Produktdetails
  • Verlag: Berlin Verlag
  • Seitenzahl: 107
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 210g
  • ISBN-13: 9783827003546
  • ISBN-10: 3827003547
  • Artikelnr.: 08533630
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.06.2000

Wo das Wort Vermögen nichts mit Geld zu tun hat
Patricia Görgs malerisches Schreiben von Gemälden und von dem, der sie bewacht
Maat ist Museumswärter, er bewacht das Mittelalter. „Manchmal glaubt er, alles sei tot, nur die alten Bilder lebten noch, geschützt von ihrem Firnis, hinter dem sie Landschaften aufbewahren, die einmal die Welt waren. ” Die Welt, die Maat zwischen seiner Wohnung und dem Museum durchquert, ist für ihn schon längst zum Bild geworden: „Er geht über einen sanft ansteigenden, gelben Hügel. Links und rechts stehen Galgen im ersten Licht. Hunde spielen. Frauen tragen Körbe mit Obst. ”
Zu Hause sitzt Maat vor dem Fernsehgerät; allabendlich sieht er die Sendung „Glücksspagat”: Kandidaten mit verbundenen Augen tasten nach Gewinnen: Waschmaschinen, Entsafter, Thermoskannen. „Manchmal denkt er, dass die Hände, die durch seinen Feierabend zucken, ohne es zu wissen nach den alten Bildern suchen. ” Auf den Bildern, mit denen Maat seine Tage verbringt, erscheint Gott in einer Wolke und schickt Worte, die als Regen niedergehen. Die Königin von Saba besucht Salomon, Engel verkündigen große Freude, und Maria beugt sich über ihr auserwähltes Kind. „Alles ist in die Stille eines Traums getaucht. ”
Patricia Görg hat für diesen Text beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb das Telekom-Stipendium erhalten. Sie war bisher als Rundfunk- und Hörspielautorin bekannt; in dieser Prosa hat sie ein Bild erschaffen. Denn ihr Schreiben ist ein malerisches: Handlung findet nicht statt, aber Bedeutung enthüllt sich in der Komposition aus Farbe, Rhythmik und Form. Sie grundiert ihre Prosa im Graugrün der Museumswände, der Tönung „welkender Topfpflanzen”, und vor dem Hintergrund dieser Nichtfarbe beginnt der Goldgrund der alten Bilder zu leuchten. Die Sprache von Patricia Görg hat die Präzision der wahren Poesie; sie entfaltet sich besonders dann, wenn sie die Gemälde beschreibt: „Gott beugt sich nieder zur Erde. Der erste Mensch wächst ihm entgegen. Engel drängen vom Firmament und schwingen Weihrauchfässer. Der Mensch ist der Erde erst zur Hälfte entwachsen. Ohne ihn zu berühren, zieht Gott ihn ins Leben. ”
Die Bilder erzählen von bedeutsamen Ereignissen, während die Fernsehbilder Größe und Bedeutung nur behaupten. Die Welt, die auf dem Bildschirm stattfindet, ist von greller Absurdität: „Der Spielleiter ist in Fahrt gekommen. Er springt in den Handstand. Aus seinen Taschen rollen Münzen. Die Assistentinnen bringen ein Bündel Geldscheine und befestigen sie mit Wäscheklammern an seinen Hosenbeinen. ” Das Glück besteht in der Fernsehwelt aus dem Gewinn von Dingen; Maat aber, der vierzig Jahre zwischen den mittelalterlichen Bildern verbracht hat, sehnt sich nach einer Welt, „in der das Wort Vermögen nichts mit Geld zu tun hat. ”
Hände sind ein Leitmotiv dieses Textes. Maats Hände, die hinter dem Rücken verschränkt sind und „tagblind träumen”; die Hände der Assistentinnen in der Spielshow „wie eine Meute gut gezogener Hunde”; die Finger der Kandidaten auf der Suche nach dem Glück „wie kleine Fische, die nahe der Wasseroberfläche ihren Schwarm verloren haben”; die Hände Salomons, der Finger Gottes. An seinem letzten Tag im Museum wird Maat seine Hand auf ein Bild legen und die Alarmanlage auslösen.
Patricia Görg beschreibt in oft schmerzhaft zu lesender Intensität den Verlust der tiefen Gebärden und Gesten. Ihre Prosa trauert; ihr Maat ist inmitten seiner Kollegen ein Einsamer, dessen Wunsch und Schicksal es ist, in den Bildern zu verschwinden. „Maria Magdalena blickt aufs Meer. Über ihr und ihren Gefährten wölbt sich der Himmel. Er wiederholt sich in den Heiligenscheinen, die sich um ihre Köpfe schließen. In der Mitte des Bildes ragt der gekreuzte Mast auf. Das Boot ist bereit. Das Meer erwartet Die Irrfahrt der Heiligen. ” Museumswärter Maat mit dem unsichtbaren Heiligenschein wird seine wahre Heimat betreten; er wird die falsche Welt des Glücksspagats hinter sich lassen.
Patricia Görgs Sicht auf die Welt ist unbarmherzig genau. Für Trost ist da kein Platz, aber der Goldgrund der alten Bilder hat fünfhundert Jahre überlebt und wird, das dürfen wir annehmen, noch viele hundert Jahre leuchten: „Es ist, als könnten die Gemalten weit in die Ferne sehen, bis in die Zeiten, die nach Maat und nach der Fliege kommen, Zeiten, in denen die Finger Gottes vielleicht wieder am oberen Bildrand aus den Wolken brechen wird. ”
MARGRIT IRGANG
PATRICIA GÖRG: Glücksspagat. Berlin Verlag, Berlin 2000, 108 S. , 29,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.05.2000

Fliege auf Goldgrund
Zwischen Wort und Bild: Patricia Görgs Erzählung "Glücksspagat"

Wir müssen uns Maat als einen glücklichen Menschen vorstellen. Seine Tage verbringt er im Museum, als Wärter. Seit vierzig Jahren passt er in der Abteilung "Mittelalter" auf, dass kein vorwitziger Besucher die Nase zu nah an den Goldgrund hält und Alarm auslöst. Seine Abende gehören dem Fernsehen, genauer: der Spielshow "Glücksspagat", in der die Kandidaten mit verbundenen Augen Haushaltsgeräte ertasten und gewinnen können.

Maats Leben zerfällt in zwei Teile, die vollkommen gleichförmig verlaufen und, so fremd sie einander sind, perfekt korrespondieren. Die Kunst, die er bewacht, ist von ewiger Gültigkeit, die Spielshow, die er betrachtet, von zeitloser Gegenwart. Von beiden geht ein Glücksversprechen aus; das eine macht Maat süchtig, das andere alle Welt. Die alten Bilder künden von einer göttlichen Ordnung, die verschwunden und unbegreiflich geworden ist; die neuen Produkte von der Herrschaft des Wettbewerbs und des Überflusses, genauer des Überflüssigen, das es zu ergattern gilt. Wer braucht allen Ernstes einen Entsafter, einen Heimtrainer, eine Hollywoodschaukel? Trotzdem kämpfen die Kandidaten darum, als ginge es um ihr Leben: "Die Antworten liegen ihnen nicht auf der Zunge. Sie reißen sich Arme und Beine danach aus."

Zwei Welten also, die sich ferner nicht sein können, und dazwischen Maat, dessen Leben nach dem Uhrwerk verläuft, der "in seinem Dienstanzug wohnt", ein Mensch, durch den man "beinahe hindurchsehen" kann: Er ragt in beide hinein. Mit durchaus unterschiedlichen Folgen: Während der "Glücksspagat", vor dem er regelmäßig auf dem Sofa einschläft, seine Träume besetzt, wobei sich das harmlose Quiz in blutige Metzeleien verwandelt, ist das Mittelalter, so nah wie fern, der Ort seiner Sehnsucht: nach "Zeiten, in denen der Finger Gottes vielleicht wieder am oberen Bildrand aus den Wolken brechen wird". Diese Sehnsucht erfüllt sich erst, als Maat die Gegenwart genommen wird: Sein Museumsdirektor gibt ihm frei, für immer, und ein paar Geldscheine dazu. An seinem unfreiwillig letzten Arbeitstag lässt sich der ewige Aufseher einschließen und tritt in eines der Bilder ein. Es ist "Die Irrfahrt auf dem Meer". Es hat ihn erwartet und nimmt ihn auf.

Patricia Görgs Erzählung "Glücksspagat", beim letztjährigen Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis mit einem Stipendium bedacht, lässt einen nicht los. Sie zwingt zu langsamer, sorgfältiger Lektüre, fast möchte man sagen: Betrachtung. Die Komplementarität zwischen Bildern und Fernsehshow, zwischen Heilsversprechen und Glückssurrogaten mag zwar reizvoll, aber doch etwas bemüht, ihre Durchführung eine Spur zu schematisch ausgefallen sein. Was aber besticht bei diesem Erzähldebüt, ist ein anderer Spagat: der zwischen Worten und Bildern. Abstraktes und Konkretes, Bezeichnungs- und Bedeutungsebene verschränken sich zu anmutigen und erstaunlichen Konstellationen. Bilder werden freigesetzt, die in der Sprache verborgen waren, ja gefangen.

Es sind Bilder, die ihre Herkunft aus der Traum- oder der Warenwelt nicht verleugnen und sich doch in ganz andere Richtungen weiterentwickeln. Da taucht das Glück auf: "wie ein dicker Tropfen Kondensmilch, kurz bevor er vom Löffel abreißt und fällt". Eine Fliege "setzt sich auf Heiligenscheine und leckt sie blank. Sie läuft über fünfhundert Jahre alte Gesichter, was aussieht, als ob ein plötzlicher Gedanke die Gesichter heimsucht. Maat sieht die Fliege aus den Augenwinkeln, am Rande seiner Wahrnehmung; er sieht, dass sie das Mittelalter mit ihren Facettenaugen betrachtet und auf Tauglichkeit prüft. Er hört sie in den Ritzen seiner Wirklichkeit summen." Auf einem anderen Bild hält Maria das Kind auf dem Schoß: "Ringsum sinkt die Zeit zu Boden, müde vom Antreiben der Uhren." Wenn der Leser das Buch in den Schoß sinken lässt, dürfen wir ihn uns als einen glücklichen Menschen vorstellen.

MARTIN EBEL

Patricia Görg: "Glücksspagat". Eine Erzählung. Berlin Verlag, Berlin 2000. 108 S., geb., 29,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Ein wenig befremdlich findet Rezensent Jörg Plath die von Patricia Görg vorgenommene Überkreuzung von mittelalterlicher Heilsgeschichte und gegenwärtigem Fernsehglücksspielunwesen schon. Gelungen seien die oftmals "lyrischen" Beschreibungen der Heiligenbilder, die der Held der Erzählung tagsüber beaufsichtigt. Etwas bedenklich wird es aber, gibt Plath zu bedenken, wenn er schließlich in eines der Bilder eintritt und die Erzählung damit in den "Hafen der ordo salutis" einläuft. Letztendlich spreche allerdings auch das für die "bemerkenswerte Geschlossenheit" der Geschichte.

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