Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 10,99 €
  • Gebundenes Buch

Seit William Turner hat das Unklare eine Geschichte, die bis in die heute weitverbreitete Bildästhetik der Unschärfe reicht. Wolfgang Ullrich beschreibt die Tradition, die ideologischen Begründungen und die Wirkungen dieses Stilmittels.

Produktbeschreibung
Seit William Turner hat das Unklare eine Geschichte, die bis in die heute weitverbreitete Bildästhetik der Unschärfe reicht.
Wolfgang Ullrich beschreibt die Tradition, die ideologischen Begründungen und die Wirkungen dieses Stilmittels.
Autorenporträt
Wolfgang Ullrich, Jahrgang 1967, studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik in München. Promotion 1994 mit einer Arbeit über das Spätwerk Heideggers. Seitdem freier Autor, Dozent am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Kunstakademie München (1997 bis 2003) und Unternehmensberater, zahlreiche Arbeiten zur Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, über moderne Bildwelten und Wohlstandsphänomene.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.11.2002

Verschwommen, lieber Freund, ist alle Theorie
Vom unliebsamen Nebeneffekt langer Belichtungszeiten zur Ikone des Luxuslebens: Wolfgang Ullrich fixiert die Geschichte der Unschärfe
Die Kamera rückt der Hauptdarstellerin beständig zu nah. Ihr weizenblondes Haar flammt überbelichtet in der mediterranen Mittagssonne. Eine verwackelte Einstellung zeigt ein türkisfarbenes Bikinioberteil, das im Wagen des Ex-Lovers liegen geblieben ist. Dominik Grafs preisgekrönter Spielfilm „Der Felsen”, der die Geschichte einer Trennung erzählt, spielt souverän mit dem Stilmittel der Unschärfe. Unscharfe Bilder sind hip und das nicht nur im Kino. Die Anhänger der Lomographie lieben psychedelische Lichteffekte und flüchtige Alltagsmotive. Sie knipsen Fotos mit technisch primitiven Kameras russischer Provenienz, die als Kultobjekte gelten.
Wolfgang Ullrich, promovierter Philosoph und Unternehmensberater, hat den Trend zur Unschärfe am Bilderhimmel der Gegenwart zum Ausgangspunkt einer aufschlussreichen Abhandlung gemacht. Sie rekonstruiert die kulturhistorischen Hintergründe der Erfolgsgeschichte eines Stilmittels und seiner wechselnden ideologischen und ästhetischen Legitimierungen. Warum, so die Ausgangsfrage, sind Bilder so populär, auf denen fast nichts zu erkennen ist?
In zwölf Kapiteln führt Ullrich durch die Zeit und die verschiedenen Bildmedien. Die Ästhetik der Unschärfe wurde zuerst in der romantischen Landschaftsmalerei zum Thema. Auf der Leinwand sollten Raum, Materie und Zeit miteinander verschmelzen, um dem Betrachter Transzendenzerfahrungen zu ermöglichen. Caspar David Friedrich führte die neue Bildsprache in seinem Gemälde „Der Mönch am Meer” zu früher Vollendung. Die Technik abbildgenauer Fotografie provozierte seit etwa 1840 einen neuen Diskurs. Eine ganze Reihe von Fotografen konterten den häufig von Malern geäußerten Vorwurf der geistlosen Oberflächlichkeit mit dem Einsatz von Unschärfe-Effekten. Um 1900 war diese künstlerische Fotografie, die man in Amerika und England „pictoralism” nannte, zur Mode geworden. Die neue Technik profitierte von der Aura des Wunderbaren und bediente die Lust am Okkultismus. Geisterfotografien hatten Konjunktur und galten als durchaus glaubwürdig.
Träume und Rückblenden
Die Unschärfe-Welle führte zu einem frühen „crossover” der Gattungen. Der Amerikaner Edward Streichen etwa fertigte eine Porträtserie von Auguste Rodin an. Streichen setzte die künstlerische Fähigkeit des Bildhauers als rein geistige Leistung ins Bild. Die Skulpturen wirkten auf den Fotografien wie bloße Schemen. Die Beliebtheit der Unschärfe zu Beginn des letzten Jahrhunderts, so Ullrich, verweist auf den antimodernistichen Affekt der Moderne, die sich den Phänomenen der realen Lebenswelt längst nicht immer stellen wollte.
Mehr und mehr wandte sich die Aufmerksamkeit der Kunsttheorie vom Sujet der Wahrnehmung ab und dem Wahrnehmungsprozess selbst zu. Unschärfe- Techniken galten als geeignetes Mittel, um Sinnesreaktionen möglichst unverfälscht in die Bildsprache zu übersetzen. Bis heute verwenden Filmemacher unscharfe Sequenzen, um Rückblenden oder Träume darzustellen. Eine weitere stilistische Facette kam mit der Bewegungsunschärfe hinzu – ursprünglich ein unliebsamer Nebeneffekt langer Belichtungszeiten. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Fotomaterial empfindlich genug, um Bewegungsabläufe festzuhalten. Mit Fotografien, die zugleich unscharf und doch detailgenau einzelne Bewegungsphasen abbildeten, idealisierten Futuristen wie der Italiener Anton Bragaglia das Tempo, den Lärm und die Hektik einer durch neue Fortbewegungsmöglichkeiten beschleunigten Welt.
Im historischen Längsschnitt wirkt Ullrichs Abhandlung über längere Strecken hinweg eigentümlich statisch. Dies liegt daran, dass die Unschärfe im Grunde seit ihrer Entdeckung und ihrer Aufwertung zum ästhetischen Prinzip stets eine doppelte Valenz hatte und bis heute hat: Unschärfe in der Malerei oder in der Fotografie kann eingesetzt werden, um der hektischen, die Sinne überfordernden Gegenwart zu entfliehen und im Auge des Betrachters ein verklärtes Idyll zu evozieren. Andererseits versucht man etwa mittels der Bewegungsunschärfe der pulsierenden, lebendigen Gegenwart möglichst nahe zu kommen. Zwischen diesen beiden Polen – Weltflucht einerseits und Suche nach der größtmöglichen Lebensnähe andererseits – webt Ullrich sein kulturhistorisches Interpretationsgeflecht.
Weich gezeichnete Eier
Je näher er der Gegenwart kommt, desto mehr zieht seine Analyse in den Bann. Heute prägen die vielfältigen Möglichkeiten der Bildmanipulation, ein Pluralismus der Stile und inflationäre Bildermengen unsere Sehgewohnheiten. Als fest etabliertes Stilmittel stehen Unschärfetechniken im Bildjournalismus für Sensation, Drama und Katastrophe. Die verwackelten Aufnahmen von der ersten Mondlandung oder von angeblichen UFOs sind paradigmatische Motive des vergangenen Jahrhunderts. In Ullrichs präziser Diktion heißt dies: Solche und ähnliche Bilder verweisen auf Ereignisse, die die eigene Wiedergabe stören und gerade dadurch präsent sind.
Die gegenwärtige Renaissance der Unschärfe deutet Ullrich scharfsichtig als optische Verbrämung eines neoliberalistisch geprägten Lebens- und Gesellschaftsmodells. Unscharfe Bilder haben aufgrund ihrer vielfachen Besetzbarkeit und ihrer leichten Konsumierbarkeit einen hohen marktwirtschaftlichen Nutzwert. In der Werbung appellieren sie vor allem an die Kauflust einer exklusiven Zielgruppe junger, gutverdienender und ästhetisch versierter Menschen.
Den Strom verwackelter, weich gezeichneter Bilder liest Ullrich als durch und durch gegenwartsbejahende „Ikonographie des guten Lebens”, die für Bewegung, Erfolg, Fitness und Luxus steht. Sie funktioniert selbstreferentiell, denn ihre Produzenten und Rezipienten gehören zu den Privilegierten unserer Gesellschaft, die am easy living partizipieren. Wer heute in einem der vielen Lifestyle-Magazine ein unscharfes Bild betrachtet, wird kaum das mangelnde Geschick des Fotografen assoziieren. Im Gegenteil: er oder sie wird sich bewusst oder unbewusst zu denjenigen zählen, die auf der richtigen Seite stehen und die Zeichen der Zeit zu lesen im Stande sind.
GUNDULA BAVENDAMM
WOLFGANG ULLRICH: Die Geschichte der Unschärfe. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002. 160 S., 19,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

'Warum können Bilder populär sein, auf denen kaum etwas zu erkennen ist?' - diese Frage sucht der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich in seiner "Geschichte der Unschärfe" zu beantworten, schreibt Rolf-Bernhard Essig. "Konzis, faktenreich und erhellend" erzähle Ullrich die Geschichte der Unschärfe nicht nur als eine Geschichte der technischen Entwicklung der Fotografie, sondern stelle sie in den "Gesamtzusammenhang der Avantgarde-Bewegung" seit 1900. Eins allerdings hat Essig an dem Band auszusetzen: mit "ermüdender" Beharrlichkeit erkläre Ullrich wieder und wieder die Vorliebe fürs Unscharfe - schon Goethe weigerte sich, eine Brille zu tragen - als 'Flucht vor der Moderne'. Das findet Essig als Erklärung ein wenig zu einseitig.

© Perlentaucher Medien GmbH