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Kaum ein Historiker hat sich mit so vielen Personen beschäftigt wie CarloGinzburg: Aristoteles, Dante, Machiavelli, Diderot, Hegel, Heine, Flaubert,Tolstoi,Warburg,Proust, Picasso und viele andere. Vor allem aber ist Ginzburgberühmt für seinen speziellen Blick und seine Forschungsmethode, gehörteer doch zu den ersten Historikern, die sich mit der Kultur der sogenannteneinfachen Leute befassten (siehe seine Bücher Hexensabbat und Der Käse unddie Würmer). Und mittels der von ihm begründeten Mikrohistorie sucht ergroße geschichtliche Zusammenhänge aus der Betrachtung kleiner Details…mehr

Produktbeschreibung
Kaum ein Historiker hat sich mit so vielen Personen beschäftigt wie CarloGinzburg: Aristoteles, Dante, Machiavelli, Diderot, Hegel, Heine, Flaubert,Tolstoi,Warburg,Proust, Picasso und viele andere. Vor allem aber ist Ginzburgberühmt für seinen speziellen Blick und seine Forschungsmethode, gehörteer doch zu den ersten Historikern, die sich mit der Kultur der sogenannteneinfachen Leute befassten (siehe seine Bücher Hexensabbat und Der Käse unddie Würmer). Und mittels der von ihm begründeten Mikrohistorie sucht ergroße geschichtliche Zusammenhänge aus der Betrachtung kleiner Details zuverstehen.In den Texten dieses Bandes lässt Ginzburg sein Forscherleben Revue passieren- er erklärt, wie er zu seinen Themen und seiner Betrachtungsweise kamund diese zum Teil über Jahrzehnte weiterentwickelte. Seine Rückschau wirdzu einer persönlichen Selbstbefragung: Am Beispiel des Hexensabbat erzähltGinzburg von den Märchenbüchern seiner Kindheit und von seiner Mutter Natalia.Und er fragt sich, ob es nicht auch seine eigene jüdische Familie und dasSchicksal seines Vaters waren, die ihn immer wieder die Opfer von Verfolgungzum Gegenstand seiner Arbeit wählen ließen.Dieses Buch kann als Summe der Werke Carlo Ginzburgs gelesen werdenund lädt zugleich dazu ein, einen der interessantesten Gelehrten unserer Zeitneu zu entdecken.
Autorenporträt
Carlo Ginzburg, geboren 1939 in Turin, lehrt Neue Geschichtean der Scuola Normale Superiore in Pisa. Er istunter anderem Ehrenmitglied der American Academy ofArts and Science, erhielt 1993 den Aby-Warburg-Preis derStadt Hamburg und 2010 den renommierten Balzan-Preis.Bei Wagenbach erschienen u. a. "Hexensabbat", "Der Käseund die Würmer" und "Spurensicherung".
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Carlo Ginzburg schlägt in seinen Abhandlungen über das Verhältnis von Literatur und Geschichte die Postmoderne mit ihren eigenen Waffen, freut sich Gustav Seibt. In "Faden und Fährten" wird eine Debatte nachgezeichnet, die nur in ihren Ausläufern bis nach Deutschland vorgedrungen war, weiß der Rezensent, der es umso wichtiger findet, dass Ginzburgs Beiträge nun auf Deutsch vorliegen. Gegenüber der schon damals modischen "Tendenz zur Literarisierung" historischer Fakten positioniert sich der italienische Theoretiker als "Verteidiger des Realitätsprinzips", berichtet Seibt. Ginzburg wendet sich also gegen die absolute Skepsis gegenüber geschichtlichen Wahrheitsansprüchen, erklärt der Rezensent, auch weil die Folgen ihres Verlustes nicht wünschenswert sein können. Wer Wahrheit verwirft, wie sie etwa in der juristischen Tradition durch unabhängige Zeugen begründet wird, redet dem Recht des Stärkeren das Wort. Die Grundlage von Wahrheitsansprüchen mag kontingent sein, die Entscheidung für sie ist deswegen noch lange nicht beliebig, lernt Seibt vom Autor.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.06.2013

Der einzige Zeuge,
die vielen Erzählungen
Carlo Ginzburg verteidigt das Realitätsprinzip
In den Achtzigerjahren wurde in den Geisteswissenschaften eine Schlacht gegen den Relativismus geschlagen, deren Bedeutung hierzulande nicht allgemein bekannt ist. Es ging dabei um die Frage, was Geschichtsschreibung mit Literatur zu tun habe. In Deutschland trat sie nur in harmloser Gestalt auf: Historiker, so wurde gefordert, sollten wieder so packend erzählen wie ihre Vorläufer im 19. Jahrhundert. In den USA, Italien und Frankreich dagegen machten sich radikale Theorien breit, die Historie überhaupt zu einem Resultat von Erzählmustern, rhetorischen Strategien, ja zu „Erfindungen“ erklärten. Das war fruchtbar insofern, als es ein breites Feld des Vergleichs zwischen den großen Romanen und den großen Geschichtswerken eröffnete oder, für frühere Epochen, zwischen Epos und Historiografie.
  Doch war diese Tendenz zur Literarisierung auch gefährlich, weil sie Quellenkritik, überhaupt historische Methoden bis hin zur Statistik, zu positivistischen Illusionen erklärte; damit geriet der Wahrheitsanspruch von Geschichtswissenschaft in Zweifel. Eine uralte Skepsis – das Vergangene sei verschwunden, nie mehr werden wir Präzises davon in Erfahrung bringen können, alle Erinnerungen und Spuren seien trügerisch – erneuerte sich radikal. Die große Freiheit, mit der man Chroniken, Epen und Romane zusammenlas, drohte in eine große Beliebigkeit zu münden.
  In dieser Lage waren es vor allem italienische Theoretiker, der Semiotiker Umberto Eco und der Historiker Carlo Ginzburg, die auf intelligente, methodisch ganz unnaive Weise auf dem sachlich Feststellbaren beharrten, mit einem Bündel erkenntnistheoretischer, aber auch moralischer Argumente, ohne dabei den Gewinn der neuen literarischen Offenheit zu verspielen. Der jetzt auf Deutsch erschienene Band mit Abhandlungen Ginzburgs sammelt seine wichtigsten Beiträge zu dieser Debatte. Da Ginzburg selber literarisch begabt und sensibel ist, geraten sie zu Kabinettstücken einer erzählerischen Theorie, die nicht nur Argumente entfaltet, sondern diese an Beispielen anschaulich werden lässt.
  Wie trickreich und ernst zugleich das sein kann, zeigt die Abhandlung über den „einzigen Zeugen“, der als letzter Überlebender ein Massaker an Juden beglaubigen muss. Seine Stimme bezeichnet stellvertretend die letzte Grenze, bis zu der man vom „Erfundenen“ oder gar von Historie als reiner „Kunst“ reden kann. Wenn Geschichte später angeblich nur noch narrativ „konstruiert“ werden kann, dann hat man es schwer gegen Holocaustleugner. Doch dieses wuchtige Argument verwendet Ginzburg nur beiläufig; wichtiger ist ihm, darauf hinzuweisen, dass in alten juristischen und erzählerischen Traditionen oft mindestens zwei unabhängige Zeugen verlangt werden, um einen Sachverhalt zu beglaubigen. Das „Realitätsprinzip“, das dies verlangt, wird im 20. Jahrhundert mehr als erfüllt – wir wissen von Millionen Toten, aber auch von Überlebenden.
  Doch im Mittelalter ist die Quellenlage oft unendlich viel schmaler, wir müssen uns mit der Möglichkeit vertraut machen, ein einziges Zeugnis gelten zu lassen, ohne deshalb in radikalen Zweifel zu verfallen. Denn dieser öffnet, und hier wechselt Ginzburg die Ebene, die Bahn zu irregeleiteten idealistischen Theorien, die das Bild der Geschichte vom jeweils „stärkeren Willen“ der voranschreitenden Entwicklung bestimmt erscheinen lässt. Bezeichnenderweise war es ein späthegelianischer Anhänger des Faschismus, der Philosoph Giovanni Gentile, der noch vor dem Holocaust mit solchen Überlegungen spielte.
  Plötzlich ist man mit einem Sprung sowohl bei der intellektuellen Vorgeschichte der historiografischen Erzähltheorie, für die sich Hayden White, ihr berühmtester Vertreter, eben auch auf Gentile berief, als auch bei jenen Stockschlägen, mit denen der italienische Faschismus seine Wahrheiten in Polizeikellern einprügelte. Die postmoderne Freiheit, das zeigt Ginzburgs Abhandlung elegant und unaufgeregt, mündet ins Recht des Stärkeren, weil sie „Wahrheit“ nicht mehr kennt, also auch die Kraft des Arguments nicht. Auch Toleranz wird ja ohne Wahrheitsansprüche sinnlos.
  Ginzburgs Verteidigung des Realitätsprinzips verführt ihn allerdings keineswegs zu einer sterilen Verleugnung der Sprachlichkeit und Zeichenhaftigkeit von historischer Erkenntnis. Das Feld zwischen wahr, falsch und fiktiv ist riesig, und literarische Sensibilität sollte heute zum Werkzeug jedes Historikers gehören. Ginzburgs Fallstudien sind unterhaltend auf höchstem Niveau: Er kann zeigen, dass man schon im Paris des 17. Jahrhunderts erkannte, der Wert mittelalterlicher Romane bestehe nicht in den behaupteten Fakten, sondern den unabsichtlich dargestellten Sitten. Montaignes geistige Originalität kann Ginzburg als Anwendung eines an der Antike geschulten antiquarischen Sammlergeistes auf ethnologische Neuigkeiten im Zeitalter der Entdeckungen analysieren. Dass der Historismus des 19. Jahrhunderts mit seiner Forderung nach zeitlicher Kontinuität und seiner narrativen Anschaulichkeit ebenso von der gleichzeitig entstehenden Fotografie profitierte wie Flauberts und Prousts Fähigkeit, die Welt scheinbar teilnahmslos zu sehen, kann man als Aufforderung lesen, auch heute noch Anregungen aus den Künsten aufzunehmen. Ginzburg selbst exzellierte in „Mikrogeschichten“, ethnologisch umfassend erhellten Fallstudien auf der Basis ungewöhnlicher Quellenfunde: Hier war der verfremdende fotografische Blick wie die Lektüre von unabsichtlichen Mitteilungen so fruchtbar, dass ein einzelner Inquisitionsfall aus Oberitalien die Spur zu einem prähistorischen Schamanenkult im ganzen Raum Eurasien öffnen konnte.
  Auch solche Forschungen haben bei aller methodischen Kontrolliertheit ihre literarische Form: Der Gang der Erkenntnis muss selbst so erzählerisch gestaltet werden wie es die Literatur in Kriminalromanen kennt. In solchen Volten wird der Verteidiger des Realitätsprinzips zu einem intellektuellen Artisten des Lustprinzips. Carlo Ginzburg vermochte es, die Postmoderne mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.
GUSTAV SEIBT
Carlo Ginzburg: Faden und Fährten. Wahr – falsch – fiktiv. Aus dem Italienischen von Victoria Lorini. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013. 153 Seiten, 22,90 Euro.
Das Feld zwischen wahr,
falsch und fiktiv ist riesig
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