Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 25,00 €
  • Broschiertes Buch

In dem Band werden aktuelle Ansätze wie New Historicism, Medien-, Gendertheorie und Diskursanalyse methodisch für Dramen wie Prosaarbeiten Bernhards genutzt. Der Band ist interdisziplinär angelegt: Vertreten sind die Fächer Politikwissenschaft, Neuere deutsche Literatur, Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte und Soziologie. Ziel ist eine neuartige Kontextualisierung des Bernhardschen Oeuvres. Beiträge von: Lutz Ellrich, Irmtraud Götz von Olenhusen, Angeli Janhsen, Detlef Kremer, Claudia Liebrand, Raban Menke, Harald Neumeyer, Stefan Rieger, Franziska Schößler, Franziska Schößler/Ingeborg Villinger, Bianca Theisen…mehr

Produktbeschreibung
In dem Band werden aktuelle Ansätze wie New Historicism, Medien-, Gendertheorie und Diskursanalyse methodisch für Dramen wie Prosaarbeiten Bernhards genutzt. Der Band ist interdisziplinär angelegt: Vertreten sind die Fächer Politikwissenschaft, Neuere deutsche Literatur, Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte und Soziologie. Ziel ist eine neuartige Kontextualisierung des Bernhardschen Oeuvres. Beiträge von: Lutz Ellrich, Irmtraud Götz von Olenhusen, Angeli Janhsen, Detlef Kremer, Claudia Liebrand, Raban Menke, Harald Neumeyer, Stefan Rieger, Franziska Schößler, Franziska Schößler/Ingeborg Villinger, Bianca Theisen
Autorenporträt
Franziska Schößler (Prof. Dr.) lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Ihre Schwerpunkte sind Drama und Theater, insbesondere Gegenwartsdramatik, Ökonomie und Literatur, kulturwissenschaftliche Theorien sowie Gender Studies.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2002

Wir, das bin ich
Ein Sammelband zu Thomas Bernhard fischt im Unentscheidbaren

"Dem völlig Vereinsamten erscheint es nicht schwierig, wann er will, tatsächlich unter allen und in allen zu sein", heißt es in Thomas Bernhards "Watten". In diesem Satz ist eine Poetologie verborgen, die auch en gros einige Berechtigung hat. Kaum nämlich hatte sich die Literatur im achtzehnten Jahrhundert des starren Formkorsetts entledigt, wurde sie selbstreflexiv, begann, wie die Vereinsamten, ihr Beobachten zu beobachten. Mit einiger Verspätung findet gegenwärtig die literaturwissenschaftliche Einholung dieser System-Umwelt-Bezüge statt, seit sich die Forschung nicht mehr ausschließlich auf das System (werkimmanente Methode) oder die Umwelt (soziologische Methode) stützt, sondern mit Ordnungshierarchien operiert: Besonders der autoreferentiellen Prosaerzählung, Siegerin aller Gattungen, wird dabei eine höhere Komplexität zugeschrieben als der alltäglichen Kommunikation, deren blinde Flecken sich daher dort ausgestellt finden.

Das gilt zweifellos für Thomas Bernhard, den Meister der hochkomplexen Prosaform. Unablässig zitiert er Figuren, die Figuren zitieren: Kaskaden der Kommentierung strukturieren seine Erzählungen, integrieren und unterminieren damit a priori den Blick des Lesers. Es muß daher verwundern, daß trotz der allgemein abgenickten These vom "Tod des Autors" ausgerechnet Bernhards ästhetisch formalisierte Allegorien des Lesens immer wieder auf seine Person zurückbezogen wurden. Erst in den letzten Jahren sind weiterführende, an der Dekonstruktion geschulte und durch Diskursanalyse und New Historicism kontextuell abgesicherte Lektüren der Werke des meistgeschmähten und meistgeliebten österreichischen Schriftstellers entstanden.

Jüngster Beitrag zur Bernhard-Forschung im Geiste der Komplexitätsthese ist der Sammelband "Politik und Medien bei Thomas Bernhard", den Franziska Schößler und Ingeborg Villinger herausgegeben haben. Daß darin weder Politik noch Medien in besonderer Weise thematisiert werden, der Titel also eher eine Fortschreibung des Bernhardschen Irritationspotentials denn inhaltlicher Überbau ist, tut der Qualität der meisten Beiträge keinen Abbruch. Die interdisziplinäre Forschertruppe aus dem Freiburger Umfeld nähert sich den monomanischen "Sprechmaschinen" im OEuvre des literarischen Dissidenten unter Mitführung modernster Theoriesysteme.

Zu den stärksten Beiträgen des Bandes gehört sicherlich Stefan Riegers Abhandlung über die Physiologie der menschlichen Motorik. Er nimmt Bernhards Parallelisierung von Fort- und Denkbewegung in der Erzählung "Gehen" auf und erforscht die Genealogie dieser Engführung. Besonders die im neunzehnten Jahrhundert entstandenen Humanwissenschaften waren geradezu fixiert auf eine solche Semantik des Körpers. Zunächst aber scheiterte eine an der Physiologie des Gehens orientierte Theorie des Menschen, da alle psycho-physischen Untersuchungen auf die Unhintergehbarkeit des körperlichen Eigenrhythmus hinausliefen. Erst mit der Kybernetik, so Riegers These, steht qua Rückführung des Menschen auf die maschinelle Regelungstechnik ein der Komplexität des Organismus gerecht werdendes Konzept bereit, dessen sich auch die philosophische Anthropologie unter Helmuth Plessner oder Arnold Gehlen bedient. Ebenjene medizinisch-anthropologische Diskussion werde im Subtext von "Gehen" verhandelt. Durch eine starke Lesart gelingt es Rieger damit, ein komplexes meta-epistemologisches Fundament freizulegen, das der Forschung bisher entgangen zu sein scheint. Auch Harald Neumeyer führt in seinem Beitrag Bernhards "Kalkwerk"-Roman auf einen physiologisch-wissenschaftlichen Diskurs zurück: In diesem Fall bilden die Hörexperimente Viktor Urbantschitschs den Hintergrund.

Die Zentralkategorie der Aufsatzsammlung heißt aber dennoch nicht Poetologie des Wissens, sondern Unentscheidbarkeit. Freilich wurde Bernhard immer schon eine Überlagerung von nicht synthetisierbaren Gegensätzen attestiert. Im vorliegenden Band allerdings dient die vorsätzliche Unschärfe als Universalstrategie: Ob es sich um die Ununterscheidbarkeit des Komischen und Tragischen in der Bernhardschen Tragikomödie handelt, worauf Lutz Ellrich und Detlef Kramer hinauswollen, oder um diejenige von Pathologie und Normalität, wie sie Irmtraut Götz von Olenhusen in den Dramen erkennt, immer soll darin des Pudels Kern verborgen sein. Ebenso wird der Zusammenfall von Fiktion und Geschichte sowie von Gegenwart und Vergangenheit in Bernhards Autobiographie konstatiert. Bianca Theisen führt vor, wie in den an Malraux orientierten Anti-Memoiren noch die minimale Regularität des autobiographischen Pakts ungreifbar bleibt: Bernhard überreicht dem Leser chronologisch nicht immer einzuordnende Details eines halb erdachten Lebens und unterläuft damit das seit Karl Philipp Moritz gängige Muster der zumindest psychologisch stimmigen Milieuabhängigkeit. Positiv formuliert heißt das: Bernhards Autobiographie entsteht erst als diskursiver Effekt des gegenwärtigen Erzählvorgangs.

Was die Autoren hier mit Unentscheidbarkeit adressieren, ist jedoch letztlich ein Versagen der literaturwissenschaftlichen Instrumente. Das hat aber nicht etwa zur Folge, daß der navigationsunfähige Dampfer nachgerüstet wird, man schleppt ihn statt dessen in das ruhige Gewässer der Akklamation. Die Kapitulation des Interpreten wird zugunsten eines überlegenen Autorkalküls verbucht. Entscheidbar scheint damit allein die signierende Autorschaft zu bleiben: Wie ein Fels ragt die Bernhardsche Erzählerautorität - die Beobachtungsinstanz n-ter Ordnung - aus dem Meer der Polyvalenzen, ihr "Ich" muß alle Vorstellungen begleiten können. Die Foucaultsche Frage: "Wer hat eigentlich gesprochen?" stellt sich hierbei nicht. In diesem Sinne endet der Sammelband treffend mit Bernhards Selbst-Proklamation zur Observierungshoheit im Pluralis universalis: "Wie gut, daß wir immer eine ironische Betrachtungsweise gehabt haben, so ernst uns immer alles gewesen ist. Wir, das bin ich." Zwar könnte sich noch die multiple Autorfiktion als Falle des Vereinsamten erweisen, aber sie wird, wenn alle Kategorien am Unentscheidbaren versagen, zum letzten Halt. So klammert sich die Literaturtheorie noch am Felsen fest, an dem sie scheitern sollte.

OLIVER JUNGEN

Franziska Schößler, Ingeborg Villinger (Hrsg.): "Politik und Medien bei Thomas Bernhard". Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2002. 256 S., br., 40,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Dass die meisten Beiträge zu diesem Thomas-Bernhard-Sammelband von solider Qualität sind, steht für Oliver Jungen außer Frage. Alle haben sich dem für seine komplexe Prosa berüchtigten österreichischen Autor mit Hilfe moderner Theoriesysteme genähert, etwa der Diskursanalyse oder des New Historicism. Der Titel allerdings sei irreführend, findet der Rezensent, denn weder Politik noch Medien werden hier in besonderer Weise thematisiert. Diese "Fortschreibung des Bernhardschen Irritationspotentials" sei symptomatisch für das ganze Buch. Diese "vorsätzliche Unschärfe" a la Bernhard hat der Rezensent als Universalstrategie des Bandes ausgemacht. Ob es sich um die Ununterscheidbarkeit des Komischen und Tragischen in Bernhards Werk oder diejenige von Pathologie und Normalität handelt, nie kommen die Beiträge über eine Akklamation der Bernhardschen Theorien hinaus, urteilt Jungen. Für ihn ein "Versagen der literaturwissenschaftlichen Instrumente" und "die Kapitulation des Interpreten". Am Ende ist für den Rezensenten zumindest eines klar: Noch beißt sich die Literaturwissenschaft an Thomas Bernhard offensichtlich die Zähne aus.

© Perlentaucher Medien GmbH