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In seinem meisterhaft komponierten neuen Buch erzählt der Historiker Orlando Figes ergreifende Lebensschicksale während der schlimmsten Jahre der sowjetischen Unterdrückung. Ein beispielloser Blick in die Innenwelt eines geschundenen Volkes.
Viele Darstellungen behandeln die sichtbaren Aspekte der stalinistischen Diktatur: die Verhaftungen und Prozesse, die Versklavung und das Morden in den Gulags. Kein Buch hat jedoch bislang die Auswirkungen des Regimes auf das Privat- und Familienleben der Menschen untersucht, den Stalinismus, der uns alle ergriff", wie es ein russischer Historiker…mehr

Produktbeschreibung
In seinem meisterhaft komponierten neuen Buch erzählt der Historiker Orlando Figes ergreifende Lebensschicksale während der schlimmsten Jahre der sowjetischen Unterdrückung. Ein beispielloser Blick in die Innenwelt eines geschundenen Volkes.
Viele Darstellungen behandeln die sichtbaren Aspekte der stalinistischen Diktatur: die Verhaftungen und Prozesse, die Versklavung und das Morden in den Gulags. Kein Buch hat jedoch bislang die Auswirkungen des Regimes auf das Privat- und Familienleben der Menschen untersucht, den Stalinismus, der uns alle ergriff", wie es ein russischer Historiker einmal formuliert hat. Auf der Basis von Hunderten Interviews mit Zeitzeugen und zahllosen bislang unbekannten Dokumenten liefert nun Orlando Figes in Die Flüsterer erstmals einen unmittelbaren Einblick in die Innenwelt gewöhnlicher Sowjetbürger und zeigt an zahlreichen eindringlichen Beispielen, wie Einzelne oder Familien in einem von Misstrauen, Angst, Kompromissen und Verrat beherrschten Alltag um ihr Überleben kämpften. Für die Zeit der Revolution von 1917 bis zu Stalins Tod und darüber hinaus rekonstruiert Figes das moralische Gespinst, in dem sich die allermeisten Russen gefangen sahen: Eine einzige falsche Bewegung konnte eine Familie zerstören oder am Ende womöglich deren Rettung bedeuten. Keiner konnte sich sicher fühlen, nicht einmal die überzeugtesten Anhänger des Regimes. Wahrheit und Wahn, Schuld und Unschuld waren in diesem Unterdrückungssystem immer wieder auf fatal miteinander verquickt. Orlando Figes' neues Meisterwerk - in seiner erzählerischen Wucht und Aufrichtigkeit vergleichbar mit Grossmans Jahrhundertroman Leben und Schicksal - ist das breit angelegte Porträt einer Gesellschaft, in der jeder nur noch flüstert - entweder um sich und andere zu schützen oder um zu verraten. Ein ebenso schonungsloser wie ergreifender Bericht davon, wie schwach - und wie unvorstellbar stark - Menschen in einer von Paranoia geprägten totalitären Gesellschaft werden können.
Autorenporträt
Orlando Figes lehrt Geschichte am Birkbeck College in London..
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2008

Denn es gibt kein andres Land auf Erden
Wo das Herz so frei dem Menschen schlägt – zwei große Bücher berichten vom Stalinismus für alle: Orlando Figes erzählt Familiengeschichte aus Jahrzehnten der Angst in der Sowjetunion, Karl Schlögel beschreibt die Urszene des Totalitarismus im Moskau des Jahres 1937 Von Jens Bisky
Vieles erkannte Maria Budkewitsch wieder, als sie 1954 die Leningrader Wohnung besuchte, in der sie vor dem Krieg mit Eltern und Bruder zwei Zimmer bewohnt hatte. Da war die Keramiksammlung der Mutter, das Ledersofa des Vaters, Kissen, Lampen, Stühle. Auch die hagere Frau, der das alles nun gehörte, war ihr vertraut. Bis 1937 hatten die Familien eine Wohnung geteilt und sich angefreundet. Dann beschloss die Mitbewohnerin, wohl auch mit Blick auf die Möglichkeit, zusätzlichen Wohnraum für ihre drei Kinder zu ergattern, die Budkewitschs anzuzeigen: „Konterrevolutionäre” seien sie und „ausländische Spione” – Stanislaw und Warwara Budkewitsch waren polnische Sozialisten gewesen, bevor sie nach St. Petersburg zogen. Ja, die Historikerin Warwara betätige sich, wie die Denunziantin angab, als Prostituierte, bringe auch Kunden mit nach Hause. Daraufhin, im Juli 1937, wurden Marias Eltern verhaftet und erschossen.
Fast ein Jahr schlug sich die damals Vierzehnjährige allein durch, dann kam sie wie ihr Bruder in ein Waisenhaus. In dem Glauben, einen Wunsch der Eltern zu erfüllen, wurde sie Komsomolzin. Nach Stalins Tod kam eine Bescheinigung über die Rehabilitierung ihrer Eltern, und Maria brauchte nun die Unterschrift der einstigen Nachbarin, um einen Antrag auf Entschädigung stellen zu können. Die überraschte, inzwischen weißhaarige Frau unterschrieb und begann zu erzählen: 1941 habe man ihren Mann ins Arbeitslager geschickt, einen Brief habe er geschrieben. Darin stand, dass ihm während der Verhöre sämtliche Zähne ausgeschlagen wurden, dass sie einen anderen heiraten solle, er rechne nicht mit seiner Rückkehr. Sie habe das Schreiben aus Angst vernichtet. Das Schicksal der Budkewitschs tue ihr leid, auch sie habe gelitten. Nie hatte sie damit gerechnet, Maria wiederzusehen.
Was man „Entstalinisierung” nennt, begann auf diese Weise, und dass sie in absehbarer Zeit abgeschlossen sein könnte, darf man bezweifeln. Ähnlich unerträgliche Szenen müssen sich in der Sowjetunion hunderttausendfach abgespielt haben. Viele schwiegen ganz über ihr Schicksal, so Antonina Golowina, die im Alter von acht Jahren als „Kulakentochter” verbannt wurde und mit 18 beschloss, ihre Herkunft zu verbergen. Sie trat der KPdSU bei, machte Karriere, heiratete zweimal. Sie war weit über sechzig, als herauskam, dass auch ihre beiden Ehemänner aus Familien stammten, die Opfer des Staatsterrors geworden waren. Sie hatten Tisch und Bett geteilt, aber vor 1987 nicht darüber gesprochen.
Der englische Historiker Orlando Figes hat die Erlebnisse Maria Budkewitschs, Antonina Golowinas und vieler mehr vor dem Vergessen bewahrt. Gemeinsam mit Mitarbeitern der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial begann er in Moskau, St. Petersburg und Perm ein Großprojekt der oral history, bevor es dafür zu spät ist. Sie inteviewten Überlebende der Stalinzeit. Auf der Website des Autors – www.orlandofiges.com – kann man die Familiengeschichten studieren, Fotografien betrachten, Interviews nachlesen. Aus der Fülle des Materials komponierte Figes seinen Tausendseiter „Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland”. Das Buch wird, seit es vor einem Jahr auf englisch erschien, als Meisterwerk gepriesen. Und in der Tat ist hier etwas Besonderes gelungen: Der Leser gewinnt eine Innenansicht des Sowjetsystems: von den Kindern der Bolschewiken, die geglaubt hatten, auf alles verzichten zu können, was eine Familie ausmacht – Schutz, Intimität, Vertrauen und Liebe – bis zur quälend langsamen Überwindung des Schweigens. Das Buch endet nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, mit einem Besuch Antonina Golowinas in Shaltyr, der Sondersiedlung, in die man sie von 1931 bis 1934 verbannt hatte. Sie trifft eine Leidensgefährtin und wagt zum ersten Mal laut zu sagen: „Ich bin eine Kulakentochter”.
Bis dahin hat der Leser eine Welt des Unglücks durchschritten, bestimmt von Rechtlosigkeit, Angst, Sklavenarbeit, Verrat, Heuchelei, Flüstern. Flüsterer waren die, die leise sprachen, aus Furcht belauscht zu werden, und die Denunzianten, vor denen sie sich fürchteten.
Es ist ein glücklicher Zufall, dass Figes’ Familienroman des Stalinismus auf deutsch zur selben Zeit erscheint wie die große Studie Karl Schlögels über Moskau 1937. Wer sich nicht mit einem antitotalitären Konsens ohne Kenntnisse bescheiden will, wird nicht umhin kommen, beide Bücher zu studieren. So unterschiedlich sie in ihrer Anlage und Erzählhaltung sind, so sehr kommen sie doch in einem Punkt überein: Sie bieten Antworten auf die Frage, wie der Stalinismus möglich war. Warum konnte er sich so lange und so erfolgreich behaupten?
Nach sehr vorsichtigen Schätzungen wurden zwischen 1928, als Stalin die Parteiführung übernahm, und dem Tod des Diktators 1953 25 Millionen Menschen Opfer von Repressalien, etwa ein Achtel der Bevölkerung: Sie wurden gefoltert, erschossen, als Arbeitssklaven im Gulag eingesetzt, verbannt in unwirtliche Gebiet, deportiert. Nicht eingerechnet sind die Toten durch den Hunger infolge der Kollektivierung, nicht eingerechnet sind die Toten des Zweiten Weltkriegs. 1956, auf dem Höhepunkt des Gulag, gab es etwa eine Millionen Lagerwächter. Dem Terrorsystem konnte niemand ganz ausweichen, schon weil niemand, bis in höchste Parteiämter hinein, vor ihm sicher war. Nimmt man die uns unvorstellbare Not des Alltags – das dauernde Anstehen, Mangel noch am Nötigsten, die ständig überfüllten Gemeinschaftswohnungen in den explosionsartig wuchernden Städten, das Leben in Erdhöhlen – hinzu, wird die Frage unabweisbar, was diese Gesellschaft zusammenhielt, wie ein Land unter solch aberwitzigen Bedingungen zur Weltmacht werden konnte.
Eine einfache Antwort ist unmöglich. Wer verstehen will, muss die Dinge verkomplizieren. Schlögel rekonstruiert mit dem Jahr 1937 die Urszene, die folgenreicher war als die des Jahres 1917, und betont das Utopische, den Aktivismus, eine aus dem Zugleich verschiedenster Entwicklungen erwachsende Eruptivkraft. Figes dagegen erzählt, wie eine Gesellschaft entstand, „in der in der Gleichmut und Passivität die Norm waren”. Das widerspricht einander nur oberflächlich besehen: Während „Die Flüsterer” von der Alltäglichkeit des Jahrzehnte dauernden Ausnahmezustands berichten, erzählt Schlögel von einem Jahr, in dem der Unterschied zwischen Ausnahmezustand und Alltag hinfällig zu werden schien. Der eine nutzt die tradierte Form der Familiengeschichtsschreibung, der andere folgt dem literarischen Muster aus Michail Bulgakows Jahrhundertroman „Meister und Margarita”: Der Teufel kommt nach Moskau und inszeniert eine Walpurgisnacht heilloser Verwirrung. Während Figes auf die Kraft seines ausufernden Materials setzt, spitzt Schlögel gern zu, liebt den Aphorismus, die schockhafte Erkenntnis.
Ein Liebling Stalins, der Schriftsteller Konstantin Simonow, war Mitte der sechziger Jahre entscheidend daran beteiligt, dass Bulgakows Roman in der Sowjetunion erschien. In einem Album stellte er auch die von der Zensur gestrichenen Passagen zusammen. Simonow war ein Mann mit vielen Gesichtern und noch mehr Privilegien, er ist im Stimmengewirr der „Flüsterer” die Zentralfigur. Er trägt das beeindruckendste Kapitel bei Figes, jenes über die Kriegsjahre. Als Verfasser eines Soldatenliedes wurde er populär: „Wart auf mich, ich komm zurück, / aber warte sehr. / Warte, wenn der Regen fällt, / grau und trüb und schwer”.
Obwohl weiter verhaftet, erschossen, überwacht wurde, hatten Sowjetbürger die Jahre im Kampf gegen Hitler als Intermezzo einer eng begrenzten, aber doch spürbaren Liberalisierung in Erinnerung. Der Feind war real, und nach den katastrophalen Niederlagen der ersten Wochen begannen die von der eigenen Führung Eingeschüchterten und im Stich Gelassenen selbständig zu entscheiden, aktiv zu werden. Opfermut hatten sie in all den Jahren lernen müssen, hinzu kam der Schwung des Freierwerdens. Simonows Verse fanden auch deshalb so viel Widerhall, weil in ihnen persönliches Gefühl und Kampfauftrag zueinander fanden. Der neue, von Stalin geförderte Patriotismus bezog sich elementar auf die Nächsten, Familie und Heimatort, all jene Bindungen, aus denen die Untertanen der Bolschewiki seit 1917 systematisch vertrieben worden waren.
Dass dieser Patriotismus seine Vorgeschichte hatte, dass er keineswegs nur dem Krieg geschuldet war, kann man aus Karl Schlögels fulminanter Studie lernen. Der Osteuropahistoriker löst mit diesem Buch ein Versprechen aus dem Jahr 2003 ein. „Im Raume lesen wir die Zeit”, hatte er damals methodische Reflexionen und Essays überschrieben. Nun erweckt er das Moskau des Meisters und seiner Margarita, die Hauptstadt des Jahres 1937 zum Leben, und es gibt wohl kaum einen zweiten deutschen Historiker, der imstande wäre, auf so bewegende Art Analyse und Vergegenwärtigung zu verbinden. Am Ende seines Romans ließ Michail Bulgakow Margarita aus Moskau fort in eine Freiheit fliegen, Schlögel holt sie zurück, um das „Realphantastische” des Geschehens ins Bild zu bannen, auf den Begriff zu bringen.
Am 2. Juli 1937 veröffentlichte die Prawda ein Dokument zur Durchführung der „allgemeinen, freien, direkten und geheimen Wahlen” zum Obersten Sowjet der UdSSR. Am gleichen Tag beschloss das Politbüro eine Resolution „Über antisowjetische Elemente” – die Grundlage für die Massenerschießungen im Jahr des Großen Terrors, der „Großen Furcht”, wie es bei Figes heißt. Schlögel nimmt das zeitliche Zusammentreffen von sowjetischer Umarmungsgeste und Beginn der systematischen Tötungen sehr ernst, so ernst, wie es wohl genommen werden muss. Die Durchführung der Wahlen, begleitet von einer Massenmobilisierung bis zum Dezember 1937, „implizierte geradezu die physische Ausschaltung all jener Kräfte, die dem Machtmonopol der Kommunistischen Partei hätten gefährlich werden können”.
Die „Säuberungen” boten willkommene Gelegenheit: zum Ausleben menschlicher Niedertracht, gewiss.Auch die vielen, die unter den miserablen Lebensbedingungen litten, darunter, dass nahezu jede Alltagsroutine unendlich erschwert wurde, konnten sich Luft machen. Fabrikdirektoren, Parteigrößen konnten jetzt angeprangert werden. Für die zahlreichen Unfälle gab es nun Verantwortliche – sie waren Verschwörer, „Volksfeinde”. Die Wut entlud sich, weil es nahezu immer an allem fehlte: „Licht, Heizung, Toiletten, Hygiene, ärztliche Versorgung, Verkehrsanbindung”. Nach der Kollektivierung, die das russische Dorf vernichtet hatte, füllten sich die Städte, Moskau voran, mit Zuwanderern. Die Gesellschaft war keineswegs dem Diktator bloß ohnmächtig ausgeliefert, sondern unter und im Terrorsystem „extrem heterogen, chaotisch, anarchisch, eigensinnig”.
Hinzu trat die Gefahr eines Krieges, mit dem Stalin Mitte der dreißiger Jahre fest rechnete. Die Herrschaft der Bolschewiki mochte 1936 so fragil erscheinen, dass sie nur durch Überbietung alles bis dato Vorstellbaren zu retten war. Schlögel spricht, sehr überzeugend, vom „Durchdrehen einer ganzen Gesellschaft”, ausgelöst vor allem dadurch, dass die Menschen auf Dauer an der Grenze physischer und seelischer Erschöpfung leben mussten.
Aber es ist eine Ungerechtigkeit, dieses Buch auf ein paar Thesen reduzieren zu wollen. Sein Verfasser ist viel zu sehr Historiker und von der Idee der Totalität besessen. Er führt den Leser auf die Großbaustelle, die Moskau damals war, berichtet vom Abriss der Erlöser-Kathedrale und den Plänen, an deren Stelle, den Palast der Sowjets zu errichten. Er liest das Adressbuch der Hauptstadt aus dem Jahr 1936 ebenso wie die Tabellen der unterdrückten Volkszählung von 1937 – als die fehlenden Millionen nach Bürgerkrieg und Hungersnöten auffielen. Er sichtet die Filmproduktion, hört den Festreden zum Puschkin-Jubiläum zu, fliegt mit den Piloten – den Helden der Sowjetunion schlechthin – in die Weiten des Landes und in die USA. Er steigt hinab in die Metro-Stationen, nimmt den Ankläger der Schauprozesse beim Wort, besichtigt die Bauten des Moskwa-Wolga-Kanals, von Häftlingen ausgeführt, und wird Zeuge der Erschießungen in Butowo am Stadtrand sowie der Auslöschung der Komintern. Er erzählt von Empfängen in der amerikanischen Botschaft, Durchsuchungen beim Terrorchef Jeshow und lauscht der Rede Frank Lloyd Wrights auf dem ersten sowjetischen Architektenkongress. Er begleitet mit Taktgefühl statt Besserwisserei Lion Feuchtwanger in den Kreml zu Stalin.
Den Anregungen Schlögels folgend, kann man einen Soundtrack des Jahres 1937 zusammenstellen: vom beliebten sowjetischen Jazz über Radioübertragungen zum Massenlied „Weit ist mein Heimatland” – vom deutschen Emigranten Erich Weinert frei übersetzt als „Vaterland, kein Feind soll dich gefährden!”: „Denn es gibt kein andres Land auf Erden, / Wo das Herz so frei dem Menschen schlägt!” Voraussetzung des neuen sowjetischen Klangs ist das Schweigen der Kirchenglocken. Sein Höhepunkt: die Aufführung der Fünften Symphonie von Dmitri Schostakowitsch, in Leningrad am 21. November 1937, in Moskau am 29. Januar 1938. Das ist der Ton dieses entsetzlichen Jahres, eines der erschütterndsten Dokumente des 20. Jahrhunderts. Schostakowitsch reagierte mit der Symphonie auf die vernichtende Kritik an seiner Oper „Lady Macbeth von Mzensk”. Hier ereignet sich, was Marx einst als Aufgabe der Kritik formuliert hatte: Schostakowitsch spielt den versteinerten Verhältnisse ihre eigene Melodie vor. Man hat sie, den 4. Satz, als Triumph- oder als Todesmarsch missdeutet: Geschlagene werden geprügelt, bis sie weitergehen, und dabei jubeln.
Es mag Leser geben, die das für ein entlegenes Thema halten, aber Europa ist nur dann mehr als Parole, wenn die Toten von Majdanek und Solowki gleichberechtigt dazu gehören. Und Moskau 1937 ist, wie Schlögel zu Recht schreibt, ein Geschichtszeichen: „Chiffre für eine der größten geschichtlichen Katastrophen”. Revolutionen waren immer schrecklich, aber der Traum von der gerechten Gesellschaft ist seitdem unauflöslich verbunden mit Terror, Arbeitslager und überwachungsfreundlicher Gemeinschaftswohnung, der Kommunalka.
Orlando Figes
Die Flüsterer
Leben in Stalins Russland. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin Verlag, Berlin 2008. 1036 Seiten, 34 Euro.
Karl Schlögel
Terror und Traum
Moskau 1937. Carl Hanser Verlag, München 2008. 815 Seiten, 29,90 Euro.
„Herrlich liegt die Zukunft uns erschlossen”
Bilder aus der Traumfabrik Kommunismus: Juri Pimenows Gemälde „Das neue Moskau” (1937) antizipiert die kommende Stadt. Die „Monumentalplastik Arbeiter und Kolchosbäuerin” von Vera Muchina wurde für den Pavillon der UdSSR auf der Pariser Welt- ausstellung 1937 geschaffen. Abb: akg, Olaf Jandke / Caro
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2008

Wie die Menschen zu Flüsterern werden

Seelenkrüppel legten es darauf an, den anderen das Leben zur Hölle zu machen: Orlando Figes hat mit Zeugen des Stalinismus gesprochen und trägt ihre erschütternden Berichte zusammen.

Einem jungen Engländer, zu Gast in Russland und im Begriff, sich auf russische Geschichte zu spezialisieren, eröffnete die dramatische Endphase des Sowjetregimes in den Jahren 1985 bis 1991 die Möglichkeit faszinierender Rückblicke. Denn jetzt meldeten sich bei Orlando Figes immer mehr Menschen, die ihm von Vergangenem erzählen wollten.

In der Ära Putins und Medwedjews werden die Schatten dieser Vergangenheit zwar immer unverfrorener ausgeblendet: Russland soll, so der politische Wille, wieder stolz auf seine Geschichte sein. Figes dagegen hält es mit der Minderheit von gewissenhaften Russen, die es für ihre Ehrenpflicht halten, das Andenken der Opfer schlimmer Zeit zu pflegen. Sie wollen Schicksale von Mitbürgern ans Licht ziehen, die man lange verunglimpft und vergessen hat. In enger Zusammenarbeit mit der bewundernswerten Institution "Memorial", einer gesellschaftlichen Initiative am Staat vorbei, führte Figes unzählige Gespräche mit Betroffenen. In die Leiden, aber auch in die Verirrungen des russischen Volks hat er sich dabei so hineingedacht, als wäre er selbst ein Russe.

Aber waren dazu wirklich tausend Seiten nötig? Der Autor schwemmt sein Thema auf, wenn er neben den durchschnittlichen, unscheinbaren Verhaltensmustern, um die es ihm eigentlich geht, allzu viele Prominente einbezieht: etwa den vor aller Welt gedemütigten und dann hingerichteten Komintern-Funktionär Pjatnitzki, aber auch Konstantin Simonow, einen Nutznießer des Systems: Dieser vielgelesene Autor verstand es, mit echter Begeisterung und abstoßender Gefügigkeit eine führende Rolle im Kulturbetrieb zu erobern und zu behaupten. Was haben diese beiden Fälle aber mit Durchschnittsschicksalen gemeinsam? Das Interesse des Autors für Simonow hat wohl zu Ursache, dass er näher mit den beiden Familien bekannt wurde, die der Schriftsteller gegründet hatte. Das öffnete offenbar den Zugang zu Gesprächskontakten mit weiteren Familien.

Eingangs verspricht Figes, die oft behandelte politische Geschichte mit ihrer heikelsten Frage, was Stalin mit seinem Terror bezweckte, außer Acht zu lassen. Später kommt er aber als Historiker doch darauf zu sprechen, ohne freilich entscheidend neue Einsichten präsentieren zu können.

Von dem, was sich als unnötiges Beiwerk entpuppt, ist der Kern des Buches zu trennen, der den Familien als eine Art von kollektiver Hauptperson gewidmet ist. Die Fragen lauten: Was hat sich in ihnen abgespielt? Wie reagierten die Betroffenen auf das, was ihnen widerfuhr? Die Palette, die sich dabei ergibt, reicht von einer nie erlöschenden Begeisterung für die große Zukunftsvision der Bolschewiki über eine klaglos-patriotische Loyalität bis zu Kindern, die ihre Eltern verrieten, weil sie das dem Kommunismus schuldig zu sein glaubten. Und neben feigem Opportunimus begegnen Beispiele mutiger Hilfsbereitschaft aus dem Verwandten- und Freundeskreis.

Figes reiht eine lange Reihe von menschlichen Schicksalen mit exemplarischen Bedeutung auf und läuft dabei Gefahr, dass der Leser insgesamt wenig behält. Leichter haben es doch Erzähler und Filmemacher, die Einzelfälle von exemplarischer Bedeutung herausgreifen und anschaulich machen. Wie der Terror als Blitz aus heiterem Himmel in ein regimetreues Milieu einschlagen und Familien sprengen konnte, hat Lidija Tschukowskaja aus eigener Erfahrung 1940 in die packende Erzählung "Haus ohne Hüter" gegossen, die lange verborgen werden musste. Und im Film "Von der Sonne getäuscht" wandelt sich ein lustig mit den Kindern spielender Familienfreund in den bereitwilligen Handlanger der Ermordung eines bolschewistischen Bürgerkriegshelden. Derartig schauerliche Geschichten bleiben haften, was Figes mit seinen tatsächlichen Fällen nur selten gelingt.

Für eine russische Leserschaft dürfte die Form einer langen Aufreihung durchaus Sinn haben. Denn sie kann, wenn Orte, Situationen und Personen genannt werden, diese in Wohlbekanntes aus dem eigenen Gesichtskreis einordnen. So ergibt sich hier eine durchaus angemessene Form von Vergangenheitsbewältigung. Den angelsächsischen und deutschsprachigen Lesern hätten dagegen mehr Hilfen gegeben werden müssen. Vorab sollten sie wissen, welche Segmente der Bevölkerung mehr als andere vom Terror betroffen wurden.

Paradoxerweise waren es gerade die Schichten, die von den Ausbildungs- und Karrierechancen der Sowjetzeit am meisten profitiert hatten. Unter den von Figes herausgegriffenen Fällen sind mir keine aufgefallen, die durch eine abweichende weltanschauliche Prägung, etwa durch einen festen christlichen Glauben, für Opferrollen prädestiniert waren. Wir hören in der Regel von Menschen, die sich in der neuen Ordnung aufgehoben fühlten und nach schweren Jahren auf sich ständig bessernde Lebensverhältnisse hoffen durften. Ebendas hat es ihnen erschwert, ihre unerwarteten Leiden innerlich zu verarbeiten.

Die sowjetische Bevölkerung wurde offenbar weit durchgängiger und von viel mehr festangestellten Zuträgern bespitzelt als bisher angenommen. Figes etikettiert die sowjetische Gesellschaft als "Flüsterer". Auch in Deutschland wurde geflüstert, aber nicht überall war das nötig. In ihren Notizen hielt die Journalistin Ursula von Kardorff ein geselliges Beisammensein fest, bei dem in Berlin ungefähr fünfzig Eingeladene beieinanderstanden. Kurz nach dem Fall von Stalingrad und Tunis wurde in Gesprächsgrüppchen vom Leder gezogen. Hätte nicht das Regime die Ohren spitzen sollen für das, was in einem Kreis von Offizieren, Intellektuellen und Leuten der Wirtschaft und Verwaltung in einem kritischen Moment geäußert wurde? In der Sowjetunion hätte man sich solche Unachtsamkeit nicht erlaubt.

Die Reihe der damit angedeuteten Unterscheide ließe sich verlängern. Aber das Ergebnis liegt fest. Bei allen Gemeinsamkeiten waren Hitlers Grausamkeiten zum guten Teil von anderer Art als Stalins Terror. Unmenschlich waren beide, aber sie drückten sich in unterschiedlichen Formen aus.

Ein Hauptverdienst von Figes' Buch besteht darin, dass er viele vom Stalinismus Betroffene zum Reden brachte und das Gehörte festhielt, ehe es keine Zeugen mehr gibt.

GOTTFRIED SCHRAMM

Orlando Figes: "Die Flüsterer". Leben in Stalins Russland. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin Verlag, Berlin 2008. 1036 S., Abb., geb., 34,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Der britische Historiker hat das Standardwerk über das Leben im Stalinismus verfasst." Die Welt, 11.8.2008

"Diese ehrfurchtgebietende Arbeit über und die Tragödie und das unfassbare Elend, in das das Sowjetregime sein Volk stürzte, ist Erzählung und Zeugnis zugleich und eines der herrzerreißendsten, gewaltigsten Bücher, und unvergesslichsten Bücher, die ich je über die Tragödien des 20. Jahrhunderts gelesen habe. Viele Male hat es mich zu Tränen gerührt." Die Welt, 11.8.2008

Aufmacher des Literaturteils der ZEIT vom 14. August ist Jörg Baberowskis zweiseitige Rezension der Flüsterer. Baberowski ist Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt Universität zu Berlin: "Orlando Figes erzählt meisterhaft über den Alltag im Stalinistischen Russland....Figes bringt Menschen zum Sprechen, seine Erzählkunst erzeugt Bilder, die man nicht wieder vergisst."

Rudolf Walther zeigt sich in der Frankfurter Rundschau vom 16. August tief beeindruckt von Orlando Figes, der einen "riesigen Materialberg" zu einer "umfangreichen Studie" verdichtet hat: "Die Schicksale, die Figes dokumentiert, ergänzen das Wissen über das stalinistische Lagersystem um Gesichter, in denen die Ganze Abgründigkeit des Stalinismus sichtbar wird und die jeden erschüttern. Ein wichtiges Buch."
1.9.2008: Platz eins der SZ-Bestenliste für Figes und die unabhängige Darmstädter Jury erklärt 'Die Flüsterer' ebenfalls zum Buch des Monats September.

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Jens Bisky legt uns zwei Bücher ans Herz, die fast zeitgleich erscheinen und sich beide in ganz neuer Dringlichkeit mit den stalinistischen Schreckensjahren beschäftigen. Anders als Karl Schlögel in seinem "Moskau 1937" verfolgt der britische Historiker Orlando Figes in seinen Buch "Die Flüsterer" einzelne Biografien und Familiengeschichten, die er zusammen mit der russischen Gedenkorganisation Memorial zusammengetragen hat. Eine "Welt des Unglücks" hat Bisky dabei schaudernd betreten, in der "Rechtlosigkeit, Angst, Sklavenarbeit, Verrat, Heuchelei" herrschten. Beeindruckt haben ihn dabei vor allem die Darstellung des Literaturkaders und Stalin-Günstlings Konstantin Simonow wie auch die der Antonina Golowina: Sie wurde als Tochter von Kulaken mit acht Jahren verbannt, beschloss mit 18, ihre Herkunft durch besonders eiserne Karriere wiedergutzumachen. Am Ende ihres Lebens stellte sich heraus, dass ihre beiden Ehemännern ebenfalls aus verfolgten Familien stammten, ohne dass sie jemals darüber gesprochen hätten.

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