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Am Ende seines Lebens, über sechzig Jahre nach den ersten Konzepten für ein Faustdrama, schließt Goethe die Arbeit am Faustmanuskript ab. Die im zweiten Tragödienteil noch fehlenden Szenen schreibt der Einundachtzigjährige zwischen den Sommermonaten des Jahres 1830 und Juli 1831. Die Studie liest die zuletzt entstandenen Passagen von Goethes Lebenswerk vor dem Hintergrund des Revolutionsjahres 1830. Eine Tragödie, die am Vorabend der mit der industriellen Revolution anbrechenden modernen Welt spielt, kommt hier in den Blick. Im Horizont dieses die Epoche kennzeichnenden fundamentalen Bruchs…mehr

Produktbeschreibung
Am Ende seines Lebens, über sechzig Jahre nach den ersten Konzepten für ein Faustdrama, schließt Goethe die Arbeit am Faustmanuskript ab. Die im zweiten Tragödienteil noch fehlenden Szenen schreibt der Einundachtzigjährige zwischen den Sommermonaten des Jahres 1830 und Juli 1831. Die Studie liest die zuletzt entstandenen Passagen von Goethes Lebenswerk vor dem Hintergrund des Revolutionsjahres 1830. Eine Tragödie, die am Vorabend der mit der industriellen Revolution anbrechenden modernen Welt spielt, kommt hier in den Blick. Im Horizont dieses die Epoche kennzeichnenden fundamentalen Bruchs der Überlieferung werden die zuletzt geschriebenen Faustszenen als dramatischer Ausdruck der Krise des europäischen Bewusstseins und als Zeugnis für die äußerste Resignation des späten Goethe gedeutet. In diesem Sinne werden desgleichen Briefe, Gespräche und Tagebuchnotate aus den beiden letzten Lebensjahren Goethes erschlossen.
Autorenporträt
Michael Jaeger lebt als Autor und Literaturwissenschaftler in Berlin. An der Freien Universität Berlin ist er Privatdozent für Deutsche Philologie. Er hat zahlreiche Arbeiten zu Goethe, zur Goethe-Rezeption sowie zur Ideengeschichte der Moderne veröffentlicht. Unterdessen in 3. Aufl age liegt im Verlag Königshausen & Neumann bereits seine Studie Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne vor.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit einer gelehrten Besprechung würdigt Rezensent Manfred Osten Michael Jaegers Monografie zu Goethes Faust. Ausgehend von seiner in "Fausts Kolonie" vorgenommen Interpretation des "Faust" als Tragödie moderner Fortschrittsutopien analysiere Jaeger hier die Bedeutung des Dramas für Goethes Biografie, informiert der Kritiker. Geradezu "fulminant" findet Osten diese einleuchtende und akribische Untersuchung, in welcher der Literaturwissenschaftler mit Blick auf die lange Entstehungszeit des "Faust" nachweise, wie sich Goethes Biografie mit historischen Ereignissen, etwa der Französischen Revolution oder der Juli-Revolution 1830 verschränkte und sich sein Verständnis der Moderne entwickelte. Überzeugend erscheint dem Rezensenten auch Jaegers Gleichsetzung des Wanderers aus dem Faust II mit Goethes eigener Person.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.11.2014

Der Vorschein unserer Katastrophen
Tragödie der Moderne, Tragödie Goethes: Michael Jaegers großartige Lesart des „Faust“.
Er spricht von Goethes „Fassungslosigkeit“ vor dem Kommenden und spart überhaupt nicht mit leidenschaftlichen Worten
VON GUSTAV SEIBT
Ist Goethes „Faust“ wirklich eine Tragödie? Das kann man bezweifeln, denn das Stück endet in mystischen Sphärenharmonien: Der Held des zweiteiligen Dramas wird erlöst und in den Himmel entrückt. Mephisto, der Teufel, erscheint düpiert. Die Tragödien finden vorher statt: Gretchen, Fausts Geliebte, stirbt verzweifelt und wahnsinnig im Kerker, als Opfer seiner Gier. Und im fünften Akt des zweiten Teils wird der heilige Bezirk des uralten Paars Philemon und Baucis durch Fausts planwirtschaftliches Kolonisationsprojekt brutal untergepflügt, Kirchlein und Bäume gehen in Flammen auf, die beiden Alten sterben vor Schreck. Mit ihnen versinkt eine ganze Welt aus heidnisch-antiker, jüdischer und christlicher Frömmigkeit und Menschlichkeit.
  So stellt es Michael Jaeger dar, der seine 2004 in der monumentalen Monografie „Fausts Kolonie“ begonnenen Forschungen jetzt mit einem ähnlich wuchtigen Werk krönt. „Wanderers Verstummen, Goethes Schweigen, Fausts Tragödie“ ist, das lässt sich ohne Risiko behaupten, das Goethe-Buch des Jahres, und es wird die Diskussionen über Goethes Hauptwerk noch lange bestimmen. Jaeger spitzt seine 2008 in dem Essay „Global Player Faust“ popularisierte modernekritische Interpretation noch einmal zu; ja, er dramatisiert und biografisiert sie auf eine methodisch möglicherweise angreifbare, für den Leser aber ungeheuer reizvolle Weise.
  Als Philologe hat sich Jaeger die Aufgabe gestellt, Goethes Arbeit am „Faust“ in seinen biografischen und zeitgeschichtlichen Bezügen Schritt für Schritt zu rekonstruieren. Schon das ist aufregend, denn der „Faust“ entstand nicht linear in der Folge seiner Szenen und Akte, sondern sprunghaft und punktuell in einem langwierigen Prozess zwischen 1773 und 1831, parallel zu Goethes eigener geistigen Entwicklung, immer neu stimuliert von zeitgeschichtlichen Erfahrungen. Die Epoche der Revolution in der Sattelzeit um 1800 schlug sich schichtenweise darin nieder.
  Noch in die am spätesten fertiggestellten Szenen (es sind nicht die letzten des Werks) gingen Tagesaktualitäten aus der Juli-Revolution von 1830 und ihrer frühsozialistischen Begleitmusik ein: Fausts „Kolonie“, das industrielle Großprojekt von Landgewinnung, Kanalbau, Siedlung, samt Maschinenwesen und Menschenverschleiß, reflektierte den allerneuesten Theorie-Stoff, den Goethe mit Verwunderung und Entsetzen der Pariser Tagespresse entnahm.
  Die in die Zukunft weisenden Bezüge auf die große Transformation der Welt zur kapitalistischen Industriewirtschaft, die Goethe mit dem Anspielungsmaterial der europäischen Kulturgeschichte seit dem Trojanischen Krieg Homers, seit dem biblischen Moses und seit Gottes Disput mit Hiob kontrastierte und amalgamierte, waren den Kommentatoren natürlich seit langem bekannt: Dass Goethe die „Religion“ des Grafen von Saint-Simon studiert hat und den zu seinen Lebzeiten gerade noch greifbaren Vorschein der Planungsutopien, die dann das 20. Jahrhundert beherrschen sollten, in die allerletzten „Faust“-Partien einarbeitete, das weiß die Germanistik seit 1935. Nur, was folgte daraus? Ist der „Faust“ ein kühnes Fortschrittsdrama oder ein Werk des verzweifelten Weltabschieds einer untergehenden Kultur?
  Dass Jaeger der zweiten Interpretation anhängt, dass seine Gewährsmänner nicht Hegel, Marx und Lukácz, sondern Jacob Burckhardt, Karl Löwith und Pierre Hadot sind, wusste man aus seinen vorangehenden Büchern. Niemand hat die „perfektibilistische“, also fortschrittsgläubige, zukunftsfrohe Lesart des „Faust“ so eloquent und schlüssig angefochten wie der zeitdiagnostisch wache Jaeger, dessen Befunde in den Jahren der reißenden Digitalisierung und der Finanzkrise auch ein breites nichtfachliches Publikum interessierten, nicht zuletzt in den Theatern.
  Das neue Buch untermauert diese nicht unangefochten gebliebene Interpretation durch Darstellung all dessen, was in Goethes Leben und Denken gegen die faustische Existenz steht. Und da erweist sich als das eigentliche Gegenbuch zum „Faust“ die „Italienische Reise“, Goethes glückhafte Erfahrung von klassischem Boden, beruhigtem Dasein, Einklang von Subjekt und Welt, von erotischer Erfüllung, von Licht, Natur und Schönheit. „Es sei wie es wolle, es war doch so schön!“, der Ausruf des Türmers im letzten Akt ist nicht nur der Einspruch gegen Fausts Wette mit dem Teufel um den schönen Augenblick, der nicht verweilen darf, er ist in Jaegers Lesart der Grundton des italienischen Goethe auf dem glückhaften Kulminationspunkt seines Lebens.
  Und so ist der Stellvertreter des Autors im Werk nicht Faust, sondern jener „Wanderer“, der im zweiten Teil zu Beginn des fünften Akts noch einmal bei Philemon und Baucis vorbeischaut, in dankbarem Gedenken an frühere Gastfreundschaft; er wird verzweifelter Zeuge ihres Untergangs und stirbt mit ihnen. Goethe hätte also sich selbst und seine eigenen Lebensideale auf dem Scheiterhaufen des faustisch-mephistophelischen Fortschrittsprojekts in Flammen aufgehen lassen, zusammen mit der alteuropäischen Humanität, die in der Welt des uralten Paars symbolisiert ist. Jaeger nennt das immer wieder „herzzerreißend“, er spricht von Goethes „Fassungslosigkeit“ vor dem Kommenden und spart überhaupt nicht mit leidenschaftlichen Worten.
  Das wäre nicht mehr als eine beeindruckende Anwendung Goethescher Motive auf zeitdiagnostische Fragen, würde Jaeger seine große Antithese philologisch nicht so präzise, detailversessen und findig durchführen. Wie er das macht, ist fast durchweg brillant und in seiner Gründlichkeit hochunterhaltsam. Das beginnt damit, dass Jaeger zeigen kann, wie die wenigen 1788 in Italien dem „Urfaust“ hinzugefügten Szenen den Sinn der Faust-Figur ins Finstere drehen, wie damit erst die Bahn auf jene um 1800 entworfene „Wette“ zwischen Faust und Mephisto um das gelingende Leben eröffnet wird.
  Dass die beiden „Faust“-Teile eine echte Tragödie darstellen, erweist sich dann nicht nur an den Schreckensszenen um Gretchen und die beiden Alten Philemon und Baucis, sondern auch im starken arkadischen Widerlager, das die Rastlosigkeit Fausts immer wieder findet. Es gibt lange Momente des Ausatmens, der kontemplativen Beruhigung, der reinen klassischen Schönheit: die „Anmutige Gegend“ zu Beginn des zweiten Teils, die „Klassische Walpurgis-Nacht“, in der das geklonte Wesen Homunkulus von der Liebesgöttin Venus-Galatea erlöst wird, der Helena-Akt mit der Beschwörung Griechenlands in den schönsten Versen der deutschen Sprache.
  Und auch hier sind die philologischen Befunde, beispielsweise zum Ineinander der Entstehung des „Zweiten Römischen Aufenthalts“ mit dem Abschluss der „Faust“-Arbeiten, alles andere als detailverliebter Kleinkram. Jaeger schreibt zugleich eine Biografie des alten Goethe, der sein letztes großes Werk durch eine raffinierte Strategie des Schweigens, der verhüllenden Andeutungen, der Verzögerungen und am Ende der erst postumen Veröffentlichung absichert; und der dieses prekäre Unternehmen einer Abfolge von Erschütterungen, dem Tod des Sohnes August in Rom, schwerer Krankheit und dem Schock der Juli-Revolution, abtrotzt. Alle Goetheschen Lebenstechniken – neben dem Schweigen ist hier das Erinnern, das Nacherleben der eigenen Biografie, die wiederholte Spiegelung zu nennen – werden in der philologischen Rekonstruktion zu Denkprozessen und zu poetischen Verfahren.
  So wird aus dem Dichter Goethe noch einmal der Lebensphilosoph und Lebenskünstler, aber nicht in dem summarisch-verwaschenen Ton, mit dem manche Goethe-Deuter Zitate als „Weisheiten“ arrangieren, sondern in der Entfaltung der geistigen und existenziellen Spannungen dieses Lebens. Eine von Jaegers Pointen mit großem Wirkungspotenzial ist die Rekonstruktion von Goethes Erfahrung eines Epochenbruchs bei vollständiger Ablehnung von geschichtsphilosophischen Rationalisierungen. Als Zeitgenosse der Revolution blieb Goethe, wenn Jaeger recht hat, ein bewusst vorrevolutionärer, anthropologischer Geschichtsdenker. Die große Transformation in die moderne Welt betrachtete er von außen und von Ferne. Nie hätte er wie Burckhardt sagen können: Wir sind die Welle selbst.
  Nur eines wäre vielleicht gegen Jaegers großartige Arbeit einzuwenden: Faust ist nicht nur der Anti-Typus der Goetheschen Lebenskunst und seiner „Klassik“, er ist, diesseits der Geschichtsphilosophie, bis zum Schluss die andere Möglichkeit seiner Existenz, der übermächtige, nur durch himmlische Mächte zu bannende Finsternis-Schatten über diesem farbenverliebten Lichtanbeter. Trauer, Schrecken, Angst, Hässlichkeit, sie werden im „Faust“ ja nicht nur benannt, sie sind in ihm gegenwärtig und fassbar.
  Faust wird gerettet, aber der „Wanderer“, also Goethes Wiedergänger, erliegt trostlos der Gewalt, vermutlich wird er nicht einmal bestattet – auch in dieser Konstellation erweist sich der „Faust“ als Tragödie. Selten ist man ihrem geistesgeschichtlichen und zugleich intim biografischen Sinn so nahe gekommen wie in Michael Jaegers Buch.
Michael Jaeger: Wanderers Verstummen, Goethes Schweigen, Fausts Tragödie. Oder: Die große Transformation der Welt. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014. 600 Seiten, 46 Euro.
In die spätesten „Faust“-Szenen
noch gingen Tagesaktualitäten
aus der Juli-Revolution 1830 ein
Als Zeitgenosse der Revolution
blieb Goethe ein bewusst
vorrevolutionärer Denker
Herzzerreißend! Faust (Werner Wölbern) mit Philemon und Baucis,
den Opfern der Modernisierung, in Martin Kušejs Inszenierung am Münchner
Residenztheater. Darunter Emil Jannings als Murnaus Mephisto
und Bruno Ganz als Peter Steins Faust, im Jahr 2000, den Erdgeist beschwörend.
Foto: Fotos: Matthias Horn, Scherl, ddp
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.2015

Alles ist jetzt ultra, keiner kennt sich mehr
Die verstörendste und modernste Figur seines Werks war Goethe selbst: Michael Jaeger deutet die Faust-Tragödie neu

Als Michael Jaeger in seiner großen Monographie "Fausts Kolonie" (2004) Goethes "Faust" schlüssig als Tragödie moderner Fortschrittsutopien deutete, war die deutsche Germanistik und Goethe-Philologie misstrauisch. Hatte er doch mit seiner Karl Löwith verpflichteten Kritik der Geschichtsphilosophie fundiert und eloquent jeder zukunftsfrohen Deutung des "Faust" widersprochen. Vor dem Hintergrund der Finanzkrise und des Turbokapitalismus indes faszinierte Jaegers schwarz-prophetische Lesart der Moderne im Lichte des zweiten Teils der Faust-Tragödie ein breites Publikum.

Offen blieb, wie Goethe selbst diese einleuchtende Lesart bewältigte. Indem er sich jede Hoffnung verbat? Oder hat er bis zuletzt die Kunst des Lebens über dem selbsterkannten Abgrund praktiziert, nach der Devise: "Wohl kamst du durch; so ging es allenfalls! / Mach's einer nach und breche nicht den Hals." Rüdiger Safranski hat mit guten Gründen in seiner Biographie des Dichters das Goethesche "Kunstwerk des Lebens" in diesem pragmatisch-lebensklugen Sinne einer Kunst des Überlebens gedeutet.

Der Titel von Jaegers neuer Monographie "Wanderers Verstummen - Goethes Schweigen, Fausts Tragödie" ist wegweisend, weil der Autor hier auf sechshundert Seiten mit entwaffnender Gründlichkeit zeigt, dass Fausts Tragödie künftig nicht mehr ohne ihre wirkmächtige Bedeutung für Goethes eigene Biographie gelesen werden darf. Jaeger widerspricht damit jedem Versuch, Goethes Altersbiographie im milden Licht einer jovialen Seniorenweisheit zu betrachten. Stattdessen löst er Goethes Verdikt aus den "Maximen und Reflexionen" ein: "Die Weisheit ist nur in der Wahrheit." Und die Wahrheit, der Jaeger in dieser fulminanten Goethe-Recherche auf der Spur ist, macht sprachlos.

Abgesänge auf den Kapitalismus erscheinen im Schlussakt der Faust-Tragödie als kaum wahrscheinlich. Goethe hat es bereits vor zweihundert Jahren herausgedrängt aus einer kapitalgesteuerten Moderne, die er als universelles Geschehen verstand, das den Menschen rettungslos in eine posthumane Zukunft zieht. Dass Goethe dieses mit der Französischen Revolution und der industriellen Revolution entfesselte Geschehen als irreversibel empfunden hat, gehört zu Jaegers faszinierenden Forschungsergebnissen. "Faust" darf daher nicht nur als Tragödie des "Global Players" (wie er Faust in seinem Essay 2008 definiert hat) gelesen werden, sondern auch als Goethes eigene Tragödie.

Dieser Nachweis gelingt Jaeger, indem er den zum Teil sprunghaften, immer wieder unterbrochenen Prozess der Arbeit Goethes am "Faust" von 1773 bis 1831 synchron verfolgt, das heißt sowohl zeitgeschichtlich wie biographisch. Er tut dies mit großer Akribie - und deckt auf diese Weise erhellend die wiederholten Spiegelungen auf, die sich aus den Verschränkungen von Goethes Biographie mit den historischen Ereignissen ergeben: von der Französischen Revolution bis zur Juli-Revolution 1830, vom Aufkommen des Maschinenwesens bis zur frühsozialistischen "Religion" der Saint-Simonisten in Frankreich. Transparent werden vor allem die Grundrisse des in Italien gewonnenen Goethe'schen Entwurfs einer glückhaft beruhigten Welt, einer Welt der vita contemplativa, in der auf klassischem Boden für Goethe noch einmal der Einklang von Subjekt und Welt, Liebe und Schönheit, Licht, Natur und erfüllter Gegenwart gelang. Wie er es 1828 Eckermann gegenüber ausdrückte: "Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen; ich bin, mit meinem Zustand in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder froh geworden."

Jaeger zufolge hat Goethe im Zeichen dieser Italienerfahrung sich selbst bis zum Ende seines Lebens als jenen Wanderer verstanden, der im Schlusskapitel des Faust II als die verstörendste und modernste Figur seines Werk erscheint. Ja, dieser Wanderer betritt bei Jaeger überzeugend als Goethes Alter Ego die Bühne. Er erscheint in einer arkadisch-offenen Gegend an jener Stelle am Meeresstrand, wo ihn einst Philemon und Baucis vor Schiffbruch und Untergang retteten. Und wo er nun dankbar und naturfromm bittet: "Lasst hervor mich treten,/ schaun das grenzenlose Meer; / Lasst mich knieen, lasst mich beten!" Und für den hier das Glück des Wiederfindens umschlägt in Entsetzen. Er erkennt die Transformation seiner Wanderer-Welt, in der mit jeder Überlieferung radikal gebrochen wird, in der faustisch-prometheische Dämme und Kanalbauten mit Hilfe von Maschinen entstehen, Menschenopfer bluten müssen und nachts "des Jammers Qual" erschallt.

Angesichts des radikal veränderten Panoramas verstummt der Wanderer vor Schreck. Er versucht, in der Hütte seiner nun alt gewordenen Retter dem Zugriff der selbstherrlichen Projektemacherei zu entkommen. Vergeblich. Fausts mephistophelische Helfer im Dienste eines bereits global ausgreifenden Turbokapitalismus, Raufebold, Habebald und Haltefest, überwältigen ihn nach kurzem Kampf. Er wird niedergestreckt und endet mit seinen Lebensrettern Philemon und Baucis, im Flammenmeer, ein finaler Augenblick, den Jaeger nicht ohne Pathos als "herzzerreißend" bezeichnet angesichts der Goetheschen "Fassungslosigkeit" vor dem Kommenden, das er bereits 1825 gegenüber Zelter lapidar auf die Formel einer Selbstentfremdung und Umwertung aller Werte gebracht hatte. Und zwar im Zeichen der von Jaeger zitierten radikalen Rangerhöhung von "Reichtum und Schnelligkeit" zu zentralen Parametern der Moderne. Das Ergebnis: "Alles ist jetzt ultra. Keiner kennt sich mehr." Das Auseinandertreten des Autonomieversprechens der Moderne durch die Beschleunigungsprozesse dieser Moderne erkennt Goethe bereits hier als unumkehrbar.

Es ist Jaegers Verdienst, dass er die in Goethes Italien-Erlebnis erkennbaren Quellgründe der Wanderer-Figur minutiös in Relation setzt mit dem für Goethe selbst "herzzerreißenden" Faust-Finale. Es gelingt ihm, den "Wanderer" überzeugend als gut getarntes literarisches und autobiographisches Bruchstück einer verschwiegenen Vermächtnis-Konfession Goethes zu deuten. Den Hintergrund dafür bildet Goethes Entsetzen über die Religion der französischen Saint-Simonisten. Deren allgemeines Weltverbesserungsprogramm sah er als Realitätsverlust und totalitäre Gesellschaftsvision: "Allgemeine Begriffe und großer Dünkel sind immer auf dem Wege, entsetzliches Unheil anzurichten."

In diesem Licht wird deutlich, warum Fausts Schlussvision von "freien Volk" auf "freiem Grund" als bittere Parodie Goethes auf das saint-simonistische Arbeits- und Produktionsevangelium verstanden werden muss. Es ist eine moderne Verwandlung der Welt, die Jaeger zufolge keinen Raum mehr lässt für das Lebensprinzip des Wanderers. Der "Prozess der totalen Entfremdung kann den Wanderer nur vor Schrecken erstarren lassen". Und er verstummt.

Goethe hat - wie Jaeger anhand der Biographie des alten Goethe zeigt - dieses Verstummen begleitet mit einer raffinierten Parallelaktion eigenen Schweigens und Verschweigens, mit Verzögerungen, Verhüllungen und Andeutungen, die er am Ende resolut absichert durch die Verfügung der erst postumen Veröffentlichung des zweiten Teils des "Faust".

Immerhin entrückt Goethe in der Bergschluchten-Szene den Leser nach Fausts Tod in die rettende Welt des "Ewig-Weiblichen". Es ist, so Jaeger, in Wahrheit die arkadisch beruhigte Welt des Goetheschen Wanderers. Eine postmortale Welt, die verstanden werden müsse als Kontrastprogramm zur mephistophelischen Horrorvision des "Ewig-Leeren". Und vielleicht ist es diese "erlösende" Bergschluchten-Welt, die Goethe im Blick hat, als er nach der Versiegelung des zweiten Teils der Faust-Tragödie Sulpiz Boisserée am 24. November 1831 zwar seine eigene "Verzweiflung" über diesen Schritt mitteilt, aber gleichzeitig hinzufügt: "Mein Trost ist jedoch, dass gerade die, an denen mir gelegen sein muss, alle jünger sind als ich, und seiner Zeit das für sie Bereitete und Aufgesparte zu meinem Andenken genießen werden."

MANFRED OSTEN.

Michael Jaeger: "Wanderers Verstummen, Goethes Schweigen. Fausts Tragödie - Oder: Die große Transformation der Welt".

Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014. 602 S., br., 46,- [Euro].

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