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Produktdetails
  • Verlag: Universitas Verlag
  • Seitenzahl: 391
  • Abmessung: 230mm
  • Gewicht: 710g
  • ISBN-13: 9783800413966
  • ISBN-10: 3800413965
  • Artikelnr.: 21882216
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2000

Diplomatie des Seitenwechsel
István Horváth: Budapests bedeutendster Botschafter in Bonn

István Horváth: Die Sonne ging in Ungarn auf. Erinnerungen an eine besondere Freundschaft. Aus dem Ungarischen von Péter Máté und György Józsa. Mit einer historischen Einführung von István Németh. Universitas Verlag, München 2000. 391 Seiten, 49,90 Mark.

Endlich wieder einmal Diplomaten-Erinnerungen, die neugierig machen. Nicht daß man sich die ersten 130 Seiten sparen könnte, ganz im Gegenteil: Deutsche Leser brauchen diese geschichtliche Einführung. Aber die Aufzeichnungen des wohl bedeutendsten Botschafters, den Ungarn im vergangenen Jahrhundert in Deutschland hatte, werden erst im zweiten und dritten Drittel des Bandes zum Bericht eines Eingeweihten: eingeweiht in das Experiment des einzigen außenpolitischen Seitenwechsels eines Warschauer-Pakt-Mitgliedes.

Weder Polen noch Rumänien (die Volksrepubliken also, deren Emanzipation von der Sowjetunion die damaligen Beobachter beeindruckte) haben so zielsicher das Verlassen der sowjetischen Hegemonialzone und die Anbindung an den Westen angestrebt wie Ungarn. Horváths Werkstattbericht beginnt mit einem Zitat des kommunistischen Parteichefs János Kádár aus dem Jahre 1979. "Wir sind Ungarn und Europäer. Deshalb schauen wir mit einem Auge stets in Richtung Westen. Sie sollten aber wissen, daß wir auch ein anderes Auge haben. Und das muß immer auf Moskau gerichtet sein", sagte Kádár zu dem deutschen Wirtschaftsstaatssekretär Schlecht. Wenn schon ein damals 67 Jahre alter Mann, der seit seiner blutigen Machtergreifung im November 1956 von Moskau abhängig war, so sprach, dann braucht man nicht allzuviel Phantasie zu haben, um sich auszumalen, wie die jüngere Generation derer dachte, die unter sowjetischer Besatzung aufgewachsen waren und ohne ideologische Scheuklappen den ostwestlichen Lebensstandardunterschied betrachteten.

Da die Fragen der ungarischen Außenpolitik in den siebziger Jahren im Westen noch nicht einmal von den Zuständigen ernst genommen wurden, gab es Ende der achtziger Jahre ein allgemeines Aha-Erlebnis, als Ungarn mit dem Abbau des Eisernen Vorhanges und - als Höhepunkt - mit der Grenzöffnung zugunsten der DDR-Flüchtlinge seine geradezu "weltbewegende" Aktionsfähigkeit offenbarte. Zwischen diesen beiden Endpunkten liegt die Darstellung Horváths - und dazwischen liegt eine aufregende und hochriskante konzeptionelle Arbeit zunächst der internationalen Abteilung im Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei und dann zunehmend des Budapester Außenministeriums.

Dabei gab es einige personelle und sachliche Fixpunkte. Etwa Mátyás Szürös, den Abteilungsleiter und späteren ZK-Sekretär, der nach einem langen Weg schließlich anstelle der Volksrepublik die Republik ausrufen durfte und ihr erster amtierender Präsident wurde. Oder Gyula Horn, den ehemaligen Abteilungsleiter, der als Außenminister weltberühmt und dann der zweite demokratisch gewählte Ministerpräsident des Landes wurde. Aber eben auch den ungarischen Botschafter in Bonn, István Horváth, der eine ungewöhnlich lange Zeit mit der Aufgabe betraut war, in seiner kommunikativen Art offen und verdeckt die Fäden zu der Bundesregierung und zu den konservativen Regierungsparteien CDU und CSU zu knüpfen, die viel mehr Verständnis für das ungarische Westwärtsstreben hatten als etwa die Sozialdemokraten.

Was auf den ersten Blick erstaunen mag, erschließt sich bei genauerem Hinsehen. Die SPD-Politiker hatten zu jener Zeit ziemlich gute Beziehungen zu den Herrschern der DDR, in diesen sahen sie Leute internationalistischen Zuschnitts und Garanten gegen den gefürchteten Nationalismus. Die ungarischen Sozialisten hingegen hatten (das war im Ostblock und außerhalb bekannt) Probleme mit den DDR-Ideologen, und ihr Weg-von-Moskau-Streben hatte selbstverständlich einen nationalen Impetus - was denn sonst.

Auch ein zweiter Aspekt behinderte das In-Einklang-Bringen des ungarischen und des SPD-Standpunktes: Führende Sozialdemokraten, nicht zuletzt Helmut Schmidt, wollten keinen Schatten auf das Verhältnis Bonns mit Moskau fallen lassen. Dies hätte jedoch gedroht, falls der Kreml Kenntnis davon bekommen hätte, daß die Bundesrepublik die Annäherung Ungarns an die westeuropäischen Organisationen unterstütze. Also riet man, wie Horváth schreibt, Kádár lieber davon ab, ein Risiko einzugehen, das man eigentlich selbst scheute.

Zu den sachlichen Konstanten gehörte es, daß Ungarn bei seiner Emanzipation wirtschaftliche Interessen vorschob. Natürlich hatte man diese, der Gulaschkommunismus war hochgradig konsum- und damit import- und damit wiederum kreditabhängig. Aber die Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse führt naturgemäß zur Ausweitung der Bedürfnisse: Wer zu essen hat, will lesen, wer zu lesen hat, will reisen, wer reisen will, hat mal die bulgarische Goldküste und Dalmatien hinter sich und ist auf die Riviera neugierig. Und der Ungar, der an der Riviera war, will am Plattensee so leben, wie er es an der Riviera konnte. Diese Einsicht war Kádár fremd; er war ein Proletarier, der den Westen erst aus den Schriften der sowjetischen Berichterstatter und danach auf kurzen Staatsbesuchen kennengelernt hatte. Der Verführungskraft des Konsums war er nie erlegen. Erst als Ministerpräsident Károly Grósz die operative Führung der Politik übernahm, gab die Regierung dem Konsumverlangen vollends nach - und dann gab es kein Halten mehr bis hin zum Wechsel des gesamten Wirtschaftssystems und der Staatsform.

Horváth war an alldem beteiligt, weil der ganze Prozeß mit Bonn in winzigen Teilchen abgesprochen wurde. Bundeskanzler Kohl und sein Berater Horst Teltschik wußten über viele innerungarische Entwicklungen früher Bescheid als die Mitglieder des Budapester Politbüros, die von den Reformern, deren ausschlaggebende Figur Imre Pozsgay war, als nicht engagiert genug betrachtet wurden. "Bonns" doppelte Bedeutung in dem Spiel - also des ungarischen Botschafters in der Bundeshauptstadt wie auch der Bundesregierung - läßt sich mit einem eklatanten Beispiel beleuchten.

In Bonn stellte sich im Februar 1989 ein junger Wirtschaftspolitiker in einer Art und Weise vor, die einen einzigen Schluß erlaubte: Das ist der künftige ungarische Ministerpräsident. Tatsächlich wurde Miklós Németh Ende November desselben Jahres Regierungschef - aber das Politbüro wurde erst wenige Tage zuvor in die bevorstehende Ernennung eingeweiht, ein Aperçu, das Horváth in seinem Buch nicht erwähnt, wohl auch nicht kennt. Wie auch hätte der Botschafter, der trotz seiner Schlüsselstellung im Systemwechsel ein nach dem kommunistischen Reglement drittrangiger Staatsangestellter war, die Politbüromitglieder, also seine damals obersten Vorgesetzten, nach ihrem Informationsstand fragen sollen?

GEORG PAUL HEFTY

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Endlich wieder einmal Diplomaten-Erinnerungen, die neugierig machen", freut sich unser Rezensent, nicht allerdings, ohne anzumerken, dass die Erinnerungen des ungarischen Botschafters István Horváth, um die es hier geht, erst ab Seite 130 interessant werden. Erst im zweiten und letzten Drittel des Bandes nämlich werden sie zum "Bericht eines Eingeweihten" in die Annäherung Ungarns an den Westen, von der Horváth zu erzählen weiss, war er als Botschafter in Bonn doch selbst daran beteiligt. Die detailreiche Schilderung der diplomatischen Vorgänge aber, die Hefty an dieser Stelle folgen lässt, entnehmen wir lieber gleich dem besprochenen Buch. Soviel Diplomatie muss sein.

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