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Produktdetails
  • Beiträge zur älteren Literaturgeschichte
  • Verlag: Universitätsverlag Winter
  • 1999.
  • Seitenzahl: 340
  • Deutsch
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 596g
  • ISBN-13: 9783825308971
  • ISBN-10: 3825308979
  • Artikelnr.: 24040654
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2000

Nee wat wor dat fröher schön doch en Colonia
Auf historischer Rheinrundfahrt mit Stephan Müller: Das ganze Sinnen und Trachten des anonymen Annolieddichters ging nur dahin, das Wohl der Domstadt zu mehren

Stephan Müller rollt ein seit dem Erscheinen von Eberhard Nellmanns Reclam-Ausgabe des Annolieds als gelöst geltendes Problem wieder auf. Die vermutlich im Kloster Siegburg entstandene Dichtung über den Kölner Erzbischof Anno II. (1056 bis 1075) enthält rund 300 Verse, die mehr oder weniger wörtlich auch in der um 1150 zu Regensburg konzipierten Kaiserchronik begegnen, einer Geschichte der römischen Kaiser von Julius Caesar bis zum gegenwärtigen Vertreter des Kaisertums, König Konrad III. Zunächst waren drei Lösungen des Falls erwogen worden: Einer von beiden Autoren hat das Werk des jeweils anderen abgeschrieben oder beide haben unabhängig voneinander einen dritten, nicht erhaltenen Text ausgewertet. Da heute Einigkeit darüber besteht, daß das Annolied lange vor 1150 entstand, scheidet eine dieser Möglichkeiten aus: Der Dichter des Lieds kann die Chronik nicht gekannt haben. Müller verficht die dritte, 1830 von Heinrich Hoffmann aus Fallersleben ins Spiel gebrachte, von Nellmann und anderen verworfene These und versucht die Existenz einer verlorenen Quelle beider Werke nachzuweisen. Mit eigenen Argumenten geschieht das allerdings erst ab Seite 225. Bis dahin wird der Leser über lange Wege und Holzwege der Forschung geführt. Wer für Ausflüge in die alte Germanistik schwärmt, wird in diesen informativen und munter geschriebenen Kapiteln der Münchner Dissertation auf seine Kosten kommen.

Über die Sache selbst, das Annolied, vermittelt der Blick in die Vergangenheit jedoch nur wenig Neues. Daß es im Lied Brüche und heute als unmotivierte Einsprengsel empfundene Strophen gibt, ist seit langem bemerkt und in Nellmanns Kommentar jeweils notiert worden. Das hypothetische Ergebnis von Müllers Studien läßt sich so zusammenfassen: Kurz nach Annos Tod wäre ein dem Leben und Sterben des Erzbischofs gewidmeter Text geschrieben worden (Strophen 2 bis 6, 34 bis 49), den ein Kompilator später unter Rückgriff auf jene verlorene Quelle, eine entweder noch im elften Jahrhundert oder kurz nach 1106 entstandene Reimchronik über die vier Weltreiche von Babyloniern, Persern, Griechen und Römern, um die Strophen 8 bis 30 erweitert hätte. Das wäre um 1120 geschehen, und zwar unter dem Einfluß des Theologen Rupert von Deutz, den schon andere Autoren als Urheber einer in Strophe 31 geäußerten Ansicht über den Sieg von Christi Königreich über jene vier Weltreiche ins Auge gefaßt hatten. Dieser Abschnitt sowie vier andere (1, 7, 32 und 33) werden als Gelenkstrophen bezeichnet, mit denen der Kompilator das genuine Lied mit dem Exzerpt aus der verlorenen Chronik verbunden hätte.

In Strophe 30 werden fünf Städte genannt, die nach dem Ende des Julius Caesar nächst der Colonia Agrippina von Bedeutung waren, darunter das angeblich bereits von Caesar erbaute Kastell Mainz, wo jetzt, in den Tagen des Autors, der Könige wîchtûm sei und des Papstes senitstûl. wîchtûm wird von Nellmann wohl zutreffend mit "Weihestätte" übersetzt, des pâbis senitstûl weniger überzeugend mit "Sitz der päpstlichen Synoden". Die übliche Weihestätte der Könige war damals Aachen. Dieser Ort lag in der Kirchenprovinz des Erzbischofs von Köln, der darauf seinen von Papst Leo IX. 1052 bestätigten Anspruch gründete, innerhalb seines Amtsbezirks die Weihe (consecratio) des Königs vornehmen zu können. Daß in einem zum Lob eines Kölner Metropoliten konzipierten Werk dem Sitz des Rivalen von Mainz leichthin das Privileg konzediert wird, nunmehr ganz generell Weihestätte der Könige zu sein, wirkt kurios und erklärungsbedürftig.

Die meisten Interpreten beziehen die beiden Verse auf die Krönung von Heinrichs IV. Rivalen Rudolf von Rheinfelden, die am 26. März 1077 in Mainz stattfand. Müller stimmt dem nur bedingt zu und glaubt unter Berufung auf andere, daß die Worte auch auf eine Krönung Heinrichs V. im Januar 1106 gemünzt gewesen sein könnten. Eine Weihe oder Krönung hat es damals nicht gegeben, sondern nur den mit einer zweiten Wahl oder Huldigung verbundenen Antritt der selbständigen Regierung des jungen Königs, der schon am 6. Januar 1099 gesalbt und gekrönt worden war, und zwar in Aachen. Ein Blick in Gerold Meyers von Knonau "Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V." genügt, um einen Überblick über die zu diesen Vorgängen vorhandenen Quellen zu gewinnen. Als Bezugspunkt für die Verse des Annolieds bleiben Salbung und Krönung Rudolfs von Rheinfelden durch Erzbischof Siegfried von Mainz. Der hatte sich zuvor intensiv darum bemüht, das nur der Person der einzelnen Erzbischöfe zustehende päpstliche Vikariat in einen mit dem Mainzer Stuhl dauerhaft verbundenen Primat zu verwandeln, um daraus einen generellen Vorrang auch bei Wahl und Weihe der Könige abzuleiten.

Darauf wird der sonst nirgendwo belegte Begriff vom senitstûl des Papstes im Annolied angespielt haben. Ein prominenter Zeuge für Siegfrieds mit den Kölner Ansprüchen kollidierende Politik ist der Mönch Lampert von Hersfeld, dessen Annalen der Dichter des Annolieds kannte. Lampert hat als verbissener Gegner Heinrichs IV. und Anhänger des Gegenkönigs Rudolf Siegfrieds Bemühungen um den Vorrang bei Wahl und Weihe der Könige in seinem Werk wohlwollend berücksichtigt.

Muß der Dichter des Annolieds, wie es in Nellmanns Kommentar heißt und von Müller im wesentlichen akzeptiert wird, ebenfalls ein Parteigänger der von Heinrichs IV. Anfängen bis zu dessen Tod wirkenden Fürstenopposition gewesen sein? Lampert von Hersfeld war ein Bewunderer Annos von Köln, gehörte jedoch spätestens seit den frühen siebziger Jahren zur Klientel Siegfrieds von Mainz, der ihn 1081 zum ersten Abt des Klosters Hasungen in Hessen berief. Hier ist der Mainzer nach seinem Tod im Februar 1084 beigesetzt worden. Der Dichter des Annolieds aber wirkte in einem vom Helden seines Gedichts gegründeten Kloster. Lampert hatte die Brüder von Siegburg wegen deren engelsgleichen Gehabes mit ein paar abfälligen Bemerkungen bedacht, die der Dichter gekannt haben wird. Dieser hielt Köln für die schönste Stadt, die je in deutschem Land entstand. War er dann vielleicht so generös, der nicht ganz so schönen Rivalin am Mittelrhein, wo Lamperts Mäzen Erzbischof war, wenigstens das Privileg zu gönnen, Weihestätte der Könige zu sein, und hat er damit zugleich Rudolf von Rheinfelden als rechtmäßigen König anerkannt?

Wer um 1080/84 jene Verse hörte, wird sich sofort daran erinnert haben, was in den späteren Stunden des Weihetags zu Mainz geschehen war: Die mit Heinrich IV. sympathisierenden Bürger der Stadt hatten ein paar Jünglinge angestiftet, sich unter die Hofgesellschaft zu mischen und ein bißchen für Unterhaltung zu sorgen. Zwar soll es Rudolfs Kriegern gelungen sein, den anschließenden Aufruhr niederzuschlagen, der frisch geweihte König zog es jedoch vor, die ungastliche Krönungsstadt noch in der Nacht zum 28. März zu verlassen. Mit ihm floh der Mainzer Erzbischof, der seine Metropole nie wieder betreten hat. Rudolf mußte sich fortan fern der Heimat weitgehend auf fremde Leute stützen. Heinrich IV. soll den Schwaben als König der Sachsen verspottet haben, denen der Dichter des Annolieds als einzigem der vier deutschen Völker ein Laster nachsagte, nämlich Wankelmut. Als Rudolf 1080 nach dem Verlust seiner Schwurhand gestorben und in Merseburg beigesetzt worden war, mußte der Mainzer den später ebenso glücklosen Nachfolger im abgelegenen Goslar weihen.

Lamperts Mäzen hatte den Schaden, der Dichter des Annolieds sorgte für den Hohn: In Mainz, so wird sein Publikum assoziiert haben, arteten Weihen von Königen leicht in Schlägereien aus und hier gekrönte Herren endeten bei den wankelmütigen Sachsen. Und auch das seltene, vielleicht ein wenig komisch wirkende Wort vom Sendstuhl des Papstes dürfte bei Kennern von Erzbischof Siegfrieds schlimmem Geschick noch einmal Schadenfreude ausgelöst haben. Mit etwas weniger gehässigem, dafür aber heute leichter erkennbarem Spott hat der Dichter noch in derselben Strophe auch die andere mit Köln rivalisierende Metropole bedacht: Die Stadt Trier, wo man wähnte, der Ort sei eine Gründung aus der Zeit der Semiramis, soll von den Römern mit prächtigen Bauten ausgestattet worden sein, die von den Trierern selbst voll Stolz als Wunderwerke eigener Produktion aus der Epoche des ersten Weltreichs gepriesen wurden, als noch niemand an Römer dachte.

Die anderen sogenannten "Lebenszusammenhänge", auf die sich Müller beruft, in die das Weltbild des Annolieds einzuordnen wäre, gehörten mithin nicht ins Umfeld der betont antimonarchischen Fürstenopposition, sondern sind dort zu suchen, wo man Freude an der Geschichte vom Bund des Monarchen Caesar mit den vier deutschen Völkern hatte, die gemeinsam die 300 alten Herren des Senats, das heißt die Fürsten, entmachtet und verjagt hatten. Mit dieser Fiktion hatte der Dichter um 1080/84 dem römisch-deutschen Reich des Mittelalters einen Mythos geschaffen, der in variantenreicher Ausgestaltung bis zu den Quellenstudien der Humanisten und der Kreierung des Arminius-Kults durch Hutten und Luther Bestand hatte und auch in seriöser Chronistik berücksichtigt worden war. Warum Müller diese ebenso originelle wie erfolgreiche Komponente des Annolieds unbeachtet ließ, bleibt rätselhaft.

HEINZ THOMAS

Stephan Müller: "Vom Annolied zur Kaiserchronik". Zu Text- und Forschungsgeschichte einer verlorenen deutschen Reimchronik. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1999. X, 340 S., br., 98,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

In einer recht wissenschaftliche Rezension, die sich eindeutig an ein Fachpublikum richtet, zeigt sich Heinz Thomas geteilter Meinung über diesen Band. Einleitend weist er jedoch darauf hin, dass Müller hier ein "als gelöst geltendes Problem" wieder aufrollt, nämlich die Frage, wieso das Annolied und die Kaiserchronik Überschneidungen aufweisen. Müller vertritt dabei die These, wie der Leser erfährt, dass keiner der Autoren vom anderen abgeschrieben hat, sondern dass sich beide auf einen dritten, unbekannten Text bezogen haben. Die Existenz dieses Textes versuche Müller nun nachzuweisen - nicht immer zur Zufriedenheit des Rezensenten. Doch bevor Müller zu den eigentlichen Argumenten kommt, werde der Leser "über lange Wege und Holzwege der Forschung" geführt, wenngleich sich diese Passagen für Liebhaber der alten Germanistik "informativ und munter" lesen, wie Thomas bemerkt. Insgesamt bietet der Band nach Ansicht des Rezensenten kaum neue Erkenntnisse. Wichtige Zusammenhänge sieht Thomas nur unzureichend berücksichtigt und manche Behauptungen - wofür der Rezensent auch Beispiele nennt - findet er gar "kurios und erklärungsbedürftig".

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