Metapher für einen Weltmoment." Ob diese Formulierung sich tatsächlich als ein Bestimmungsmerkmal nicht nur des "guten", sondern auch des modernen oder gar postmodernen Gedichts eignet, mag man bezweifeln; hatte nicht schon Friedrich Theodor Vischer vor 150 Jahren vom "punktuellen Zünden der Welt im Subjekte" gesprochen?
Jedenfalls ist diese Kombination von Welthaltigkeit und Subjektivität sehr kennzeichnend für Sartorius' eigene Gedichte. Sie führen den Leser ins antike und gegenwärtige Griechenland, nach Zypern, nach Ägypten und in den Irak, nach Algerien, Lagos und nach Kuba, nach Korea und nach Italien, in den Senegal und nach Samarkand und nicht zuletzt ins Pergamon-Museum und ins inzwischen oft bedichtete Wiepersdorf. Viel Welt also, und es ist eine durch und durch gebildete Welt; sie wird häufig an solchen Orten aufgesucht, wo sie mit den Namen bedeutender Dichter, bildender Künstler und Komponisten aus Orient und Okzident verbunden werden kann. Man trifft unter anderem auf den griechischen Lyriker Kleobolus und auf den arabischen Klassiker Abu Nawas, auf Lilia Brik, die Geliebte Majakovskijs und auf den italienischen Maler Emilio Vedova; man darf am kubanischen Cocktail "Ron Collins" nippen, durch die algerische Pentapolis streifen, ein altes Klassenfoto aus dem Lycée de Carthage in Tunis betrachten (wo Sartorius zur Schule ging) und ein ganzes irakisches Alphabet durchbuchstabieren - ja, es geht respektgebietend weltläufig zu in diesen Gedichten, und nur ein Teil aller dieser Fremdartigkeiten wird dem armselig Nochnichtglobalisierten in Anmerkungen erklärt.
Doch die gelehrten sind zugleich auch gelebte Exkursionen, unternommen von einem lyrischen Ich, dessen Sensibilität und Intellektualität sich über die Beschreibung von Kulturlandschaften und über persönliche Reflexionen zu erkennen gibt und oft in ebenso simple wie erschreckend abgründige Fragen einmündet: "Was ist dem Menschen zuzumuten?" "Was sieht man, wenn man sieht?" "Wozu bist du hier?" "Nach was sehnen wir uns?" "Wie lange kann Sehnen sich sehnen?" "Zu wem gehören wir?" "Wer sind wir nachts?" "Ist Ferne zu sehen?" "Aus was ist Zeit gemacht?" "Wie oft ist zu oft?" Fragen über Fragen, und die distanzierende Selbstironie, mit der sie gelegentlich vorgebracht werden, macht sie nicht weniger dringlich. Ob aber auch poetisch?
Poesie ist, so heißt es in der "Minima Poetica", der Versuch, eine Welt aus Sprache zu entwerfen: "Poesie ist konzentriertes, verknapptes Sprechen. Sie ist, zweitens, abstrahiertes Sprechen, das vom Bedürfnis nach Mitteilung zunächst nicht wesentlich bestimmt ist. Ein drittes Spezifikum ist das rhythmisierte Sprechen. Poesie tönt, atmet. Und ein Viertes gilt, daß das lyrische Subjekt durch rückhaltlose Versenkung ins Eigene, meinetwegen in die eigenen Nichtigkeiten, paradoxerweise das Allgemeine sagt." Diesen Merkmalen kommen die Gedichte von Joachim Sartorius sehr nahe; sie klingen auch ohne Reime; sie halten die schwierige Balance zwischen dichten, wohltönenden, kaum entschlüsselbaren Metaphern und einer unverstellten Mitteilungssprache; und sie machen das sprechende Ich zwar kenntlich, drängen aber zugleich darüber hinaus in ein Allgemeines, selbst um den Preis, daß sich das Allgemeine als Gemeinplatz erweist: "Schönheit ist nicht Wahrheit, und / Wahrheit kommt in verschiedenen Größen" - wer hätte das gedacht? Und was, pardon, ist Wahrheit? "Daß sich alles verändert hat, jedes, alles" - nun ja, das ist die alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu.
Ein existentieller Ernst, ein melancholischer Grundton durchzieht diesen Gedichtband auf fast schon altmodische Weise, und gelegentliche sprachliche Übermütigkeiten ("Loch an Loch / und es wärmt doch") bestätigen das eher, als daß sie diese Ernsthaftigkeit in Frage stellten. Der Cicerone Sartorius führt den Leser zuerst und zuletzt, aller Welterkundungen zum Trotz, in die Unerkundbarkeit der Kunst. Ob er sich "Auf dem Weg zum Grabmal des Kleobolus" befindet oder "Grüße aus Havanna" schickt, stets geht es auch um die Rätselhaftigkeit der Kunst, um das, was sie als Bild oder Sprache dem Gedächtnis allenfalls bewahren kann.
Einen Höhepunkt dieser gedichteten Poetik bildet das 52 Strophen umfassende Gedicht "Capucelle", das den gleichnamigen Zyklus aus elf Schädelzeichnungen des Malers Max Neumann, angeregt durch die Totenköpfe in den neapolitanischen Katakomben, meditativ begleitet, geduldig deutet und eindringlich nach Gemeinsamkeiten befragt zwischen der bildenden Kunst und der Poesie: "Ich mit dem weißen Blatt, du mit der grundierten Leinwand."
Joachim Sartorius: "Ich habe die Nacht". Gedichte. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2003. 90 S., geb., 17,90 [Euro].
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