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Mit Joseph Boyden hat die kanadische Literatur eine kraftvolle Stimme, die weit über die Landesgrenzen hinaus gehört wird. Sein neuer Roman erzählt davon, dass das Leben nach Indianersitte Vergangenheit ist, Neues aber nicht gefunden wurde. Denn in der Wildnis der Städte sind die Regeln der Wälder vergessen; Gier und Verachtung gefährden eine Ordnung, die über Jahrtausende Geben und Nehmen ausbalanciert hat. Der Cree-Indianer Will lernte die Kunst des Jagens von seinem Vater. Doch die Lebensweise der Alten ist den Stürmen der neuen Zeit nicht gewachsen. In der modernen Welt wird der Alkohol…mehr

Produktbeschreibung
Mit Joseph Boyden hat die kanadische Literatur eine kraftvolle Stimme, die weit über die Landesgrenzen hinaus gehört wird. Sein neuer Roman erzählt davon, dass das Leben nach Indianersitte Vergangenheit ist, Neues aber nicht gefunden wurde. Denn in der Wildnis der Städte sind die Regeln der Wälder vergessen; Gier und Verachtung gefährden eine Ordnung, die über Jahrtausende Geben und Nehmen ausbalanciert hat. Der Cree-Indianer Will lernte die Kunst des Jagens von seinem Vater. Doch die Lebensweise der Alten ist den Stürmen der neuen Zeit nicht gewachsen. In der modernen Welt wird der Alkohol für viele ein gefährlicher Tröster. Als Will in einen alten Konflikt zwischen rivalisierenden Clans gerät, flieht er in die Wildnis. Der einbrechende Winter treibt ihn zurück in die Siedlung, wo er Opfer eines brutalen Überfalls wird. Nun liegt er im Koma, und seine Nichte Annie versucht, ihn durch Geschichten in die Realität zurückzuholen. Sie berichtet ihm von der Wildnis der großen Städte, in der sie nach ihrer schönen verschwundenen Schwester Suzanne gesucht hat. Annie ist ohne sie zurückgekehrt. Sie hat erkannt, dass ihre Zukunft bei ihren Wurzeln und in den Wäldern liegt.
Ausgezeichnet mit dem Scotiabank Giller Prize.
Autorenporträt
Joseph Boyden, 1967 in Kanada geboren, hat indianische Vorfahren.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2010

Auf der Fährte des Helden

An Kanadas Küsten ist die Gefahr ebenso zu Hause wie im Dickicht Torontos: Joseph Boyden gönnt seinen indianischen Helden mittendrin Erlösung.

Von Daniel Haas

Wo uns dieser Roman überall hinführt! Vom nördlichsten Zipfel Kanadas herunter nach Toronto, weiter nach Montreal. Von dort nach New York und wieder zurück, in die eisigen Grenzgebiete an den Rändern Grönlands. Und dann verdammt er uns zur Reglosigkeit, zwingt uns in die Kulisse eines Bewusstseins, das, ganz in sich gekehrt, nur noch die Regionen der Erinnerung durchwandert. Die Expedition, die "Durch dunkle Wälder" darstellt, geht in zwei Richtungen: Sie durchmisst die äußere Welt der Städte und Landstriche und die innere Geographie einer mit sich und dem Schicksal ringenden Seele. Am Ende werden die zwei Bewegungen zusammenfallen.

Doch bis es so weit ist, verfolgen wir die sich weit verzweigenden Handlungs- und Gedankenspuren jener beiden Erzähler, die durch den Text hindurch aufeinander zueilen wie Scouts auf der Suche nach einer kostbaren Beute. Der Cree-Indianer Bill, ein ehemaliger Buschpilot, liegt im Koma, eine Generationen währende Fehde mit einem anderen Familienclan führte zur Katastrophe. Sein als Erinnerungsszenario angelegter Bericht der Geschehnisse bildet die eine Fährte innerhalb des Romans, sie kennt zahlreiche Nebenpfade, wird gekreuzt von Unter- und Nebengeschichten mit einem Figurenreichtum, wie man ihn sonst nur von Balzac-Romanen erwartet.

Seine Nichte Annie, eine Jägerin mit mäßig florierendem Pelzhandel, besucht den Patienten im Krankenhaus und erzählt ihrerseits die Geschichte des Dramas, das zum Attentat auf den Onkel führte. Diese zweite Chronik führt aus den kanadischen Wäldern ins Dickicht der nordamerikanischen Metropolen, und auch sie wird bevölkert von einem schillernden Figurenpersonal.

Das feinmaschige Erzählmuster ist dabei um eine Figur gewoben: Suzanne, die Schwester Annies. Die indianische Schönheit türmte aus der polaren Einöde mit Gus, einem Angehörigen der Whiskeyjacks. Dieser Clan einstiger Jäger ist zu einer Clique von Drogendealern und Schlägern verkommen. Ihr Chef ist Gus' Bruder Marius; er wird es sein, der zwei Attentate auf Bill verübt und ihn schließlich ins Koma prügelt.

Die Motive kommen erst langsam ans Licht: Gus hat die amerikanische Drogenmafia bestohlen; der Mob will sein Geld zurück und macht dafür Suzanne haftbar. Die ist mittlerweile untergetaucht und hat so die Recherche Annies in Gang gebracht. Diese beginnt als ehrgeiziger Streifzug durch Toronto und endet im Herzen der amerikanischen Glitzerwelt. Um die Schwester aufzuspüren, muss das Naturkind zur Modepuppe werden: Annie etabliert sich in der New Yorker Society als Indianerprinzessin, sie wird zum It-Girl, einer Kate Moss der native Americans. Dafür, dass sie im emotional versteppten Fashiongeschäft nicht vor die Hunde geht, sorgt Gordon, ein stummer Großstadtindianer, den Annie in Toronto aufliest. Mehrfach rettet ihr der nur über Zettel kommunizierende Mann das Leben, und es ist eine schöne Volte der Emanzipation, dass Annie ihm später, als Kontrapunkt zur Pathologie der Stadtexistenz, das Leben in der Wildnis beibringen wird.

Mit Naturromantik hat das allerdings wenig zu tun, das gute Leben jenseits zivilisatorischer Verwüstungen ist in diesem Kanada des späten zwanzigsten Jahrhunderts kaum mehr als eine in Riten verwahrte Utopie. Die reale Existenz des in nicht in Reservaten eingehegten Indianers ist entweder die des urbanen Sozialfalls oder ein steter Überlebenskampf an den Grenzen der bewohnbaren Welt. Viel erfährt man von diesem Dasein als Jäger in Bills Innen- und Lebensschau. Nachdem ihn Marius zweimal attackiert, tüftelt er einen Mordplan aus, schießt auf den Widersacher und flieht in die Küstenregion der Hudson Bay. Hier nun beginnt eine Selbsterkundung nach den Mustern der Robinsonade: Fallen stellen, ein Lager anlegen, die sich zur Existenzangst verdichtende Einsamkeit aushalten.

Wie vehement sich die Schicksalsfragen für diesen modernen Indianer stellen, macht Boyden mit streckenweise plakativer Symbolik deutlich. Wenn Bill durch die Rippenbögen eines Walskeletts schreitet, dann ist klar: Ein Jona mit klarem Erlösungsauftrag wird dieser Flüchtling niemals werden. Aber auch die naturreligiösen Traditionen sind ihm bereits unter dem Druck einer entfremdeten Moderne zerfallen.

Es hätte also leicht ein fatalistischer Klagegesang werden können, dieser Roman, der das Elend der kanadischen Ureinwohner über alle Landschaften und Lebensformen verteilt. Aber dies ist das Glücklichmachende an Boydens Werk: Es widerspricht sich selbst. "Auf dieser Welt gibt es keine Helden", erklärt Bill gleich zu Beginn. "Keine richtigen. Nur Männer und Frauen, die alt und müde werden, die Kraft zum Kämpfen, für das, was sie lieben, verlieren." Und tatsächlich ist es, bei aller dramatischen Auseinandersetzung, ein Ermüdungsvorgang, der Bill aus der Gemeinschaft hinaus in die Einöde und wieder zurück, in die Arme seines Verfolgers, treibt.

Aber an diesem fortgeschrittenen Punkt der Geschichte haben die Helden bereits starke Verbündete um sich gesammelt - bisweilen ohne es zu wissen. Denn mit Antoine, seinem kauzigen, versoffenen Halbbruder, der als Waldschrat allen Zurichtungen des technisierten Lebens trotzt, hat Bill nicht gerechnet. Und auch nicht mit dem Scharfschützengewehr, das seinen Weg von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges in die Hände eines alten, aber immer noch wehrhaften Indianers findet.

Annie wiederum wird in dem stummen Gordon jenen Mann erkennen, der ihre Sprache spricht, jenes besondere Idiom, das sich aus den feinsten Partikeln unseres Innersten bildet und das sich im entscheidenden Moment lautlos ausdrückt. So erkundet dieser Roman neben verschiedensten Topographien auch die Grenzzonen menschlicher Verständigung. Ein Glück, wenn Literatur solchen Fährten folgt.

Joseph Boyden: "Durch dunkle Wälder". Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Knaus Verlag, München 2010. 448 S., geb., 22,99 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Beeindruckt zeigt sich Rezensentin Katharina Granzin von Joseph Boydens Roman "Durch dunkle Wälder". Die auf den erste Blick vielleicht verwunderliche Erzählanordnung - ein im Koma liegender Cree-Indianer Will und seine Nichte, die ihn täglich besucht, erzählen sich, wie sie in ihre gegenwärtige Situation gekommen sind - funktioniert in ihren Augen "erstaunlich gut" und hat einen "tieferen" Sinn, der beim Lesen bald einleuchtet. Wie Boyden die beiden Geschichten in der Gegenwart aufeinandertreffen lässt, findet sie überaus gekonnt. Die Berichte Wills über seine Flucht nach einer ländlichen Fehde in die Wälder, wo er sich einsam mittels überlieferter indianischer Überlebenstechniken durchschlägt, findet sie faszinierend. Granzin attestiert dem Autor, der selbst indianische Wurzeln hat, weder Tradition noch die Moderne zu verdammen beziehungsweise zu verklären, sondern zu zeigen, dass sich beides nicht ausschließt, auch wenn es dabei zu "bedrohlichen Brüchen" kommen kann. Für sie ist Boyden ein Autor, der einerseits eine Botschaft, andererseits viel zu erzählen hat.

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