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Die Hauptpersonen dieses unverschämten Romans sind keine Menschen, sondern auriculae, zu Deutsch: Ohren. Højholt hat die Stirn, zu behaupten, in Europa habe am 7. September 1915 die Zeit stillgestanden, einen Moment lang, zu kurz, dass es jemandem aufgefallen wäre. Die Kinder, die in dieser Zeitlücke gezeugt wurden, kamen neun Monate später nicht allein zur Welt. Mit ihnen erblickten zahlreiche Ohren das Licht, die sich selbständig machten und auf die Wanderschaft begaben. Heimlich durchstreiften sie in kleinen Trupps das zwanzigste Jahrhundert, beobachteten seine Katastrophen und inspirierten…mehr

Produktbeschreibung
Die Hauptpersonen dieses unverschämten Romans sind keine Menschen, sondern auriculae, zu Deutsch: Ohren. Højholt hat die Stirn, zu behaupten, in Europa habe am 7. September 1915 die Zeit stillgestanden, einen Moment lang, zu kurz, dass es jemandem aufgefallen wäre. Die Kinder, die in dieser Zeitlücke gezeugt wurden, kamen neun Monate später nicht allein zur Welt. Mit ihnen erblickten zahlreiche Ohren das Licht, die sich selbständig machten und auf die Wanderschaft begaben. Heimlich durchstreiften sie in kleinen Trupps das zwanzigste Jahrhundert, beobachteten seine Katastrophen und inspirierten seine Kunst und seine Wissenschaft. Überall nisteten sich diese sonderbaren Wesen ein. Sie suchten Kafka und Einstein, Duchamp und Joyce heim und spionierten die gesamte Moderne aus. Der Autor weiht uns in die Biologie, die Psychologie und das Sexualleben der Ohren ein und lässt uns an ihren bizarren Abenteuern teilnehmen. Über seine literarischen Vorgänger lässt er uns nicht im Unklaren; sie heißen Lawrence Sterne, Lewis Carroll und Jorge Luis Borges; seine Chuzpe aber gehört ihm allein. Højholt, das Enfant terrible der dänischen Literatur, erschreckt und amüsiert uns mit seinem Hauptwerk, an dem er zwanzig Jahre lang geschrieben hat._Auricula ist ein wahnsinnig gewordener Unterhaltungsroman, eine auf den Kopf gestellte Enzyklopädie, ein hysterisch kichernder Essay. Subtil und lüstern, minutiös und rührend, konsequent und munter trotzt dieses Buch allen Regeln der Kunst und schreibt sie neu.
Autorenporträt
Peter Urban-Halle, geb. 1951 in Halle an der Saale, arbeitet als Literaturkritiker und Übersetzer in Berlin. Er schreibt für das Deutschlandradio und die F.A.Z., Neue Zürcher Zeitung und Berliner Zeitung. Er übersetzte u.a. Naja Marie Aidt, Georg Brandes, Jens Christian Grøndahl, Peter Høeg sowie Per Højholt, den 2004 verstorbenen, neben Inger Christensen bedeutendsten dänischen Lyriker. 2010 wurde ihm der Förderpreis des Europäischen Übersetzerpreises der Stadt Offenburg verliehen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.06.2004

Mime deinen Tod, Clown
An den Ohren gezogen, ins Leere gedreht: Der Roman „Auricula” des dänischen Dichters Per Højholt
Als vor sechs Jahren seine Gedichte erschienen, ging ein hierzulande vollkommen unbekanntes Gestirn der zeitgenössischen Poesie auf. Die Werkauswahl „Der Kopf des Poeten” (1998) wies den 1928 in Esbjerg geborenen dänischen Schriftsteller Per Højholt als späten Schüler Mallarmés aus. Den gerodeten, auf keine Wirklichkeit außerhalb des Gedichts mehr bezogenen Symbolismus Mallarmés entwickelt er zu einer funkelnd gescheiten Sprechaktpoesie fort.
Højholts Gedichte sind szenisch, mimisch, gestisch lebendige Schauspiele der Produktion. Der Schritt in die Sphäre reiner Sprachlichkeit verhilft einer transitorischen Wörterwelt zum Vorschein, die Sichtgrenzen nicht kennt, weil der eigentliche Ort des Gedichts der Verstand ist und seine Geschöpfe, der Zweifel, die Erkenntnis, die Ironie, der Witz, das sinnliche Vergnügen und, bei Højholt immer vorn an der Rampe, das Gelächter und die Blasphemie. Oder der Spott, der den seine Seele mondwärts ausspannenden Romantiker trifft, einen Menschen namens Egon, der auf seine höchst irdische Abstammungsurkunde hingewiesen wird. Und gelegentlich auch die Melancholie, die sich bei der Einsicht einstellt, immer vom Leben der Natur ausgeschlossen zu sein.
Der Keim zu der umfangreichen Erzählung, die nun folgt, steckt in einem der Gedichte. „Die Person auf dem Gipfel” handelt vom Traum des Dichters, Gedichte zu schreiben, die so garantiert vorhanden sind wie die „Fernstrasse 15”. Nebenbei taucht die Idee zu dem gargantuesken Erzählgebirge auf, das nach zwanzigjähriger Arbeit in Kopenhagen erschien und nun in der Übersetzung Peter Urban-Halles auch bei uns vorliegt: Auricula, die Geschichte einer fruchtbaren, Geschenke ausschüttenden Stille.
Aber Per Højholt ist als Erzähler nicht wiederzuerkennen. Neben seinen sprachphilosophisch unterfütterten, schwindelfrei zwischen Realitätsebenen umherturnenden Versgebilden nimmt sich die ächzend verstopfte und antrieblose, von der einen Idee, der Parodie des Einmalig-Schöpferischen ernährte Prosa fremd und unzugehörig aus.
Zwei Atemzüge im September
Erkennbar ist der gewaltige Entwurf eines Bocksgesangs auf das zwanzigste Jahrhundert als Schreckensjahrhundert der europäischen Geschichte. Doch hat Højholt für die Geschichtswelt keinen Blick. Nicht die Realien interessieren ihn, die Industrialisierung des Krieges in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs, die Totalmobilmachung des Zweiten, der Radau der Parteitage und Aufmärsche, das Inferno der Schützengräben und Bombennächte. Er zeigt stattdessen den Riss, der durch die Welt geht. Gegen die Krankheit der Zeit, die Pathologie der Vernunft, die in den Gräueln der Kriege, des Faschismus und Stalinismus ihre Ungeheuer gebiert, mobilisiert er die Gegenlogik und präzise Hermetik des Phantastischen.
Sein Blick richtet sich auf die Schmerzzonen des organischen, sinnesorganischen Lebens der Zeit. Zu den unausgesprochenen Voraussetzungen seines Erzählens gehört die Annahme eines Reichs vorindividuell roher, instinktgesetzlich auf das Überleben verpflichteter Daseinsformen. Das nackte, der Vernunft nicht botmäßige Leben ist der natürliche Verbündete des Zufalls.
Am 7. September 1915 nachmittags um 16:09 Uhr wird Europa zwischen zwei Atemzügen von einer Stille erfasst, die neun Monate später zur massenhaften Geburt von Geschöpfen aus dem elementar-materialistischen Geist Gogols führt, auriculae, Ohren, ein merkwürdig wesenloses, lärmscheues und dem Geschlechtsleben heiter zugetanes Völkchen von menschlichen Ohren in natürlicher Größe. Die vegetabilische, unentwegt sich vermehrende Affektmaterie ist Højholts allegorische Gerätschaft bei dem Versuch, den Anschluss von Urgeschichte und Moderne erzählerisch zu bewerkstelligen.
Die Ohrenvölker erweisen sich als geschmeidiges Plasma des Zufalls, das den Algorithmus seiner Kreativität enthält und seiner zeitkritischen Gegenschöpfung ans Licht verhilft. Wachsam, ruhelos, in immer neuen Wiederholungsläufen und nie wirklich ankommender Bewegung folgen sie den Potenzkurven des Zufalls und protokollieren mimisch-imitatorisch, als lebendige und zugleich intelligente Masse, was in den Europa (und später auch Amerikas) an Ideen und Kunstwerken hervorgebracht wird, was in den Mal- und Bildhauerateliers, Gelehrtenstuben, Dichterwerkstätten und Tonstudios zwischen Berlin und Prag, London und Zürich entsteht.
Erschöpft in die Unendlichkeit
Nach Stationen bei Döblin und Einstein, bei Kafka und Brod, Virginia Woolf und T. S. Eliot, Hesse, Rilke und Borges kommt es in Paris zur ersten Inversion, einer für die Ohren gefährlichen Spiegelung und Umstülpung ihres Wiederholungsspiels bei der Entdeckung der Ästhetik der Modernisten Satie, Joyce und Proust. Erschöpft sind damit die Mittel der Methode nicht.
Für eine erste Verschiebung der Wiederholung ins Zeitlos-Unendliche sorgt die sich selbst wiederholende, ins Unendliche drehende Säule des Bildhauers Brancusi. Und Marcel Duchamp wird zum finalen „Protagonisten” der Stille, der das paradoxe Bestätigungs- und Umkehrungswerk der Wiederholung überlistet und die Stille darstellt.
Højholts Erzählen erinnert an die „Seltsamen Schleifen”, die Douglas R. Hofstädter in Bachs Musikalischem Opfer und den Bildern des Holländers M. C. Escher beobachtet, Wiederholungsschleifen, die mit endlichen Mitteln ins Endlose sich fortsetzende Prozesse darstellen. „Die vorletzte Wiederholung”, heißt es in seinem Gedicht „Der Bereich der Groteske”, „mimt deinen Tod, Clown”. Doch bevor es dazu kommt, hat das Mechanische der Wiederholungen seine zusehends vorhersehbare, immer geheimnislosere Prosa längst ausgezehrt.
Und die starre Struktur seines Werks, die seine Auslegung der Welt enthält, ist längst kein Geheimnis mehr, wenn endlich nach der schier endlosen Wiederkehr des Gleichen die Wiederholung sich symbolisch mit der Unendlichkeit des Kosmos misst und somit bewiesen ist, was zu beweisen war: die gottgleiche schöpferische Potenz des Sekundären.
SIBYLLE CRAMER
PER HØJHOLT: Auricula. Roman. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2003. 409 Seiten, 27,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Begeistert war Sibylle Cramer von den Gedichten des dänischen Schriftstellers Per Højholt, von seinem jetzt erschienenen Roman ist sie bitter enttäuscht. Ist Højholts Poesie voller "sprachphilosophisch unterfütterter Versgebilde" und "funkelnd gescheit", so wirkt seine "ächzend verstopfte" Prosa auf die Rezensentin fremd und "unzugehörig". Dabei steckt der Kern des Romans in einem seiner Gedichte, in dem Anfang des 20. Jahrhunderts Europa sich einer Massengeburt von bizarren Geschöpfen, einem Volk von menschlichen Ohren, gegenübersieht, die alles protokollieren, was an Ideen und Kunstwerken hervorgebracht wird. Doch die "Wiederholungsschleifen", die der Autor in sein Werk einbaut, scheinen der Rezensentin zu "mechanisch", die Struktur zu "starr", so dass am Ende die Prosa Højholts immer vorhersehbarer und "geheimnisloser" wird.

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