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Produktdetails
  • Verlag: Eichborn
  • Seitenzahl: 383
  • Abmessung: 35mm x 150mm x 220mm
  • Gewicht: 610g
  • ISBN-13: 9783821808420
  • ISBN-10: 382180842X
  • Artikelnr.: 24290271
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2000

Willkommen im Club
Ein Besessener, ein Überlebender – Jeremy Seals Erfahrungsbericht über Schlangen
Nicht ganz eindeutig in seiner Logik, aber wirkungsvoll in seiner Rhetorik war vor einigen Wochen das Titelbild des Spiegel zur „Ölkrise 2000”: Ein Benzinschlauch hatte sich in eine Schlange verwandelt, die sich aus dem Wüstensand erhob, mit einer Zapfpistole als Kopf und einer zweigeteilten Benzin-Zunge. Eine Möglichkeit, dem Warnungs- und Wallungswert von Schlangen auf den Grund zu gehen, bietet Jeremy Seal mit seinem „Bericht eines Besessenen”. In Deutschland ist der 1963 geborene englische Reiseschriftsteller bekannt geworden durch sein Buch über die „Suche nach einem Hut” – den türkischen Fez: das Auftauchen und Verschwinden eines Alltagsgegenstands hatte sich dabei als Parameter kultureller Umwälzungen erwiesen.
Jetzt verfolgt Seal ein anderes Motiv. Zwar schreibt er abermals eine Kultur-Geschichte, aber er braucht sie für eigene Zwecke. Er muss alles wissen über Schlangen, damit er von seiner Schlangenangst geheilt wird. Ein kindlich ausgemalter Schlangenbiss war ihm zu einem Ereignis seiner Zukunft geworden: „So also lebte ich in einer von lebenden Landminen erfüllten Welt, als wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis ich auf eine von ihnen träfe. ” Und er muss alles wissen über die Menschen, die einen Schlangenbiss überlebt haben, also über den imaginären „Snakebite survivors club”, dem das englische Original seinen Titel verdankt.
Im Frühling 1996 fasst Jeremy Seal sich ein Herz und betritt das Reptilienhaus des Londoner Zoos. Der Bericht darüber ist eine glanzvolle Ouvertüre – dramatisch und ironisch wie ein Indiana-Jones-Vorspann – zu einem Buch, das von Angst und Faszination handelt, von Empirie und Phantasie und davon, wie das eine das andere potenziert. Im Hochsicherheitstrakt des Reptilienhauses sucht Seal die Thanatophidia, die „todbringenden Schlangen” auf: „The Killers”. Es sind vier Giftschlangen, denen Seal auf vier Kontinenten nachgehen wird, die indische Kobra, die afrikanische Mamba, der australische Taipan, schließlich die Schlange, mit der er seine „Feldstudien” beginnt: „So gelangte ich zu meiner vierten Schlange, der amerikanischen, und legte meine Hand auf die Glasscheibe, als wollte ich sie berühren. Da explodierte die Klapperschlange; ihr Körper, ein geringeltes Rautenband, schnellte hinter dem großen Knollenkopf her, wie das Seil einer Harpune. Ihr Maul öffnete sich zu einem rosa Klaffen und traf das Glas genau dort, wo meine linke Hand lag. ”
Schnitt – und Seal ist tatsächlich in Amerika. Das Inhaltsverzeichnis hatte den Leser darauf vorbereitet, dass er nicht vier in sich abgeschlossene Erdteil-Kapitel zu gewärtigen hat. Seal erzählt alternierend, springt von einem Erdteil zum anderen, mal ein paar Monate vor, mal ein paar Monate zurück. Auf diese Weise vollzieht das Buch selber so etwas wie eine raumzeitliche Schlangenbewegung. Und was der Leser auf den Landkarten auf der Einbandinnenseite und dem Vorsatzblatt sah, bestätigt sich in einem Blick, den Seal vom Flugzeug aus auf Afrika wirft: „Aus einer Perspektive hoch über der Erde, die sie nie hätten einnehmen können, verstand ich, warum die Menschen früherer Zeiten glaubten, die große Schlange, das Urwesen, habe mit ihren siebentausend Windungen die Betten der Flüsse gegraben und so die Welt zum Leben erweckt. Überall sahen sie diese Schlange am Werk – in der Bewegung der Flußläufe, im Wallen der Regenwolken, in den Wogen des Meeres, im Wind, der durch Baumwipfel fuhr, und im Taumeltanz der Tornados. ”
Die Sinne sind wieder frei
Am Ende seiner Reise ist Jeremy Seal geheilt, so gründlich, dass er während der Niederschrift tatsächlich nicht mehr auf die Schlangen starrt, deren Gift alle Sinne zu lähmen vermag mit tödlichem Ausgang. Sondern alle Sinne „wieder” frei hat für die Kulturen und Subkulturen, bei denen er mit masochistischer Neugier hospitiert: das Amerika, wo die Schlange ein Teufel, das Indien, wo sie eine Gottheit ist, das Afrika, wo sie reale Gegenwart, das Australien, wo sie – auf den Schlangenfarmen – mediale Realität ist. Ein Satz von Karen Blixen, den Seal als Motto über eines seiner Afrika-Kapitel setzt, ist ein metaphorisches Kompliment für sein schriftstellerisches Handwerk: „Der Mann, der eine Schlange streicheln kann, kann alles. ”
Dass die Heilung zu guter Letzt erfolgreich ist, liegt dann nicht etwa an einer selbstorganisierten Konfrontationstherapie. Sondern auch an einer animistischen Erfahrung mit zwei Mitgliedern des besagten Survivor Clubs. Zwei aufsehenerregende Mamba-Biss-Geschichten hatten sich – „wie es Geschichten so ergeht” – zu einer einzigen verschmolzen. Und eines der beiden Opfer – wie es in Geschichten so geht – hieß nicht nur so ähnlich wie der Autor, sondern war auch genauso alt: „Wenn man diesem Jack Seal nur den ersten Buchstaben seines Vornamens ließ und seinen Namen nur sprach, nicht schrieb, dann hatte man meinen Namen. Und mein Alter. Kurzum, man hatte mich. Irgendwie war ich in ein Nebenuniversum versetzt und dort von einer schwarzen Mamba gebissen worden, wie ich es immer erwartet hatte. Ich hatte gefühlt, was ich immer erwartet hatte – das plötzliche Heranwimmeln, eine Welle, die sich braun und oliv vor meinen Füßen brach, den kurzen Schmerz, das Blut und das Gift, rot und gelb aus den Einstichstellen hervorsickernd . . . Ich war gestorben und doch in einem Krankenhaus am Leben geblieben. ”
Jeremy Seal ist ein Meister des szenischen, von landes- und naturkundlichen Assoziationen und Anekdoten durchdrungenen Erzählens. Über seinen Stoff verfügt er so souverän, dass er ihn „einbauen” kann in eine aberwitzige Kriminalgeschichte aus dem Milieu der amerikanischen „Schlangenaufheber” und diese so fein dosiert, wie es zum Beispiel ein Dr. F. Eigenberger mit dem Gift der Grünen Mamba getan hat, um in einem Selbstversuch die Wirkung von Giften zu studieren.
HERMANN WALLMANN
JEREMY SEAL: Unter Schlangen. Bericht eines Besessenen. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Eichborn Verlag, Frankfurt 2000. 364 S. , 44 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2000

Ferne

"Unter Schlangen. Bericht eines Besessenen" von Jeremy Seal. Eichborn Verlag, Frankfurt 2000. 384 Seiten. Gebunden, 44 Mark. ISBN 3-8218-0842-X

Man wird es Therapie nennen müssen, wenn sich jemand, der unter einer Schlangenphobie leidet, auf die Suche nach den gefährlichsten, heimtückischsten und mörderischsten Exemplaren dieser Spezies macht. Der Brite Jeremy Seal jedenfalls hat genau dies getan: in Amerika, Afrika, Australien und Asien. Seal interessierten dabei die Schwarze Mamba in Afrika, der Taipan in Australien, die Kobra in Indien und die Klapperschlange in den Vereinigten Staaten. All diese Schlangen können Menschen töten, und Seal hört auf seinen Reisen von vielen Fällen, wo sie es auch getan haben. Faszinierender aber sind für ihn Menschen, die den Biß solcher Schlangen überlebt haben. Ihren Spuren folgt er. In den Südstaaten Amerikas etwa stößt er dabei auf die christliche Sekte der Schlangenaufheber, die einem - fehlübersetzten - Bibelwort zufolge das Aufheben der Schlangen als Gottesgebot betrachtet und es während ihrer Gottesdienste auch fleißig betreibt. Die Mitglieder dieser "Holiness Church" sind einfache Leute, die, bevor sie zu Gott fanden, oft ein wüstes Leben hinter sich hatten. Manche finden auch wieder zurück, wie der Priester Glenn Summerford. Der beschließt eines Nachmittags im arg betrunkenen Zustand, der beste Weg, sich seiner Frau zu entledigen, sei, sie zu zwingen, in die Körbe mit den Klapperschlangen zu greifen, die für den nächsten Gottesdienst bereitstehen. Sie überlebt, aber bis sie es zu einem Krankenwagen schafft, hat sie ein Martyrium zu überstehen. Seal vermittelt durch solch haarsträubende Geschichten viel von der teils perversen Faszination für Schlangen - und gibt zugleich Einblick in Gesellschaften, in denen diese Faszination unheimliche Blüten treibt. (maha)

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Einer ungewöhnlichen Obsession folgt der Reiseschriftsteller Jeremy Seals in diesem Buch: Er möchte möglichst viele Überlebende von Schlangenbissen aufsuchen, um sich von seinen diesbezüglichen Phobien zu heilen. Der Rezensent Hermann Wallmann ist überaus angetan von dem Buch, in dem Seals, "von einem Erdteil zum anderen springend", von seinen Reisen zu den "Snakebite Survivors" berichtet. Am Ende des Bandes steht die Heilung, auf dem Weg dahin bringt Seals aber jede Menge "landes- und naturkundliche Anekdoten" und eine Kriminalstory unter und erweist sich, so Wallmann, als "Meister des szenischen (...) Erzählens".

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