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Realistische Malerei gilt als Kunst, deren Abbildcharakter evident ist - eine Annahme, die das Werk Wilhelm Leibls nahezu widerstandlos zu bestätigen scheint. Doch wird in seiner Malerei auch ein zentrales Problem der Kunst des 19. Jahrhunderts sichtbar, von dem der Realismus mit der ihm zugeschriebenen Abbildfunktion unbelastet zu sein schien: die Lesbarkeit bildlicher Zeichen.
Leibls Bilder setzen, gegen Narration und Lesbarkeit, das Sichtbare als das 'Wirkliche'. Die detailgetreue Malweise stellt nahezu greifbar Gegenstände vor Augen, deren Faktizität indes durch neue Erkenntnisse der
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Produktbeschreibung
Realistische Malerei gilt als Kunst, deren Abbildcharakter evident ist - eine Annahme, die das Werk Wilhelm Leibls nahezu widerstandlos zu bestätigen scheint. Doch wird in seiner Malerei auch ein zentrales Problem der Kunst des 19. Jahrhunderts sichtbar, von dem der Realismus mit der ihm zugeschriebenen Abbildfunktion unbelastet zu sein schien: die Lesbarkeit bildlicher Zeichen.

Leibls Bilder setzen, gegen Narration und Lesbarkeit, das Sichtbare als das 'Wirkliche'. Die detailgetreue Malweise stellt nahezu greifbar Gegenstände vor Augen, deren Faktizität indes durch neue Erkenntnisse der Optik und der Wahrnehmungspsychologie bedroht ist. Realistische Malerei erhält die Funktion, das verstörende Potential zu entkräften, das der Auflösung gesicherter Subjektpositionen und des Objektstatus der wahrgenommenen Welt innewohnt. Leibls Malerei konstituiert, was sie abzubilden scheint: eine festgefügte und gerahmte Ordnung der Wirklichkeit.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2000

Ich sehe was, was du nicht siehst
Unter den blinden Kollegen fühlte Wilhelm Leibl sich als König: Beate Söntgens Studie zum Realismus

Neue Erkenntnisse aus Optik, Physik und Physiologie beschleunigten im frühen neunzehnten Jahrhundert die Einsicht in die Relativität und Subjektivität aller visuellen Eindrücke. Das trug zu einem Umbruch in der Wahrnehmung bei, der auch den weiteren Verlauf der Kunstgeschichte entscheidend geprägt hat. Seit einiger Zeit zeichnet sich im Gefolge der neuen Kommunikations- und Körpertechnologien ein ähnlich gravierender Paradigmenwechsel ab. Längst etablierte Konzepte des Visuellen werden erneut in Frage gestellt. Das spiegelt sich im wachsenden Interesse an der Wahrnehmungsthematik seitens der Kulturwissenschaften, insbesondere der aktuellen Kunst- und Medientheorie.

"Wilhelm Leibl und die Wahrnehmung des Realismus": Der Untertitel der kunsthistorischen Dissertation von Beate Söntgen, die die Frühphase dieser Wahrnehmungsveränderung näher beleuchtet, benennt die doppelte Perspektive der Studie. Zunächst geht es um die detaillierte und sorgfältige Rekonstruktion der Wahrnehmungskonventionen, die realistischer Malerei zugrunde lagen. Zweitens, und folgenreicher, wird die Idee vom Realismus als einer mimetischen Kunst revidiert.

Das Werk des "realistischen" Malers, dessen Gemälde "Drei Frauen in der Kirche" (1878) die Autorin exemplarisch ins Zentrum ihrer Erörterungen rückt, erscheint als Studienobjekt besonders geeignet. Denn Leibls Position innerhalb des Realismus war ambivalent. Zwar setzte er gegen den damals vor allem in Deutschland noch vorherrschenden Primat des Sujets jenen der Malweise. Doch war er darin weniger radikal als manche seiner französischen Kollegen.

"Sehen ist alles, die wenigsten aber können sehen": Diese von Söntgen schon im Titel zitierte Kollegen- und Betrachterschelte Leibls klingt zunächst banal. Sie bezieht sich jedoch auf eine vielschichtige zeitgenössische Debatte, in der der erzählerische Charakter des Sujets immer noch Vorrang hatte vor den selbstreflexiven, "modernen" Qualitäten der Malerei. Dabei ging es im Realismus nur vordergründig um direkte Mimesis und Wirklichkeitsillusion. Das jedenfalls ist Söntgens Hauptthese. Die Konklusion ihrer hermeneutischen Einbettung von Leibls Werk: Im Prozeß der naturwissenschaftlichen fundierten "Umstrukturierung des Sehens", der in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einsetzte, übernimmt gerade die sogenannte realistische Malerei eine wichtige Kompensationsfunktion. "Sie entkräftet das bedrohliche Potential, das der Auflösung gesicherter Subjektpositionen und des Objektstatus der wahrgenommenen Welt innewohnt."

Söntgen reagiert mit ihren Analysen unter anderem kritisch auf einen Vorschlag des amerikanischen Kunsthistorikers Jonathan Crary. Er hat jüngst dafür plädiert, den Beginn der Moderne schon bei einer um 1800 ausgelösten Verunsicherung des Betrachters anzusetzen. Der Betrachter habe von den Naturwissenschaften gelernt, daß er seinen eigenen Augen nicht mehr trauen könne. Die Malerei habe erst um 1870 mit dem Impressionismus auf diese Entwicklung reagiert.

Dem hält Söntgen entgegen, daß die Künstler auf die "Umstrukturierung des Sehens" unmittelbar mit eigenen Wirklichkeitskonstruktionen reagierten. Das letztlich irreführende Etikett des "Realismus" diente im Grunde nur dazu, dieses halb verzweifelte Rettungsmanöver zu legitimieren, das Ersatz für verlorengegangene Gewißheiten bieten sollte.

Söntgens Blick auf die zeitgenössischen Kontroversen rund um den Realismus zeigt nämlich, daß weder ein einheitlicher Epochenstil noch ein klar umrissenes künstlerisches Programm formuliert wurden. Er bemäntelte teilweise sogar die fortschreitende, unaufhaltsame Emanzipation von Sujet und Stil. Daß manche Spielarten des Realismus dabei auch für nationalistische Zwecke instrumentalisiert wurden, ist kein ganz unwichtiges, in der Materialfülle der Arbeit etwas verstecktes Seitenthema. Hier zeichnete sich jene Usurpation "völkischer" Kunst ab, die in der Nazizeit gipfelte. Sie schlug sich aber auch im Argwohn der Moderne gegenüber dem Gegenständlichen nieder.

Die Bildanalyse von Leibls "Drei Frauen in der Kirche" ergibt, daß der Maler darin eine spezifische "Rhetorik der genauen Aufzeichnung" entwickelt. Sie zielt, so Söntgen, auf eine "Rettung des Faktischen im Bild". Mit der "poetischen Verklärung", die die deutsche Kritik forderte, hat diese kalkulierte Nüchternheit so wenig am Hut wie mit dem sozialen Engagement Courbets. Leibls Werk erscheint damit als ebenso symptomatische wie eigenwillige Reaktion auf die zeitgenössische "Verunsicherung des Sehens".

Noch klarer tritt dies im Quervergleich mit den künstlerischen Konzepten von Edgar Degas und Carl Schuch hervor. Die spannenden Bezüge zur Fotografiegeschichte, auf die die Autorin mehrfach hinweist, bleiben dagegen eher schematisch. Insgesamt jedoch entpuppt sich ihr Unternehmen, die sehr verschiedenen "realistischen" Bildstrategien jenseits der ohnehin obsolet gewordenen Kategorien von Tradition und Fortschritt zu analysieren, als prägnanter, theoretisch anspruchsvoller Beitrag zu dem fälligen Projekt, die blinden Flecken der neueren Kunstgeschichte zu identifizieren und zu tilgen. Nicht gerade eine Empfehlung für den Verlag sind die erbärmlichen Schwarzweißreproduktionen.

BARBARA BASTING

Beate Söntgen: "Sehen ist alles". Wilhelm Leibl und die Wahrnehmung des Realismus. Wilhelm Fink Verlag, München 2000. 196 S., Abb., br., 58,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Mit einer Anekdote über den Maler Wilhelm Leibl und seinen "unbarmherzigen" Umgang mit den ihm Modell sitzenden Menschen beginnt Valeska von Rosen ihre Besprechung. Entscheidend an der vorliegenden Studie des angeblichen Leibl?schen "Realismus" ist dann jedoch die Herausarbeitung der "Realitätskonzeptionen", die sich durch "Erwartungshorizont und Sehgewohnheiten der Zeitgenossen" ergaben. An Leibls Bildern und ihrer Rezeption zeigt Söntgen auf, so die Rezensentin, dass oftmals gewisse "Stilisierungen" der behaupteten "Authentizität" zuwiderlaufen bzw. sie als einer "allegorischen Ebene" zugehörig ausweisen. Diese ist jedoch nicht ideologisch oder politisch unterlegt wie bei Gustav Courbet; vielmehr ist der "Realismus" Leibls einer, der sich neben seiner "handwerklichen Sorgfalt" dem "Ethos der Aufrichtigkeit" verpflichtet sah. Was als "realistisch" verstanden wird, so gibt die Rezensentin das Resultat der Studie wieder, ist nur "die tröstliche Gewissheit gemalter Wahrheit".

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