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Produktdetails
  • Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Bd.138
  • Verlag: Droste
  • Seitenzahl: 674
  • Deutsch
  • Abmessung: 230mm
  • Gewicht: 1090g
  • ISBN-13: 9783770052578
  • ISBN-10: 3770052579
  • Artikelnr.: 12430103
Autorenporträt
Ursula Reuter, geb. 1964, ist als wiss. Angestellte im Forschungsprojekt »Germania Judaica IV« an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf tätig. Sie veröffentlichte zahlreiche Werke zur deutsch-jüdischen Presse in Köln und im Rheinland und über Zwangsarbeit in der NS-Zeit.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2005

Gegen Opportunitätsmeierei
Der Großbürger Paul Singer kämpfte im Kaiserreich für die sozialistische Zukunftsgesellschaft

Ursula Reuter: Paul Singer (1844-1911). Eine politische Biographie. Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band 138. Droste Verlag, Düsseldorf 2004. 674 Seiten, 74,- [Euro]

"Großbourgeois und musterhafter Sozialdemokrat" - so kündigte Wilhelm Liebknecht ihn an, als er Paul Singer 1878 bei Friedrich Engels und Karl Marx einführte. Das war werbend gemeint. Singer gehörte zu den bürgerlichen Demokraten, die der politische Kampf um eine gerechtere Gesellschaft in die Sozialdemokratie führte. Binnen weniger Jahre stieg er in die Führungszirkel der jungen Partei auf, die er seit den 1890er Jahren neben August Bebel und Wilhelm Liebknecht wie kein anderer repräsentierte. Ein erfolgreicher jüdischer Unternehmer, der (wie damals in der Konfektionsbranche üblich) durch Zwischenmeister - heute würde man von Scheinselbständigen sprechen - kostengünstig Damenmäntel vornehmlich für den Export produzieren ließ, wird zum "heimlichen Kaiser" der Sozialdemokratie, mächtiger noch als Bebel, wie Hellmut von Gerlach 1908 schrieb.

"Es war etwas Gewaltiges an Masse und Idealismus", notierte 1911 selbst die kritische Rosa Luxemburg, als sie von Singers Begräbnis zurückkam, das zu einer überwältigenden Demonstration geworden war: "Die Sozialdemokratie ist eine Macht, und sie beherrscht jetzt wirklich schon die Herzen und die Hirne enormer Massen." Eine unüberschaubare Schar von Menschen, selbst die mißgünstige Polizei sprach von mehr als fünfzigtausend, hatte Singer auf seinem letzten Weg durch Berlin begleitet, sozialdemokratische Arbeiter zumeist, doch auch bürgerliche Honoratioren bis hinauf zum Oberbürgermeister standen am Grab - der ungewöhnliche Abschluß eines außergewöhnlichen politischen Lebens. Von ihm handelt dieses Buch.

In Singers Lebensweg gewinnt eine Partei persönliche Züge, die das deutsche Kaiserreich als einen Klassenstaat kompromißlos verdammte, jedoch durch unzählige Fäden mit ihm verbunden war und voller Enthusiasmus daran arbeitete, ihn zu verbessern. Singer verkörperte diesen Zwiespalt. Er und sein Bruder Heinrich wagten es 1869, in Berlin eine eigene Firma zu gründen, die sie rasch zu wohlhabenden und angesehenen Bürgern werden ließ. Der enge Familienzusammenhalt - die unverheiratete Schwester Mathilde führte den beiden ebenfalls ledigen Brüdern den gemeinsamen Haushalt - sicherte Paul auch weiterhin einen bürgerlichen Lebensstil, zu dem Dienstpersonal und Kuren gehörten, als er 1887 aus dem Unternehmen, das in seiner Glanzzeit bis zu eintausend Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigte, ausschied und nun ganz für die Politik lebte. Für die Genossen blieb er stets der wohlhabende Unternehmer, der diskret finanziell half, wenn es not tat. Ihn hatte auch der Berliner Korrespondent der "Neuen Züricher Zeitung" vor Augen, als Singer 1883 erstmals für die Sozialdemokratie in die Stadtverordneten-Versammlung gewählt wurde: Er repräsentiere "den Typus eines vornehmen Großkaufmanns, den Chef eines Welthauses. Bestechend und gewinnend wirkt auf jeden, daß er sich aus Liebe zu den Armen und Bedrückten der Arbeiterbewegung widmet."

Das sah jedoch keineswegs jeder so. Die Bürgerpartei agitierte mit antisemitischen Stereotypen gegen ihn. Sie hatte keinen Erfolg, Singer wurde gewählt. Er äußerte sich nicht zu spezifisch jüdischen Belangen und engagierte sich in keinem jüdischen Verein, doch er trat nicht aus der jüdischen Gemeinde aus. Sein Beitrag zur gesellschaftlichen Integration der Juden in Deutschland bestand, wie die Autorin betont, in seinem Lebensweg: Es war als Jude möglich, in der Sozialdemokratie in höchste Ämter gewählt zu werden, und es war auch möglich, in der Kommunalpolitik über das sozialdemokratische Milieu hinaus, das für Antisemitismus unempfänglich blieb, erfolgreich zu wirken.

Der Berliner Kommunalpolitik Singers widmet Ursula Reuter zu Recht viel Raum. Darüber war bislang wenig bekannt, obwohl er in der Sozialdemokratie als kommunalpolitischer Pionier wirkte. Er gehört zu dem Personenkreis, der die Arbeiterpartei für die Tradition bürgerlicher Gemeinwohlverpflichtung, die in der Gemeinde ihre stärksten Wurzeln hatte, öffnete. Jeder Zoll ein Bürger, war Singer der ideale Brückenbauer zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung. Als er unter dem Sozialistengesetz 1886 aus Berlin ausgewiesen wurde - eine politische Gefängnisstrafe, der Adelsbrief in der sozialdemokratischen Führung der Heroenzeit, blieb ihm versagt -, führte der Asylverein, für den zu wirken ihm eine Herzensangelegenheit war, seinen Namen demonstrativ weiter im Vorstand und ließ sein Amt provisorisch von einem anderen Vorstandsmitglied wahrnehmen. Das in der gemeinsamen Arbeit gewachsene Vertrauen unter bürgerlichen Honoratioren, die politisch völlig unterschiedlicher Meinung waren, konnte der Kampfeswille des Staatsapparates nicht zerstören.

Dem angesehenen Bürger, der nicht müde wird, sich für seine Stadt ehrenamtlich zu engagieren und dabei keinerlei Scheu zeigt, mit Gegnern der Sozialdemokratie zusammenzuarbeiten und verläßliche Freundschaften zu pflegen, steht der Parteiführer gegenüber, der in der Reichs- und Landespolitik allen revisionistischen Versuchungen entschieden entgegentritt. Singer macht, wie Eduard Bernstein, das theoretische Haupt der Revisionisten, nicht zu Unrecht schrieb, aus "der Lehre vom Klassenkampf die Theorie einer chinesischen Mauer". Hinter ihr abgeschirmt gegen "Opportunitätsmeierei", die der Arbeiterbewegung den politischen Elan raube und sie nach rechts treibe, wollte Singer das Endziel, die sozialistische Zukunftsgesellschaft, rein bewahren, zugleich jedoch dem Klassenstaat der Gegenwart jede Verbesserung abringen, die politisch möglich war. Singer gehörte zu den aktivsten unter den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten. Er sprach oft und zu vielen Themen, auf seine detaillierte Sachkenntnis, die bis zu den Arbeitsbedingungen des Personals im Reichstag reichte, konnte sich die Fraktion verlassen, und auch die politischen Gegner anerkannten, mitunter allerdings widerwillig, seine überlegene Kenntnis der Geschäftsordnung.

Das Parlament war Singers politische Hauptbühne, und er agierte dort allseits respektiert. Und dennoch: "Der Parlamentarismus korrumpirt", schrieb er 1902 Karl Kautsky, als er ihm erläuterte, warum es so schwer sei, die sozialdemokratische Reichstagsfraktion davon zu überzeugen, repressive Gesetzesvorhaben weiterhin notfalls durch parlamentarische Obstruktion abzuwehren. "Unsere Leute sind eben für sogenannte Lärmscenen zu respektabel geworden." Eine "Bourgeois-Type" mit einem "provozierend wohlgenährt dreinschauenden Bauch" und dennoch verehrt von den "Arbeitermassen", wie ein jüdischer Emigrant, der als Schüler Singer auf Versammlungen erlebt hatte, sich 1944 bewundernd erinnerte; ein "Parteithier", wie er sich selber charakterisierte, seit dem Ende der Sozialistengesetze bis zu seinem Tode "geborener" Vorsitzender aller sozialdemokratischen Parteitage, dessen präsidialem Geschick als "Großglockner" auch die innerparteilichen Gegner Anerkennung zollten, und zugleich ein angesehener bürgerlicher Honoratior; politischer Pragmatiker der vielen kleinen Schritte hinter einem Klassenkampfprogramm, das er nicht verwässert sehen wollte - in dieser Spannweite repräsentiert Paul Singers politisches Leben den Weg der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im Kaiserreich. Das lesenswerte Buch zeichnet ihn nach und führt damit biographisch in Grundfragen jüngerer deutscher Geschichte.

DIETER LANGEWIESCHE

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Lesenswert" findet Rezensent Dieter Langewiesche diese Biografie Paul Singers, die Ursula Reuter vorgelegt hat. Singers politisches Leben repräsentiert für ihn den Weg der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im Kaiserreich insgesamt. Er würdigt den erfolgreichen Unternehmer, Großbürger und sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten als Brückenbauer zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung, der sowohl bei den bürgerlichen Honoratioren Berlins als auch bei den Arbeitern hohes Ansehen genoss. Reuter verweise auf Singers Beitrag zur gesellschaftlichen Integration der Juden in Deutschland, der, wie sie betone, in seinem Lebensweg bestand, demonstrierte er doch, dass es als Jude möglich war, in der Sozialdemokratie in höchste Ämter gewählt zu werden, und auch in der Kommunalpolitik über das sozialdemokratische Milieu hinaus, das für Antisemitismus unempfänglich blieb, erfolgreich zu wirken.

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