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Lust,Glück,Schmerz und Qual liegen in den Bildern von Bosch engbeieinander und wurden im Laufe der Jahrhunderte vielfach gedeutet. Hans Belting interpretiert den ›Garten der Lüste ‹ nicht als Illustration der Schöpfungsgeschichte, sondern als eine gemalte Utopie des Paradieses ohne den Sündenfall und setzt sie in Beziehung zu den humanistischen Theorien von Thomas Morus und Willibald Pirckheimer. Auch ist es ihm gelungen, den weltlichen Auftraggeber und den Verwendungszweck des Triptychons zu bestimmen

Produktbeschreibung
Lust,Glück,Schmerz und Qual liegen in den Bildern von Bosch engbeieinander und wurden im Laufe der Jahrhunderte vielfach gedeutet. Hans Belting interpretiert den ›Garten der Lüste ‹ nicht als Illustration der Schöpfungsgeschichte, sondern als eine gemalte Utopie des Paradieses ohne den Sündenfall und setzt sie in Beziehung zu den humanistischen Theorien von Thomas Morus und Willibald Pirckheimer. Auch ist es ihm gelungen, den weltlichen Auftraggeber und den Verwendungszweck des Triptychons zu bestimmen
Autorenporträt
Hans Belting wurde 1939 in Andernach geboren. Seit 1993 leitet er das Fach Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Er ist Mitglied des Ordens Pour le merite und mehrerer wissenschaftlicher Akademien im In- und Ausland.
Rezensionen
Der Maler des Rätselhaften
Über die Bilder des niederländischen Malers Hieronymus Bosch haben sich bereits Generationen von Kunsthistorikern Gedanken gemacht. Sein Werk ist so vielschichtig und rätselhaft, dass eine genaue Deutung schier unmöglich ist. Unzählige grotesker Figuren bevölkern seine Darstellungen und selbst das jeweilige Sujet ist - trotz vermeintlich eindeutiger Titel ("Die Versuchung des Heiligen Antonius") - nicht unbedingt auszumachen. Hans Belting hat nun eine glänzende Studie vorgelegt, die Boschs "Garten der Lüste" in völlig neuem Licht erscheinen lässt.
Ein Paradies ohne Sündenfall
Das Tryptichon, das im Prado in Madrid hängt, zeigt auf dem linken Flügel das Paradies und auf dem rechten Flügel die Hölle. Darin sind sich die Experten einig. Das eigentliche Rätsel ist das Mittelbild. Sind es Müßiggänger, die hier ihren Lüsten nachgehen und quasi paradiesisch leben - in Frieden und in Eintracht? Ist auch hier ein Paradies zu sehen? Beltings beherzte These: Auch das Mittelbild stellt ein Paradies dar, aber eines ohne Sündenfall. "Wir blicken auf eine Menschheit, die wir nicht kennen. Es ist nicht die erlöste Menschheit, die vor dem Tod gerettet wurde, sondern eine utopische Menschheit, die es nie gab." Nach Belting schuf Bosch mit dem "Garten der Lüste" ein utopisches, imaginäres, irdisches Paradies. Er ließ dafür die Autorität der Bibel hinter sich und ist in die Freiräume einer neuen Bildsprache vorgedrungen. Belting spricht von der "Lizenz künstlerischer Freiheit" und liefert damit eine außergewöhnliche und faszinierende Interpretation! Auf über 125 Seiten mit allein 67 Farbabbildungen kann der Leser teilnehmen an dem Versuch, eines der interessantesten Werke der Malerei zu entschlüsseln. Aber keine Angst: Der Zauber bleibt, denn das Rätsel Bosch löst auch Belting nicht.
(Eva Hepper, literaturtest.de)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.05.2002

Der nackten Seele ist jede Ausschweifung keusch
Kunsthistorischer Ritterschlag: Hans Belting wagt sich in Hieronymus Boschs geheimnisumwobenen "Garten der Lüste" und entdeckt ein irdisches Paradies der Utopie

Wer sich an ein Rätselbild wie den "Garten der Lüste" heranwagt, darf mit einem kunsthistorischen Ritterschlag rechnen. Hans Belting ist dieses Abenteuer beherzt angegangen, und der Verlag hat ihn dabei mit einer noblen Ausstattung und Farbtafeln von hoher Qualität unterstützt. Boschs Triptychon im Prado ist das Musterbeispiel einer Verschlüsselung, die sich an den zweiten Blick eines Betrachters wendet, den die Erträge des ersten Blicks nicht befriedigen. Prima vista sind die gemalten Sachverhalte bis ins letzte Detail eindeutig lesbar. Der linke Flügel zeigt einen Blick in das Paradies, mit dem das kakophone Höllenspektakel des rechten Flügels kontrastiert. Das beherrschende Mittelbild stelle Variationen über die Beschäftigungssuche von Müßiggängern dar. Nicht nur die einzelnen Vokabeln dieser drei Themen sind mit ruhiger Sachlichkeit gemalt, auch ihre Syntax, also ihr Neben-, In- und Hintereinander, enthält keinerlei Unschärfen. Dennoch ist das dreisätzige Ganze so beschaffen, daß die Bilder sich gegenseitig sowohl stützen als verrätseln. Man möchte mit Baudelaire, der Bosch noch nicht kannte, von einem hieroglyphischen Traum sprechen.

Ehe Belting in dieses Labyrinth eintritt, beschreibt er den Faktenbestand. Er beginnt mit den beiden Außenflügeln, die, geschlossen, eine graublaue Weltkugel darstellen, über deren Thema jedoch nicht die "seltene Einmütigkeit" herrscht, die Belting der Literatur entnehmen möchte. Sieht er darin ein neues Sujet der Tafelmalerei, die Welt am dritten Tag des Schöpfungsberichts, so war diese Einöde für Gombrich ein Bild der Welt nach der Sintflut. Zwei konträre Deutungen, deren Autoren dabei schon insgeheim an das Mittelbild dachten.

Belting versäumt nicht zu registrieren, wo der Maler mit der Bibel übereinstimmt und wo er von ihr abweicht. Zunächst fällt auf, daß Gottvater die Züge Jesu trägt und der Sündenfall ausgespart ist. Die Makellosigkeit des Paradieses ist von keinem Konflikt überschattet. Das unterstreicht auch der ausgewogene Bildbau. Die stimmige Dreiergruppe - der Schöpfergott flankiert von Adam und Eva - präfiguriert eine Eintracht, die dahinter im rosafarbenen Tabernakelturm die künstliche Struktur einer vegetabilen Tektonik annimmt. In diesem Konzentrat klingt schon die Variationsthematik des Mittelbildes an, jene zuchtvolle Promiskuität, die sich auf Bauwerke, Gebirge und das menschliche Verhalten erstreckt. In dieser Weltlandschaft befinden wir uns "in einem gemalten Labyrinth des Blicks".

Wie jedes Labyrinth verläuft auch dieses nach bestimmten Mustern, welche die Kontingenz der Welt umschlagen lassen in die Pantomimen "ernster Spiele". Alle vorstellbaren Konfigurationen der Selbstvergewisserung der Kreatur kommen vor, nur die "Mühsal des Gebärens" und der Tod sind ausgeblendet. Auch Kinder sind nicht zu sehen. Belting beschreibt den Einklang so: "Die zarten puppenhaften Figuren sind körperlich so wenig ausgeprägt, daß sie bisweilen als nackte Seelen verstanden wurden. Ihre Körperlichkeit ist so mühelos und dadurch so verfremdet, daß selbst die akrobatische Erotik kindlich wirkt. Wir blicken auf eine Menschheit, die wir nicht kennen. Es ist nicht die erlöste Menschheit, die vor dem Tod gerettet wurde, sondern eine utopische Menschheit, die es nie gab."

Dieser verwunschene Wohlklang der Gebärden, Körper und Farben schlägt im rechten Flügel jäh um in lauter Mißklänge, Mißhandlungen und Mißbräuche, ausgeführt von pervertierten Menschen, Zwittergeschöpfen und Instrumenten. In diesen düsteren Ausschweifungen gelingt Bosch eine einzigartige "Steigerung des ikonographischen Standards", die von keiner Bibelstelle gedeckt ist, weshalb Belting sie in die eigene, subjektive Welt des Malers versetzt. Als Produkt seiner Phantasie ist diese innerweltliche Hölle dem göttlichen Strafgericht entzogen. Auch beim paradiesischen Mittelbild hätte es nahegelegen, den Bezug zur Schrift zu eliminieren, denn wie andere Interpreten verspürt Belting in dieser akribischen Topographie sexueller Erkundungen eine geheime Paradoxie. Man betreibt keusche Ausschweifungen und die Unzucht der Unschuld. Wie verhält sich das zur Bibel?

Gombrich bezog den "Garten der Lüste" auf den Zustand kurz vor der Sintflut und sah in ihm eine Menschheit ohne jegliches Sündenbewußtsein. Für Belting malte Bosch ein utopisch-imaginäres irdisches Paradies, das nie verlassen wurde. Dafür bringt er "eine Lücke in der Bibel" ins Spiel. Damit meint er das im zweiten Kapitel des Buches Genesis beschriebene "Paradies der Wollust", das nach dem hebräischen Wortlaut bei Luther zum schlichten Garten Eden wurde. Mag dieses Kapitel auch eine sorgfältig ausgestattete Weltbühne enthalten, in deren Repertoire kostbarer Edelsteine sich die Phantasiebauten des Malers ankündigen - was in diesem "versprochenen Paradies" fehlt, das sieht auch Belting, ist seine Nutzung durch den Menschen. Bosch korrigiert gleichsam diese verschwenderische Fehlplanung, indem er sie nach der Vertreibung des ersten Menschenpaares nicht veröden läßt, sondern zur Folie seines Lustgartens macht.

Das solcherart gerettete, weil reich bevölkerte Paradies der Wollust bedarf nicht mehr der Beglaubigung durch das Bibelwort, denn es verdankt sich ganz und gar der künstlerischen Einbildungskraft. Das freilich kann die Inquisition auf den Plan rufen und den Künstler in den Verdacht der Häresie bringen. Bosch hat eine Schwäche für hybride, bizarre Künstlichkeiten, deren Herkunft Belting in den von den Entdeckungsreisen nach Europa gebrachten exotischen Kuriositäten ausmacht. Da leuchtet ein, weshalb Bosch es verdiente, an den Anfang der künstlichen Paradiese der Neuzeit gestellt zu werden. Beleg dafür sind die visuellen Metaphern, die Baudelaire in seinen "Paradis artificiels" erfindet: Sie könnten Boschs Triptychon entnommen sein. Etwa die "gefährliche und köstliche Körpergymnastik", die den Haschischträumer gefangennimmt. Das berührt sich mit der Künstlichkeit von Boschs erotischen Ritualen. Sie enthalten Ansätze zu der Sexualakrobatik, die wir aus den Obsessionen des Marquis de Sade kennen - der nach Flaubert das letzte Wort des Katholizismus war.

Durch die Türen, die Bosch öffnet, verläßt er die mittelalterliche Welt, in der phantastische Erfindungen durch die Autorität der Bibel oder ihrer Exegeten abgesichert waren, und dringt in die Freiräume einer neuen Bildsprache vor. Seine hybriden Mischgeschöpfe hatten freilich ihre Inkubationsphase in den Kapitellen und den Randleisten der Buchmalerei. Von dort überträgt Bosch diese Launen und Diablerien in das Medium, das in den kommenden Jahrhunderten Schauplatz der "Freiheit der Kunst" werden wird, das autonome Tafelbild. Dorthin ist er unterwegs, wenn er den sakralen Bildtyp des Triptychons verwendet, um ihn zu verfremden.

Indes fand Bosch den "autonomen Inhalt der Kunst" noch in der "eigensinnigen Umdeutung der alten Ikonographie". Das mußte ihn dem klerikalen Lager suspekt machen. Belting veranschaulicht das mit einer Stelle aus den "Träumen" des Quevedo, wo Bosch in der Hölle auftritt und von den Teufeln den Vorwurf hören muß, daß sie in seinen Werken zu Ausgeburten seiner Träume verkommen wären. Der Maler, auf seine Erfindungskraft pochend, verteidigt sich mit der Bemerkung, er habe nie an die Existenz der Teufel geglaubt. Jahrhunderte später wird Goya, um den Verdächtigungen der Inquisition vorzubeugen, seine "Caprichos" als Erfindungen ausgeben, die denen der Dichtkunst ebenbürtig sind. Der Wettstreit zwischen Wort und Bild, so sieht es Belting, tritt im Werk von Bosch in seine erste neuzeitliche Phase: Das Bild wird zu Erfindungen ermächtigt, die bisher dem Wort vorbehalten waren.

Schon vor bald einem Jahrhundert zog Max Dvorák die Hauptlinien des Bewußtseinsprozesses, in dessen Verlauf der Maler die "Selbstgewißheit der Beobachtung" erproben lernte und solcherart die realen Erscheinungen dem übernatürlichen Ordnungssystem entzog. Boschs Beitrag zu dieser Emanzipation liegt indes außerhalb der Faktenbeschreibung in einer Zwischenwelt, die er aus einer Mischung von Phantastik und akribischer Beobachtung entstehen läßt. Dabei dient ihm, so Belting, die Ambivalenz seiner Bildersprache als "Lizenz künstlerischer Freiheit" - ein Freibrief, den allerdings auch schon die Illuminatoren der Handschriften für sich in Anspruch nahmen: Auch sie übertrafen mit ihren Einfällen die inhaltlichen Ebenen des Wortes.

Hat im Werk von Bosch ein Wechselbezug zwischen Wort und Bild stattgefunden? Diese Frage richtet sich vor allem an mögliche Berührungspunkte mit dem "Lob der Torheit" (1511) des Erasmus von Rotterdam. "Der Vergleich mit Boschs Triptychon liegt (für Belting) nicht auf der Hand." Ich sehe das anders: Es gibt Analogien, die freilich nicht auf Einflüsse schließen lassen. Das macht sie als Symptome um so bemerkenswerter. Wenn die Torheit sagt, alles im Leben habe zwei grundverschiedene Seiten, wählt sie als Metapher die Silene des Alkibiades: Spottfiguren, in deren Innern sich Götterfiguren verbergen. Bosch verfährt ähnlich. Alle die Kapseln, Kugeln, Muscheln und die aufgesprungenen Früchte, die in seinen Bildern auftauchen, dienen zugleich dem Verbergen und dem Enthüllen unerwarteter Inhalte. Das Außen ist dem Innen nicht adäquat, beide verkörpern je eigene Wahrnehmungsebenen. Zum verblüffenden Nebeneinander gesellt Bosch die Metamorphose. Auf Spruchweisheiten Bezug nehmend, läßt er in der berühmten Berliner Zeichnung aus dem Wald Ohren und aus dem Feld Augen wachsen. Er tut, was bei Erasmus Privileg der Götter ist: "Denen sie am meisten wohlwollen, die verwandeln sie gewöhnlich in einen Baum, einen Vogel, eine Grille oder sogar in eine Schlange." Darauf rät die Torheit: "Wenn sich die Menschen von der Berührung mit der Weisheit ganz fernhielten und ihr Leben nur mit mir verbrächten, gäbe es gar kein Greisenalter und sie genössen das Glück einer ewigen Jugend." Wäre das nicht auch eine mögliche Lesart des paradisum voluptatis?

Anders als der Humanist hat uns der Maler keinen Schlüssel zu seinem Werk hinterlassen. Wenn Erasmus in dem Vorwortbrief an Thomas Morus sich von jeglicher Eindeutigkeit dispensiert, hofft er, der "verständige Leser" werde merken, "es gehe mir mehr um Vergnügen als um Satire". Das mag auch für Bosch gelten, sofern das Erfinden neuer "Spielräume der Kunst" Vergnügen bereitet. Vergnügen von der Art intellektueller Gratwanderung wird auf jeden Fall dem Leser von Beltings Buch zuteil.

WERNER HOFMANN

Hans Belting: "Hieronymus Bosch - Garten der Lüste". Prestel Verlag, München 2002. 128 S., 80 Farb- u. S/W-Abb., 1 Ausklapptafel, geb., 39,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.05.2002

Ohne Sünde in der Keinezeit
Hans Belting deutet Hieronymus Boschs Garten der Lüste als ungeschehene Heilsgeschichte
Wenig hat der menschlichen Schöpferkraft so viele Spielräume eröffnet, wie der Umstand, dass die Bibel gleich zweimal und in deutlich voneinander abweichenden Versionen von der Erschaffung der Welt und des Menschen berichtet. Die erste Fassung handelt von jenem Sechstagewerk, an dessen Ende – am siebten Tag – Gott behaglich ausruht. Die zweite Fassung folgt unmittelbar danach und setzt mitten im Schöpfungsvorgang ein: „Es war zu der Zeit, da Gott der Herr Erde und Himmel machte. Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden ... und kein Mensch war da, der das Land bebaute.” Da erschafft Gott dann den Menschen, er bläst ihm den Odem des Lebens ein; außerdem bereitet er ihm eine angenehme Umwelt: „Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen.”
Wie die Geschichte weiterging, ist bekannt. Der Mensch, verführt von seiner ersten Partnerin, wollte ausgerechnet von dem einen Baum essen, dessen Früchte ihm verboten waren. Er musste den Garten in Eden verlassen und jene unwirtliche Welt bebauen, in der wir bis heute leben. Das irdische Paradies blieb seither leer. Dass es irgendwo auf der Welt noch existierte, glaubten die Christen viele Jahrhunderte lang – nicht zuletzt die Entdeckungen, die Umrundung des Globus machten diesem Glauben ein Ende. Das Nebeneinander von erstem und zweitem Schöpfungsbericht gehört zu jenen Brüchen im Bibeltext, die ihn als Menschenwerk kenntlich machten – eine Einsicht, die für Europa kaum weniger folgenreich wurde als der Aufbruch zu fremden Kontinenten.
An diese doppelte Bruchstelle – die Naht zwischen erstem und zweitem Schöpfungsbericht sowie die Aufhebung des irdischen Paradieses durch die europäische Expansion – versetzt der Kunsthistoriker Hans Belting das vielleicht rätselhafteste Werk der alteuropäischen Tafelmalerei, Hieronymus Boschs „Garten der Lüste”, der heute im Prado hängt. Belting legt eine Exegese vor, die zwei Ziele verfolgt: ein close reading, das eine möglichst konsistente Deutung des mit menschlichen Figuren und rätselhaften Wesen überfüllten Werks entwickeln soll, und eine theoretische Reflexion, die zu den Ursprüngen des modernen Kunstbegriffs führt. Im „Garten der Lüste” entsteht unter Beltings Augen aus heterodoxer Theologie eine befreite Kunst, die nie geschaute Welten schafft.
Beltings Ausführungen sind kaum weniger materialreich als das wimmelnde Werk Boschs, doch im Kern ist seine These einfach. Dass es bei diesem Gemälde um heilige Gegenstände geht, macht die dreiflügelige, zuklappbare Anlage klar, die ein Altarbild simuliert, so profan vieles auf ihm sein mag. Die Außenflügel zeigen, wenn Belting recht hat, in einer grünlichen Grisaille die Welt in einem bestimmten Moment der Schöpfung: nach der Scheidung von Wasser und Land und nach der Erschaffung der Pflanzenwelt, noch vor dem Entstehen der Himmelskörper; wir befinden uns also am Abend des zweiten Schöpfungstages. Öffnet sich das Bild, erstrahlt in taghellem Farben glanz links die wiesengrüne Idylle des irdischen Paradieses, in der ein christusförmiger Herrgott die beiden nackten ersten Menschen – Mann und Weib – zueinander führt. Der rechte Flügel zeigt in bizarrer Nachtszenerie mit Krieg und Bränden im Hintergrund, koboldhaften Gestalten und übergroßen Musikinstrumenten im Vordergrund die Hölle: eine schwarze, heißkalte, und offenbar kreischend laute Welt voller Laster, Habgier, Spiel, sexuellen Ausschweifungen.
Was aber sehen wir in der Mitte? Irdisches Paradies links und Hölle rechts verweisen auf den Lauf der Welt zwischen Sündenfall und Gericht, sie stellen die Enden eines Zusammenhangs dar, in dessen Mitte die Geschichte der Menschheit liegen müsste. Doch die Zentraltafel von Boschs Werk, eben jener „Garten der Lüste”, zeigt nichts, was sich mit einem realen Geschehen berühren würde. Man erkennt eine nackte, im Einklang mit der tierischen und pflanzlichen Natur lebende Menschheit: Frauen und Männer mit verschiedenen Hautfarben, vielfach in zärtlicher Umschlingung, teils spielerisch angetan mit riesigen Blumen, große Früchte verspeisend, in Eiern und Schalentieren lebend, auf allen möglichen Tieren reitend, badend in Gewässern. Es scheint weder Kindheit noch Alter zu geben, keine Scham und keine Schuld. Eine Atmosphäre von erhabenem Leichtsinn schwebt über der Szenerie.
Im Kollektivbett
Miniaturistischer Realismus und Phantasie gehen jene Verbindung ein, die für Boschs Stil insgesamt kennzeichnend ist. In einer glücklichen Formulierung spricht Belting von einer Natur, die anders ist „als wir sie in der Welt kennen, weder ähnlich noch unähnlich, weder natürlich noch phantastisch”. Worum geht es? Beltings These lautet: Beim „Garten der Lüste” handelt es sich um jenen Garten in Eden, den die lateinische Bibel als „paradisum voluptatis” bezeichnet, das irdische Paradies, aber in einem hypothetischen Zustand: bevölkert von einer Menschheit, welche die Erbsünde nicht begangen hätte. Boschs Figurengewimmel setzt also eine Geschichte fort, die in der Bibel durch Eva und die Schlange abgebrochen wurde: die Geschichte eines schuldlosen, sich ohne die Mühsal des Gebärens und des Ackerbaus fortpflanzenden und ernährenden Menschengeschlechts. Boschs Mitteltafel sprengt das erzählerische Kontinuum zwischen Außenflügeln und Innenflügeln und entwickelt eine ungeschehene Geschichte, eine hypothetische Heilsgeschichte, etwas, das Belting in Analogie zur Utopie, dem Niemandsland des Thomas Morus, eine Uchronie nennt: die Keinezeit ohne Sündenfall. Nur in Details, in alchemistischen Hinweisen, habe der Maler Anspielungen auf die Fragilität jener imaginierten Welt im Bild eingetragen.
Für diese Auslegung spricht auch die Wasserlandschaft im Hintergrund der Mitteltafel, die die vier Flüsse im Garten Eden zu zeigen scheint. Belting wäre freilich nicht Belting, wenn er nicht seine minutiöse Lektüre, die der Leser anhand der wunderbaren Reproduktionen des Bandes nachvollziehen kann, mit einer Kuppel der Spekulation überwölben würde – ähnlich jenen hauchzarten gläsernen Sphären oder Blasen, die Bosch mit so großer Perfektion malen konnte.
Aus der „Lücke in der Bibel”, an der Belting Bosch einsetzen lässt, entspringen für ihn so weitreichende Konzepte wie die autonome Kunst und ein neuer Fiktionsbegriff; der Lustgarten der Mitteltafel ist nicht nur randvoll von jenem Exotismus, den die Entdeckung Amerikas in europäische Wunderkammern brachte, er ist, als Verlagerung des irdischen Paradieses aus der Dimension des Raumes in die der Zeit eine unmittelbare Folge solcher Welterschließung. Belting vergleicht die imaginative Anlage von Boschs Bild mit literarischen Parallelen, Morus „Utopia” und dem „Lob der Torheit” von Erasmus. Besonders reizvoll ist die Ausleuchtung der frühesten bekannten Umgebung des Bildes: Es hing im Palais Nassau des freigeistigen Herzogs Hendriks II., der gern ausgiebige Gelage feierte und für seine betrunkenen Gäste ein riesiges Kollektivbett bereithielt. In dieser freigeistigen, auch erotisch stimulierten Umgebung könnte, so imaginiert Belting sehr farbig, die Inszenierung von Boschs Bild – die Öffnung der Grisaille mit dem Überraschungseffekt des erotisch-bunten Inneren – ein wiederkehrender Höhepunkt gewesen sein.
So anregend das alles ist, so wenig zwingend wirkt es. Über Bosch weiß man fast nichts, sein Todesdatum 1516 führt über die Schwelle dessen, was wir Neuzeit nennen, sein Erfolg brachte ihn fraglos in die besten Kreise seiner Heimatstadt ‘s-Hertogenbosch im Brabantischen. Doch hatte Bosch eine Theorie? Kannte er Begriffe wie „Fiktion” oder „Kunst” („ars” war ein Wort fürs Handwerk)? Wäre ihm die „Utopia” des Morus verständlich gewesen? Darüber weiß man nichts, und Belting gesteht ein: „Die Deutung kann also keineswegs allein vom Maler ausgehen.” Das mag für Kunsttheoretiker gelten. Wer historisch fragt, wie es zu den erstaunlichen Entgrenzungen im europäischen Geist zwischen Spätmittelalter und Renaissance gekommen ist, wird vorsichtiger bleiben.
Wenn Beltings Exegese zutrifft – und dafür spricht sehr viel -, dann bedarf es des Fiktionsbegriffs nicht. Bosch entwickelt seine Phantastik noch im traditionellen Rahmen der Mimesis, an einer Bruchstelle der kanonischen Überlieferung. Die Konsequenzen daraus lassen sich aus der Logik des Gebildes entwickeln, das, einmal begonnen, ohne eine theoretischen Begrifflichkeit auskommt.
Über Absichten wissen wir bei Bosch so wenig wie selbst bei den meisten Schriftstellern jener Zeit. Was man heute erkennt, ist die produktive Entfaltung von Widersprüchen. Zweihundert Jahre vor Bosch entwarf der Dichter Dante mit wagemutiger Konsequenz den Aufbau der irdisch-sittlichen Welt. Gerade ihre Folgerichtigkeit machte seine Dichtung zur alle Grenzen der Überlieferung sprengenden Odyssee im Weltraum eines gottgleich schöpferischen Ichs. Alle diese Reisen wären wie die Fahrt des Columbus wohl kaum unternommen worden, hätte man vorher geahnt, wohin sie führen würden.
GUSTAV SEIBT
HANS BELTING: Hieronymus Bosch – Garten der Lüste. Prestel Verlag, München 2002. 126 Seiten, farbige Abb., 39,95 Euro.
Der Mensch im Einklang mit Flora und Fauna: Hieronymus Boschs Garten der Lüste (Ausschnitt).
Abb. aus d. bespr. Band
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Nichts an Hieronymus Boschs Gemälde Triptychon "Garten der Lüste" ist so einfach, wie es dem ersten Blick erscheinen mag, es handelt sich, im Gegenteil, so Werner Hofmann in seiner umfangreichen Rezension zu Hans Beltings Deutung des Werks, um ein "Musterbeispiel der Verschlüsselung". Belting beginnt mit einer Klärung der Fakten, vor allem der Bezüge auf die Bibel und ihrer Grenzen. Die Paradiesdarstellung nützt, meint der Kunsthistoriker, eine Lücke der Heiligen Schrift und imaginiert, ganz aus der "künstlerischen Einbildungskraft" heraus ein "utopisch-imaginäres irdisches Paradies". Der Bezug zur biblischen Autorität wie zu den ikonografischen Standards wird nicht gekappt, aber eigensinnig in Dienst genommen. Der Rezensent ist nicht mit allen Thesen Beltings einverstanden, an Beltings Skepsis gegenüber einer Annäherung von Bosch und Erasmus von Rotterdam macht er das explizit. Das Resümee fällt dennoch sehr positiv aus, Beltings Buch, so Hofmann, bereitet "Vergnügen von der Art intellektueller Gratwanderung".

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