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"Womit soll ich anfangen?" Als der Mann in den mittleren Jahren diese Frage nach mehr als 14 Jahren wieder hört, ist sein Erschrecken groß. Eher zufällig hat er in seinem kanadischen Exil die Spulen mit alten Tonbandaufnahmen gefunden, auf denen ihm seine inzwischen verstorbene Mutter ihr Leben erzählt. Die unverhoffte Wiederbegegnung mit einer ihm vertrauten Sprache, die sich aus dem Schatten der Vergangenheit in seine trostlose Gegenwart schleicht, holt eine längst vergessen geglaubte Zeit zurück. Er ist sofort gefangen von der Macht und Unmittelbarkeit der Erinnerung, der Stimme jener Frau,…mehr

Produktbeschreibung
"Womit soll ich anfangen?" Als der Mann in den mittleren Jahren diese Frage nach mehr als 14 Jahren wieder hört, ist sein Erschrecken groß. Eher zufällig hat er in seinem kanadischen Exil die Spulen mit alten Tonbandaufnahmen gefunden, auf denen ihm seine inzwischen verstorbene Mutter ihr Leben erzählt. Die unverhoffte Wiederbegegnung mit einer ihm vertrauten Sprache, die sich aus dem Schatten der Vergangenheit in seine trostlose Gegenwart schleicht, holt eine längst vergessen geglaubte Zeit zurück. Er ist sofort gefangen von der Macht und Unmittelbarkeit der Erinnerung, der Stimme jener Frau, die ihm so vertraut und doch so unbekannt geblieben ist; seine Mutter, in deren gesprochenen Lebensspuren sich auch die wechselvolle Geschichte seines Heimatlandes, seiner Familie und die seines eigenen Schicksals spiegelt.
Durch die virtuose Verflechtung von Erinnerungsebenen gelingt es David Albahari, der Persönlichkeit einer ungewöhnlichen Frau und der Geschichtslosigkeit seines E xils eine eigene Stimme zu geben. Dramatik und Drama eines fast sprachlos machenden Schicksals werden immer wieder gebrochen und verleihen dem Roman trotz aller Intensität eine bewunderswerte Leichtigkeit.
Autorenporträt
David Albahari, geb. am 15.3 1948 in Pec, Jugoslawien, studierte englische Literatur und Sprache an der Universität von Belgrad. Er lebt seit 1994 in Calgary, Kanada und arbeitet als Schriftsteller und Übersetzter von bekannten amerikanischen, britischen und australischen Autoren. Weltweit wurden Albaharis Werke in viele verschieden Sprachen übersetzt, unter anderem ins Französische, Griechische, Polnische, Ungarische, Russische und Italienische. 2006 bekamen er und seine Übersetzer für ihr Werk den Preis Brücke Berlin verliehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.2002

Keine Angst vor der Stille
Band ab: David Albahari sucht direkten Zugang zur Geschichte

Nein, es ist kein Exil. David Albahari, 1948 in Belgrad geboren, hat sich 1994 dafür entschieden, sein Heimatland Jugoslawien zu verlassen. Seither lebt er im kanadischen Calgary. Ganz freiwillig ging er, der bis 1994 Vorsitzender der jüdischen Gemeinden Jugoslawiens war, allerdings nicht dorthin. Es war eine Flucht vor der Zwangspolitisierung, die der Krieg und der laut tönende Nationalismus mit sich brachten. Weil Albahari sich als Internationalist verstand, wurde er dem "Feind" zugerechnet und seine Literatur nach politischen Maßstäben bewertet, die er selbst ablehnt. "Exil" wäre aber schon deshalb der falsche Begriff, weil Albahari in Serbien weiter veröffentlichen konnte. Seither führt er, wie er sagt, eine Art "Doppelleben", das darin besteht, zugleich abwesend und anwesend zu sein.

Im Ausland sucht er Zuflucht in der Muttersprache, die in der Fremde den alltäglichen Kommunikationszweck verliert und darauf beschränkt ist, Mittel des künstlerischen Ausdrucks zu sein. In Kanada machte er aber auch eine andere Erfahrung: Er muß sich nun nicht mehr gegen Ausgrenzung und politische Vereinnahmung wehren, sondern vor allem dagegen, als Autor überhaupt nicht wahrgenommen zu werden. Die Notwendigkeit politischen Engagements kommt ihm seither nicht mehr so verfehlt vor wie zuvor, als es ihm bereits als Oppositionshaltung ausgelegt wurde, wenn er darauf beharrte, unpolitisch zu sein.

"Das Leben ohne einen Ort ist ein bloßes Umherflattern", heißt es in Albaharis 1996 in Serbien erschienenem Prosatext "Stubovi kulture", der nun in der Übersetzung von Mirjana und Klaus Wittmann unter dem Titel "Mutterland" auch auf deutsch vorliegt. In Serbien wurde das Buch 1997 mit dem renommierten Nin-Preis ausgezeichnet. Es handelt sich dabei eher um eine Meditation als um einen Roman, um Reflexionen über Exil, Heimatverlust, Sprache, Geschichte, Schreiben, Erinnern, Judentum, Tod und Schuld. Ohne einen einzigen Absatz läuft der monologische Text durch, fast als käme er von einem Tonband. Ein Tonbandgerät steht auch im Zentrum des Buchs, auf dem Tisch vor dem Erzähler, der wie der Autor in Calgary lebt und aus Belgrad stammt. Zu hören ist die Stimme seiner Mutter, die er sechzehn Jahre zuvor, kurz nach dem Tod des Vaters, aufgefordert hatte, ihr Leben zu erzählen. Ihre Erinnerungen reichen vom jugoslawischen Königreich über den Krieg, der erst im neuen Krieg der neunziger Jahre als Weltkrieg bezeichnet wird, über die kommunistische Einparteienherrschaft bis zum Zerfall des Landes. Ihr erster, jüdischer Ehemann wurde von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet. Die Kinder aus dieser Ehe verlor sie durch einen Eisenbahnunfall. Mit stoischer Gelassenheit und vor der Brust verschränkten Armen berichtet sie von diesen Schicksalsschlägen und beantwortet die Fragen des Sohnes. Doch bei den Kämpfen und Vertreibungen in Bosnien ist ihre Kraft erschöpft. Dem Erzähler in der fernen neuen Welt bleibt nur die Aufzeichnung ihrer Stimme als Gruß aus dem Totenreich.

Zum ersten Mal hört der Erzähler die Bänder ab, hört nach zwei Jahren in Kanada wieder seine Muttersprache, und das im doppelten Wortsinn. Die Sätze der Mutter, zögerlich, fast ein bißchen unwillig vorgetragen, sind unterlegt vom Quietschen des Tonbandgerätes. Die Fragilität der Technik als Erinnerungskörper entspricht der Brüchigkeit des Lebens, wie es aus der Erinnerung entsteht. Das Band und die quietschende Spule taugen sogar als Metapher für Körper und Seele - und für die Unausweichlichkeit, mit der die Zeit abläuft. Der Erzähler ist überzeugt davon, daß es Kräfte gibt, "die den Menschen an seinen Wendepunkten festhalten, an denen die Seele ihre Kraft einbüßt. Danach ist das Leben nur noch ein Abspulen, bis der Faden zu Ende ist, sich spannt, und die Seele - man kann es nicht anders ausdrücken - aus ihrer schäbig gewordenen Bleibe herausreißt."

Es ist eine spezifisch jüdische Erfahrung, Identität stets als etwas Zweifelhaftes, Unklares zu erleben. In einem Essay beschrieb Albahari dieses Grundgefühl einmal mit einer Anekdote aus früher Schulzeit. Als ein Lehrer ihn fragte, woher sein für einen Serben untypischer Name komme, und er ihm antwortete, daß er jüdisch sei, sagte der Lehrer: "Wie ist das möglich? Ich dachte, daß von euch Juden überhaupt keiner übriggeblieben sei." Jahrelang habe er sich daraufhin als eine Art lebenden Toten empfunden, sagt Albahari. Nun, in den Erzählungen der Mutter, reiht sich Massengrab an Massengrab: Das zwanzigste Jahrhundert führt von Grube zu Grube.

Albahari ist im Schreiben ganz bei sich. Doch es geht dabei nicht um eine narzißtische Selbstentblößung, sondern um den direkten Zugang zur Geschichte, in deren Zentrum das Ich und mit ihm die Familie steht. Die Familie ist das Experimentierfeld, auf dem sich historische Erfahrungen akkumulieren. Sie ist die Keimzelle, die bedeutendste Gemeinschaft. Denn was hier geschieht, geschieht auch draußen in der Welt.

Wie ein Fremdkörper ragt die zerklüftete europäische Geschichte in die plane kanadische Gegenwart, die keine Vergangenheit zu kennen scheint. Gegenpol des Erzählers ist hier der Freund Donald, ein erfolgreicher Schriftsteller, der ihn zum Schreiben animiert, ihn mit seinen Ansprüchen an ein gut erzähltes Buch aber auch behindert. "Wenn ich ein Buch schriebe", schreibt der Erzähler und beteuert immer wieder, es nicht zu können. Das Textgewebe entsteht aus der Verweigerung und dem Zweifel als Negation - ein Verfahren, das dem Sprachverlust und der Verunsicherung in der Fremde entspricht.

Im Dialog mit Donald stehen sich Erfolg und Zweifel, Gegenwartsorientierung und Geschichtsverfallenheit, Pragmatismus und Räsonnement, Traditionslosigkeit und Heimatverlust, Amerika und Europa schroff gegenüber. Ist man nur dann frei, wenn man wie Donald überhaupt keine Wurzeln besitzt, fragt der Erzähler, der von seiner Herkunft nicht loskommen kann. "Nicht die Stille macht uns angst, sondern das, was auf sie folgt: die Unvermeidbarkeit der Wahl, die Unmöglichkeit der Veränderung, die Unwiderlegbarkeit der Zeit, die Anordnung der Dinge im Weltall", sagt er. Solche Sätze sprechen Menschen, die einem Bürgerkrieg entkommen sind und die Geschichte als schicksalhafte Macht erfahren haben. Donald, der Kanadier, kann darüber nur lachen.

David Albahari begann in den frühen siebziger Jahren zu schreiben. Sein Stil ist geprägt von der Postmoderne, von deren Autoren er viel gelernt hat. Robert Coover und Thomas Pynchon hat er ins Serbische übersetzt. Skeptisch ist er gegenüber linearem Erzählen, das er für ungeeignet dazu hält, Realität abzubilden. Auch das Leben ereigne sich schließlich nicht linear als braves Nacheinander. Manchmal geht es in mehrere Richtungen zugleich, und die Erinnerungen überlagern und vermischen sich. Für das amerikanisch-pragmatische Prinzip, sich auf einer verzweigten Bahn von Möglichkeitswahl zu Möglichkeitswahl voranzuarbeiten, hält der Erzähler in "Mutterland" ebenfalls nichts. Er hat statt dessen die Erfahrung des Weggehens hinter sich, die alles Bisherige entwertet, eine Erfahrung, die fast wie der Tod erscheint: "Das Leben besteht aus einer Anhäufung von Gegenständen, gleich ob von Büchern, Handtüchern, Kissenbezügen oder von Grafiken, als läge der Sinn des Lebens darin, daß wir uns selbst ein Museum errichten, welches sich früh oder später, zumal dann, wenn ein Weggehen unvermeidlich wird, in einen Haufen nutzlosen Zeugs verwandelt." Danach aber setzt das Erzählen ein und entreißt die sinnlos gewordenen Dinge dem Vergessen. David Albahari ist mit seinem autobiographischen Roman ein philosophisches, hochpoetisches Kunststück gelungen.

David Albahari: "Mutterland". Roman. Aus dem Serbischen übersetzt von Mirjana und Klaus Wittmann. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2002. 170 S., geb., 17,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.04.2002

Nirgendwo in der Natur gibt es eine gerade Linie
Und vielleicht spielt sich Geschichte nur in einem einzigen Augenblick ab: David Albaharis Roman „Mutterland”
Sie sagte, dass er schnell gestorben sei. „Ich war jedoch überzeugt, dass sein Sterben langsam war und Jahre dauerte, dass mein Vater sich mit dem Tod vierzig Jahre zuvor angesteckt hatte, damals, als er sich hinter dem Stacheldrahtzaun eines deutschen Gefangenenlagers für Offiziere wiederfand. Meine Mutter widersprach dem natürlich. Man stirbt nur einmal, sagte sie, niemand läuft als ein lebender Toter herum.”
Seit zwei Jahren sitzt der Ich-Erzähler in einem kleinen Haus am Rande der Prärie irgendwo im Westen Kanadas, doch seine Gedanken treiben immer wieder zurück in die Vergangenheit, nach Belgrad, Zagreb und Zemun, wo er bis vor einigen Jahren lebte; noch lange nachdem sein Vater gestorben war, und lange nachdem er seine Mutter aufgefordert hatte, ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen, um sie auf Tonband fest zu halten: „Ich sagte ihr, ich tue es wegen des Vaters”, meint der Ich-Erzähler, weil er dessen Lebensgeschichte an den Tod verloren habe.
Blumen und Schokolade
Jahre später und tausende Kilometer vom Grab beider Eltern entfernt, die Mutter ist während des Balkan-Kriegs gestorben, bedient der Ich- Erzähler ein altertümliches technisches Gerät, er hat die alten Bänder mitgenommen, hört nach Jahren zum erstenmal seine Sprache, und was sich ihm dabei auftut, ist nicht nur die private Geschichte seiner Eltern, sondern mit ihr auch die europäische des 20. Jahrhunderts.
„Als die Deutschen in Zagreb einzogen”, sagte die Mutter, „marschierten sie über Blumen und Schokolade”. Ein großer Teil der kroatischen Bevölkerung begrüßte die Nazis, doch die Mutter hatte Dinge getan, die sich als problematisch herausstellten: Zuerst hatte sie einen aschkenasischen Juden geheiratet, dessen Eltern die Kinder des Sohnes nicht sehen wollten, weil sie eine Christin war. Dann war sie 1938 zum jüdischen Glauben übergetreten, weil sie nicht wollte, dass die Kinder die Großeltern weiter vermissen. Das hat weitere Schwierigkeiten gebracht, doch die Mutter, deren erster Mann erschossen wurde, heiratete nach dem zweiten Weltkrieg noch einmal einen Juden, einen Sepharden, der direkt aus dem Lager kam: Auf eine endgültige Weise gebrochen, sanft, bescheiden, unsicher, aber offen muss dieser Mann gewesen sein. „Während mein Vater jeden mit offenen Armen empfing, konnte Mutter mit vor der Brust verschränkten Armen warten.” Immer wieder bringt der Autor David Albahari die beiden Elternteile dem Leser durch lakonische Gegenüberstellungen näher. Während der Vater die Vergangenheit nie verwunden hat, ist „Geschichte” für die Mutter „eine Tatsache”. Und auch „der Schmerz ist da, um weh zu tun, sagte sie, daran ist nichts zu ändern.” Vom Schreiben hält sie nichts. „Es würde sie freuen, dass ich nicht mehr an die Worte glaube.”
Doch der pragmatische Fatalismus der Mutter ist nur eine der faszinierenden Seiten des neuen Romans „Mutterland” des 1944 in Serbien geborenen David Albahari. So sehr sich die Mutter bei ihm zurück nimmt, so exaltiert und verzweifelt zeichnet er das Exil seines schwermütig- melancholischen Ich-Erzählers: „Ich trage meine Kleider wie eine sehr schwere Last, biege mich in Windböen, staune darüber, dass ich die Kraft besitze, eine Tasse Kaffee in der Hand zu halten.” Ein unnachgiebiger kraftvoller Ernst liegt über dem ganzen Buch, der nur durch distanzierte Ironie gelegentlich gebrochen wird. Gleich nachdem er in seinen Leidenschaften aufgeht, wird der Erzähler selber zum Pragmatiker: „Ich war nicht damit zufrieden, wie Mutter ihre Geschichte begann”.
Denn er, der bisher „nur” Gedichte geschrieben hat, hat die Absicht, aus dem erzählten Leben seiner Mutter ein Buch zu machen, weil sonst um ihn herum nichts mehr ist. „Ich bin kein Schriftsteller”, sagt er immer wieder, doch kennt er einen, der das Geschäft professionell betreibt: Donald, ein Kanadier, der von der ukrainischen Herkunft seines Vaters nichts mehr wissen will, der ganz in der nordamerikanischen Gegenwart aufzugehen scheint. Zuerst winkt Donald ab, doch dann beginnen die beiden ein Gespräch darüber, was eine story sei, was der Stil und was das Schreiben, und auch diese in allgemein verständlicher Sprache unauffällig virtuosen theoretischen Teile des Buchs sind mit den Charakteren der Figuren eng verknüpft. Zugleich sind sie auch eine Begegnung der nordamerikanischen mit der europäischen Vorstellung von Literatur.
Während Donald für eine gerade Erzähl-Linie plädiert, für die Wichtigkeit der story, für die Unwillkürlichkeit und das allmähliche Wachsen des eigenen Stils, auf den man verzichten müsse, sobald man an ihn denke, und dass man „nicht ständig unschlüssig sein dürfe und zwischen der Historie, der Chronik und poetischem Gefasel schweben”, beharrt der Ich- Erzähler darauf, „dass es nirgendwo in der Natur eine gerade Linie gebe und dass sich die Dinge bestenfalls spirmalförmig abspielen”. Und er fragt, ob sich die Geschichte vielleicht nur in einem „einzigen Augenblick” abspiele, ganz ohne zeitlichen Rahmen, und wenn er nicht auch „von sich schreiben” solle, „warum sollte ich es über jemanden anderen tun?”
Albahari, Serbe und Jude im Exil, schreibt unter einer relativ durchlässigen Maske von sich selbst, aber dabei auch derart intensiv von der Welt, dass sein Buch „Mutterland” zu einem leidenschaftlichen Plädoyer für ein offenes, radikal subjektives, daher keineswegs beliebiges historisches Erzählen wird. Gestützt und getrieben von der beeindruckend plastisch wirkenden Stimme der Mutter vom Tonband, werden die verschiedenen literarischen Meinungen der Kontrahenten zum zweiten Leitmotiv des Texts und stehen dabei stellvertretend für europäisches und nordamerikanisches Leben überhaupt: Das bewusste Schreiben an der Oberfläche, das „amerikanische” Dirigieren eines plots, entspricht einer Lebenshaltung, die sich der eigenen Welt sicher ist und sich daran auch freuen kann. Während der Erzähler seine Poetik der Unsicherheit und Wahrhaftigkeit aus seinem geschichtlichen Leben und dem seiner Eltern ableitet.
Gegen die große Lüge
Lange hält Albahari seinen Roman, dessen sprachliche Dichte kaum je nachlässt, durch das Gespräch zwischen Donald und dem Erzähler in einer gespannten Schwebe; bis sich die beiden auf einmal näher zu kommen scheinen. Donald beginnt seine lineare Vorstellung von einer „story” zu revidieren: Der Erzähler solle über das Verhältnis zwischen der Landkarte, ihren alten Falten und Rissen, und der realen Welt schreiben. Und noch einmal schaut er die Landkarte an: „Das ist deine story, sagte Donald, diese feinen Knicke, an denen es weder Farbe noch Druckerschwärze gibt.” Sie aufzufüllen, mit der privaten Geschichte, die in den Knicken liegt. Für eine Erinnerung der Indivduen, gegen die „große Lüge der Verallgemeinerung”.
Schon mit seinem Roman „Tagelanger Schneefall”, der vor einigen Jahren auf Deutsch erschienen ist, hatte Albahari sein Talent bewiesen, doch mit „Mutterland” kommt er noch ein erhebliches Stück weiter. Von der k.u.k-Zeit, die in der Vorgeschichte der Erzählermutter eine Rolle spielt, über die Zwischenkriegszeit, den Zweiten Weltkrieg, das Regime Titos, bis in die Balkan- Kriege und in das Exil hinein, ensteht hier ein beeindruckendes literarisches Zeitdokument aus einer ebenso jüdisch-osteuropäischen wie universellen Perspektive, deren sprachliche wie gedankliche Kraft den auf ganz andere Weise hochsensiblen, um zwanzig Jahre jüngeren Albahari neben Aleksandar Tisma stellt.
Die Mutter des Erzählers dürfte ihm vergeben, auch wenn sie zu sagen pflegte: „Wenn du mir nachtrauern willst, dann tue es zu meinen Lebzeiten, wenn ich tot bin, wird mir das gleichgültig sein.”
HANS-PETER KUNISCH
DAVID ALBAHARI: Mutterland. Roman. Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main. 170 Seiten, Euro.
Der serbische Schriftsteller David Albahari
Foto:
Eichborn Verlag
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"David Albahari ist mit diesem autobiografischen Roman "ein philosophisches, hochpoetisches Kunststück" gelungen, feiert Rezensent Jörg Magenau dieses Buch. Dabei handele es sich "eher um eine Meditation als um einen Roman", schreibt er, "um Reflexionen über Exil, Heimatverlust, Sprache, Geschichte, Schreiben, Erinnern, Judentum, Tod und Schuld". Ohne einen einzigen Absatz laufe der monologische Text durch, "fast als käme er vom Tonband". Ein Tonbandgerät steht laut Magenau auch im Zentrum des Buches. Zu hören sei die Stimme der Mutter des Erzählers, der wie der Autor im kanadischen Calgary lebt, und ursprünglich aus Belgrad stammt. Die Erinnerungen der Mutter, lesen wir, reichen vom jugoslawischen Königreich über den Weltkrieg, die kommunistische Einparteienherrschaft bis zum Zerfall des Landes. Zum ersten Mal höre der Erzähler in Kanada seine Muttersprache wieder. Die zögerlichen, fast ein wenig unwillig vorgetragenen Sätze der Mutter seien unterlegt vom Quietschen des Tonbandgeräts. Die beschriebene "Fragilität der Technik als Erinnerungskörper" ist für den Rezensenten ein stimmiges Bild für die Brüchigkeit des Lebens. Albaharis Stil sei geprägt von der Postmoderne, schreibt Magenau. Er habe Thomas Pynchon und Robert Coover ins Serbische übersetzt und scheint viel von ihnen gelernt zu haben.

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"Die anfangs noch milde Ironie, die den Roman grundiert, wird immer beißender. Was am Ende bleibt, ist ein Stück Weltliteratur."Jochen Schimmang, Deutschlandfunk"David Albahari ist mit seinem autobiographischen Roman ein philosophisches, hochpoetisches Kunststück gelungen."Jörg Magenau, Frankfurter Allgemeine Zeitung"Wir verneigen uns mit dem Autor vor einer starken Frau (.)."Harald Loch, Jüdische Allgemeine"Ein beeindruckendes literarisches Zeitdokument aus einer ebenso jüdisch-osteuropäischen wie universellen Perspektive, deren sprachliche wie gedankliche Kraft (.) Albahari neben Aleksandar Tisma stellt."Hans-Peter Kunisch, Süddeutsche Zeitung"Ein Epitaph von leuchtender Negativität, von schrecklicher Schönheit und brutaler Intimität."Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung"Man erwacht aus dem Buch wie aus einem langen, vielschichtigen Traum und stellt ganz erstaunt fest, dass in der Zwischenzeit nur 170 Buchseiten vergangen sind."Johann Kneihs, ORF"Jede Seite atmet."Hilde Malcomess, Rheinischer Merkur"