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"Ja ... ich kann das nicht glauben ... Er hat ... immer noch Kugeln - Er schießt einfach und schießt und schießt ..."Aus 25.000 Seiten Ermittlungsakten destilliert Joachim Gaertner einen Dokumentarroman, bei dem Entsetzen und Staunen über die künstlerische Fantasie der Täter eines der folgenreichsten Verbrechen der letzten Jahrzehnte sich die Waage halten. Es ist 9 Uhr 11, als in der Notrufzentrale von Jefferson County das Telefon klingelt und eine panische Frauenstimme berichtet, dass zwei schwarz gekleidete Gestalten durch die Columbine Highschool gehen und jeden niederschießen, den sie…mehr

Produktbeschreibung
"Ja ... ich kann das nicht glauben ... Er hat ... immer noch Kugeln - Er schießt einfach und schießt und schießt ..."Aus 25.000 Seiten Ermittlungsakten destilliert Joachim Gaertner einen Dokumentarroman, bei dem Entsetzen und Staunen über die künstlerische Fantasie der Täter eines der folgenreichsten Verbrechen der letzten Jahrzehnte sich die Waage halten.
Es ist 9 Uhr 11, als in der Notrufzentrale von Jefferson County das Telefon klingelt und eine panische Frauenstimme berichtet, dass zwei schwarz gekleidete Gestalten durch die Columbine Highschool gehen und jeden niederschießen, den sie antreffen. Die Anruferin, die Lehrerin Patti Nielson, hat sich mit vielen anderen in der Bibliothek verschanzt. 26 Minuten lang hört die Beamtin der Notrufzentrale die Schüsse und Explosionen im Hintergrund, während sie versucht, die Frau zu beruhigen. Dann flüstert Patti Nielson plötzlich nur noch. "Oh Gott. Ich habe wirklich ... Angst ... Ich glaube, er ist jetzt in der Bibliothek."Gaertners Dokumentarroman erzählt die Geschichte von Tat und Tätern ausschließlich anhand von Originaldokumenten, Tagebüchern, Interneteinträgen, Verhörprotokollen und Aussagen von Beteiligten, und konterkariert so die Dramaturgie der Tat selbst, die von den Tätern bis ins kleinste Detail in literarischen Szenen, Tagebüchern, auf Internetseiten und in Videos in der Fantasie ausgebildet wurde, bis sie schließlich katastrophale Realität wurde.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.04.2009

Rohrbomben basteln fürs Oktoberfest
Das ist meine Schuld, ich will auslöschen: Joachim Gaernters Doku-Roman über das Schulmassaker von Littleton
Ab und zu verspürt man den Impuls, diesen Massenmörder in den Arm zu nehmen, ihm den Hinterkopf zu streicheln und ihm tröstende Worte ins Ohr zu flüstern. Geändert hätte das gleichwohl nichts. Wahrscheinlich hätte Eric Harris sich umarmen lassen, seine Wange an die dargebotene Schulter gelehnt, ein paar Tränen geweint und danach beteuert, wie viel besser es ihm jetzt ginge, dass seine bösen Mordgedanken, man solle sich keine Sorgen machen, ganz sicher schon verflogen seien. Dann aber wäre er doch in die Columbine High School gegangen und hätte zusammen mit seinem Freund Dylan Klebold 13 Menschen erschossen. Sich zu verstellen hatten Harris und Klebold gelernt. Ihren Hass wie ihre Liebe behielten sie für sich, vertrauten sie allein Notizbüchern und Computerdateien an, speicherten sie auf Video oder hinterlegten sie im Internet.
Joachim Gaertner, bislang vor allem als Fernsehjournalist tätig, hat aus diesen persönlichen Dokumenten sowie aus den umfangreichen Ermittlungsakten zu jenem Massenmord von Littleton, Colorado, der Mutter aller Schulmassaker, wie man sagen könnte, nun einen Dokumentarroman in 15 Kapiteln destilliert. Und auch wenn das letzte Kapitel von „Ich bin voller Hass – und das liebe ich” die Tat selbst zum Gegenstand hat, so bildet sie doch nicht den Fluchtpunkt des Buches. Ja, man ist nach 14 Kapiteln beinahe überrascht, dass die Hirngespinste überhaupt Wirklichkeit werden und die Tat tatsächlich stattfindet.
Auch wenn Harris, der schreibfreudigere der beiden Attentäter, in seinen Aufzeichnungen immer wieder in Allmachtsphantasien schwelgt, wenn er auf Schwarze, Latinos und Behinderte schimpft, Nazi-Sprüche klopft und am liebsten die gesamte Menschheit ausgerottet sähe, nie hat man den Eindruck, es mit einem Monster zu tun zu haben. Ganz im Gegenteil, es fliegt einen Mitleid an mit diesem aufgedrehten, wütend-frustrierten Jugendlichen, einem sehr lebendigen und nachdenklichen Menschen, jemandem, der sich allem Anschein nach lange Zeit Mühe gibt, irgendwie noch die Kontrolle zu behalten. So ist man fast geneigt, den Amoklauf aus diesem Kontrollwunsch heraus zu erklären. Denn bei aller Freude an brutaler Gewalt, am Computerspiel Doom, an Rammsteins brachialer Musik oder Oliver Stones Filmorgie „Natural Born Killers”, Gewalt ist nicht das Ziel von Harris und Klebold; am Ende ist sie lediglich Mittel zum Zweck. Und der Zweck heißt: Ordnung, Reinheit, Tod. Schluss mit all dem Durcheinander, Schluss mit den Gefühlen, die auf einen einstürmen, der inneren Zerrissenheit, Schluss mit den Menschen, von denen jeder „seine eigene verdammte Meinung über jedes einzelne verdammte Ding” hat.
Den Knoten zerschlagen, heißt das Motto. Statt dass Klebold wieder weinend unter seinen Kuscheltieren begraben einschlafen sollte, wie seine Mutter es einmal beobachtet hatte, würde er sich am 20.4.1999 unter einem Haufen Leichen zur endgültigen Ruhe legen. Doch wer kennt ihn nicht, den Wunsch mit allem aufzuräumen, ein Ende zu machen? Niemand aber, von den bekannten Ausnahmen in Erfurt, Winnenden oder anderswo abgesehen, käme auf die Idee, diesen Wunsch derart radikal in die Tat umzusetzen. „Ich bin voller Hass” bietet keine Erklärung; welcher Roman, sei er auch noch so dokumentarisch, täte das schon. Ein Rezept gegen Amokläufe, soviel dürfte nach zahllosen Diskussionen zum Thema längst klar sein, gibt es ohnehin nicht.
Ich stehe über euch
Gaertners Collage bietet jedoch eine neue Perspektive. Er lässt die Täter ausführlich zu Wort kommen, und wenn in ihren Aufzeichnungen das entscheidende Detail auch nicht zu finden ist, wenn nicht klar wird, wo genau der „point of no return” ist und wann die Würfel gefallen sind, so kann dieses Buch doch vielleicht helfen, das Gespür zu schärfen und den Tätern – statt sie als „krank” abzustempeln und ihre Morde damit dem Verstehen zu entziehen – ein Stück näher zu kommen. Die bekannten Motive sind alle vereint: Faszination für Waffen und Computerspiele („Doom ist so in mein Hirn eingebrannt, dass meine Gedanken fast immer mit dem Spiel zu tun haben”), Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexe und überhaupt ein gerüttelt Maß an Schizophrenie: Da leiden Harris und Klebold zwar unter den „jocks”, den Sportlern und Schönheiten, den Helden der High School, ihr Hass aber gilt gerade denen, die vermeintlich unter ihnen selbst stehen: „Unsere zweite Mission”, heißt es, „ging gegen das Haus dieser totalen Ober-Schwuchtel. Jeder in der Schule hasst diesen unreifen kleinen Schwächling. Also entschieden wir uns sein Haus zu treffen.”
Sie wollen „Rache an der Gesellschaft” nehmen, sehen sich als Rebellen und Ausgestoßene, wollen gleichzeitig aber nach den Maßstäben der Mehrheit beurteilt werden: „einen bleibenden Eindruck hinterlassen”. Zuweilen kann man nicht anders als angesichts scheinbar widersinnigster Tagebucheinträge den Kopf zu schütteln: „Erlkönig auswendig lernen”, „Rohrbombe ausprobieren”, „Donuts backen fürs Oktoberfest”.
Die Schizophrenie seines Lebens ist Eric Harris durchaus bewusst: „Bei mir ist es o.k., wenn ich ein Heuchler bin, aber nicht bei jemand anderem. Denn ich stehe über euch, egal, was ihr sagt.” Das Ich sanktioniert alles: mal hält sich Harris für Zeus, mal für Gott, dann heißt es: „Ich bin das Gesetz”.
Nicht zuletzt in der Schuldfrage beharrt der 18-Jährige auf diesem Primat: „Es ist MEINE Schuld! Nicht die meiner Eltern, nicht die meiner Brüder, meiner Freunde, meiner Lieblingsbands, der Computerspiele, nicht die der Medien. ES ist MEINE!”, schreibt er kurz vor dem bevorstehenden Attentat.
Tatsächlich kann man vielen eine Mitschuld unterstellen, den Eltern, die nichts merkten, den Lehrern, die bei einer als Schulaufsatz getarnten Amok-Vision die Details und den Stimmungsaufbau loben („Note C+”), der Waffenlobby, Microsoft oder den Jungs von Rammstein. Den Ärzten, die einem der Täter ein Antidepressivum verschrieben, das auch aggressionssteigernd wirken kann. Der verflixten Pubertät. Am Ende aber muss man Harris und Klebold dies eine zugestehen: Das sie die Mörder sind, dass sie, wenn überhaupt irgendetwas, dann schuldig sind. So folgen sie einem Programm der totalen Gefühlsabtötung: „Ich muss meine Gefühle ausschalten”; „Ich wünschte ich wäre ein scheiß Soziopath, dann würde mir nichts leid tun.” Was sie tun, entspringt bewusster Entscheidung. Einer schwierigen Entscheidung, die sie mit allen Konsequenzen tragen wollen: „Es ist verdammt schwierig, bei den Hausaufgaben zu bleiben, während ich an meinen Waffen, Bomben und Lügen arbeite.”
Ziellose Gänge
Irgendwann haben sie jeden anderen Ausweg abgelehnt, irgendwann sind sie auf eine Bahn eingeschwenkt, auf der sie nur noch den Tod im Blick haben. Interessanterweise gilt einer von Harris’ frühesten Wutanfällen einem Erstklässler, der vor dem Computer sitzt, sein Passwort eingibt, aber noch nicht weiß, dass er danach ENTER drücken muss. Diese „Dummheit” treibt Harris schier in den Wahnsinn. Ein Tastendruck und alles wäre vorbei. Der Befehl seiner Sehnsucht aber, den Eric Harris viele Monate später drücken wird, heißt: DELETE.
Joachim Gaertner hat seinem Dokumentarroman, dieser so angemessenen wie sensiblen Montage, ein knappes und kluges Nachwort beigegeben. Darin teilt er das Staunen darüber, dass die keineswegs ungewöhnlichen Phantasien der Attentäter ihren Weg in die Wirklichkeit gefunden haben. Auch Klebold und Harris scheint ihre selbsterschaffene Wirklichkeit in Erstaunen versetzt zu haben: Nachdem sie ihr letztes Opfer getötet hatten, streiften sie noch vierzig Minuten lang ziellos durch die Gänge der Schule, bevor sie sich selbst erschossen. Als würden sie den Weg zurück suchen in die Fiktion – ohne ihn allerdings finden zu können. TOBIAS LEHMKUHL
JOACHIM GAERTNER: Ich bin voller Hass – und das liebe ich. Dokumentarischer Roman aus den Original-Dokumenten zum Attentat an der Columbine Highschool. Eichborn Verlag, Berlin 2009. 192 Seiten, 16,95 Euro.
Ein Foto aus dem High-School-Jahrbuch: Eric Harris. Gemeinsam mit Dylan Klebold ermordete er 1999 zwölf Schüler und einen Lehrer. Foto: AFP
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Rezensent Andreas Fanizadeh schätzt Joachim Gaertners dokumentarischen Roman über die Amokläufer von der Columbine High School in Littleton. Das auf Original-Dokumenten zum Amoklauf basierende Buch erhellt in seinen Augen die Psyche der beiden Täter Dylan Klebold und Eric Harris. Angesichts der Kette von Amokläufen in den USA, Finnland und Deutschland, wo aktuell der Fall des 17-jährigen Tim K. in Winnenden in den Medien diskutiert wird, scheint ihm das Buch von einigem Interesse. Besonders hebt er die Selbstzeugnisse der späteren Attentäter von Littelton hervor. Dem Autor gelingt es seines Erachtens, ein vielschichtiges Gesamtbild ihrer Charakterzüge zu zeichnen. "Wer das Verbrechen bekämpfen will", befindet Fanizadeh, "muss es zuerst verstehen." Er bescheinigt Gaertner, mit seinem dokumentarischen Roman hierzu einen wichtigen Beitrag zu liefern.

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