironie die Treue hält, ja sie braucht, um sich der Umarmung durch die Resignation zu entwinden, sie braucht als Motor des geistigen Überlebens. Aber der Skeptiker Kunert macht sich auch über die Lebensdauer von Literatur keine Illusionen. Beim Verkauf von Büchern zieht der alte Mann Bilanz: "Am Anfang war das Wort, am Ende / das Antiquariat."

Günter Kunert: "Der alte Mann spricht mit seiner Seele". Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 106 S., geb., 18,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2007

Der treue Doppelgänger
Alter macht erfinderisch: Neue Gedichte von Günter Kunert
Der Dichter ist niemals allein. Kaum dreht er sich weg, schon blickt ihm ein Paar allzu bekannter Augen über die Schultern. Zwar sind es nur „triste / Imitationen”, aber sie halten ihn trotzdem zum Narren. Jene Doppelgänger, die Günter Kunert einst beschworen hat, jene kleinen Unbekannten, die das Ich in die Enge treiben – sie haben auch in seinem neuen Band ihren Auftritt. Nur scheint es, als hätten sie inzwischen reichlich Federn gelassen: „Wo ich auch hinkomme, immer / sind sie schon da, humpelnd / und hinkend, jammernd und / ächzend, verbittert / und verbohrt.”
Wenn es so etwas wie einen roten Faden in Günter Kunerts Schreiben gibt, dann ist es der Hang zum poetischen Nachdenken. Wo die Dinge immerfort gespiegelt werden, wo das Ich sich nur gespalten sieht, dort hat die Reflexion ihren Platz. Kunerts Gedichte bauen auf den pointierten Zugriff, der sinnlichen Gewissheit scheinen sie ebenso zu misstrauen wie dem bloß schönen Bild. Mit ihrem erzählenden Grundton sind sie in der Lage, ihre Zeit genau abzutasten. Dabei geht es weniger um vorschnelle Diagnosen als um das Wenden von Ideen, das Aufzeigen feiner Widersprüche und Haken. Seine letzten Gedichte führten ihn zu einem merkwürdigen Phänomen: Je härter der Blick die Gegenwart trifft, desto deutlicher tritt die Geschichte hervor. Und erst recht: die Vergänglichkeit.
Doch so elegisch Kunert auch über die Schatten und den „tückischen Gleichmacher / Gedächtnis” nachdachte, der Tod wollte ihm etwas Fremdes bleiben: „Immer wieder überrascht / dass sie sterben. Die Gebilde / aus Haut und Knochen und Hoffen / und böser Arglosigkeit”. In seinem neuen Buch hat sich das Verhältnis gewandelt. Alles scheint hier auf das Verschwinden ausgerichtet, die Stimme, der Körper, selbst die Wahrheit ist nicht mehr als „bunte Unkenntlichkeit”. Nun spricht der Dichter aus der Reife seiner Jahre, bekennt sich, ein alter Mann zu sein. Was nicht heißt, die Leiden des Älterwerdens würden einfach hingenommen. Immer noch rennt er an gegen die Zeit, und das Bild im Spiegel zeigt ein anderes Wesen.
So wie der Körper sich langsam verabschiedet, wird das Denken sich selbst fremd. Und auch wenn das Wörtchen „Wahrheit” nach wie vor zur Sprache kommt, darf man dieser alternden Stimme keinesfalls trauen: „Das Alter macht / erfinderisch im Täuschen und / Betrügen”. Die Tücken des Schreibens sind immer deutlicher zu fühlen, am Ende steht der schöne Schein einer gerundeten Lebensgeschichte, die mit den wirklichen Erlebnissen des alten Mannes nicht mehr viel zu tun hat. Dann lieber nur die „halbe Wahrheit” oder die Flucht in die Zweideutigkeit.
„Eskapismus, ruft ihr mir zu, / vorwurfsvoll. / Was denn sonst, antworte ich, / bei diesem Sauwetter!” So schrieb es einst Hans Magnus Enzensberger seinem „Fliegenden Robert” ins Stammbuch. Auch bei Günter Kunert gibt es eine Figur, die ihren Regenschirm aufspannt, um sich in die Lüfte zu erheben. Auf einer der beigefügten Zeichnungen ist dieser alte Mann dargestellt, glatzköpfig, eingehüllt in einen Mantel. Doch beim genauen Hinsehen scheint es ebenso möglich, dass der Mann fest auf der Erde steht. Es ist diese Offenheit, die Kunerts Gedichte davor bewahrt, in biedere Lehrhaftigkeit abzurutschen. Mit kleinen Volten und Paradoxien rückt er den Dingen auf den Leib. Seine melancholisch angehauchte Ironie sichtet die Formen und Bilder des Vergänglichen, manchmal auch in der Gestalt eines klaren Zynismus.
Wo dieses Changieren fehlt, droht die schnelle Pointe oder gar der Kalauer. Gegen Ende des Bandes hat Günter Kunert einige solcher Wortspiele versammelt. Ob es sich um das „Irrwana” handelt oder um Formeln wie „verbleibe ich friedhöflich” – hier wirkt der resignative Tonfall allzu direkt. Das ist ein wenig schade, gelingt es Kunert an anderen Stellen seiner freien Rhythmen doch, die Angst vor dem Vergessenwerden gleichsam erzählerisch zu bändigen. Der Glaube an ein Jenseits ist seinem poetischen Denken fremd. Trotzdem bleibt ein Fünkchen Hoffnung spürbar. Hoffnung, im Gedächtnis der Nachwelt weiterzuleben – und sei es nur als eine Spur Rauch, „zart / und unwiederbringlich”. NICO BLEUTGE
GÜNTER KUNERT: Der alte Mann spricht mit seiner Seele. Mit zwölf Zeichnungen des Autors. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 106 Seiten, 18 Euro.
Günter Kunert im Sommer 2006 Foto: Anita Schiffer-Fuchs
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Altersbildnisse haben Zukunft. Wenn sie derart wenig resignativ daherkommen und vor Ironie sprühen wie in Günter Kunerts neuen Gedichten, hat Walter Hinck gar keinen Zweifel daran. Ironie als Mittel der Distanzierung hält Hinck übrigens für angebracht, wenn es um körperliche Gebrechen geht. Die Übereinstimmungen zwischen lyrischem Ich und Autor bleiben ihm auch so nicht verborgen: Kunert spricht über Kunert - als alter Mann. Wie der die Missgeschicke des Alltags zunehmend als symbolische Zeichen erfährt, scheint Hinck nachvollziehen zu können. Ebenso Kunerts gar nicht altersschwache Skepsis. Und wenn es ihm doch einmal zu zynisch wird in Kunerts Gedichten, dann weiß er: schuld ist die Übermacht der Melancholie.

© Perlentaucher Medien GmbH
'Aus dem Repertoire seiner Sprechweisen wählt Kunert die ironische. Ihr kommt die Gedichtform epigrammatischer Kürze entgegen, eine Form, die Konzentration voraussetzt und geistreiche Zuspitzung erlaubt. Sie ist der rechte Rahmen all der kleinen Havarien