Produktdetails
  • Verlag: Residenz
  • Seitenzahl: 187
  • Abmessung: 21mm x 133mm x 212mm
  • Gewicht: 339g
  • ISBN-13: 9783701712571
  • ISBN-10: 3701712573
  • Artikelnr.: 24637918
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.07.2002

Die Heilige Hure
„Dahinter der Osten”: Petra
Nagenkögels Rinnsteinlegende
Nach Jahren der Abwesenheit kehrt Lena in ihre Vaterstadt zurück. Sie reduziert das Bild der geschäftigen Menge auf eine einfache Opposition: das legitime Leben dort und den Unwert des eigenen. Nicht das Gesagte gibt die Wahrheit preis. Die Bilder sprechen. Die Fahrt durch die Stadt an den äußersten Rand der Gemeinschaft und an jene Grenze, wo das Leben immer schon nichtig war, sammelt die Sinnesdaten ihres Selbstbildes. Sie mietet sich in einer Gegend ein, wo immer schon gestorben wurde, unweit der Tierkörperverwertungsstelle, des Schlachthofs und jenes Walzwerks, in das damals im Krieg die Lagerinsassen getrieben wurden.
Petra Nagenkögel erzählt die Geschichte eines Kindesmissbrauchs. Das kleine Glück dieses Buches beginnt mit der Entscheidung gegen das Mittelmaß der Fallgeschichte. Die 34jährige, in Salzburg lebende Autorin sorgt für höhere Verhandlungsinstanzen. Den Fall des Vaters, der sich des kindlichen Lebens seiner Tochter bemächtigt, platziert sie in den Kreuzpunkt, wo vor den Kulissen der jüngsten Geschichte das nackte Leben und die nackte Macht aufeinandertreffen und die Totalisierung der modernen Machtstrukturen in den Blick gerät. Jetzt rückt Lenas Schicksal in den Gewaltzusammenhang von Krieg, Gefangenschaft, Lager und der massenhaften Wiederholung des archaischen Menschenopfers. Die Gestalt der Gezeichneten, die zu den Lebenden nicht mehr und zu den Toten noch nicht gehört, wächst in den Bildraum und füllt ihn zuletzt ganz: mit ihrer Statue.
Die Autorin zieht die Geschichte auf den schwebenden Augenblick zusammen, wo das Vergangene sich in der Reflexion reaktualisiert und sein Sinnpotential entfaltet. So erneuert Petra Nagenkögel die Legende von der Heiligen Hure. Der Hl. Sebastian ist die Stifterfigur des Romans. Lena entdeckt das Bildnis des Heiligen, der sein Martyrium überlebte, in ihrer Unterkunft. Der Billigdruck stiftet jene Gleichheit zwischen spiritueller und sinnlicher Welt, die für die Legende typisch ist und mit Normbruch, körperlicher Pein und Auferstehung des Fleisches den Weg beider aufzeichnet, des Heiligen und seiner Betrachterin. Der Augenblick nimmt den Triumph Lenas vorweg.
Die Autorin erzählt die Erlösungsgeschichte als Werdensgeschichte zwischen Stimme und Sprache. Auf ihren Wanderschaften durch die Gedächtnislandschaft ihrer Kindheit spinnt Lena sich ein in den Tagtraum einer bürgerlichen Existenz mit Heim und Familie. Gleichzeitig erfindet sie sich eine wache Stimme, die sich dem realen Ausnahmezustand stellt. Das Geheimnis ihrer Kindheit, das vom Schweigen der Erwachsenen versiegelt war, wird zum Gegenstand eines Erinnerns, das sich Schritt für Schritt dem traumatischen Kern nähert: dem Tatort. Bei der tastenden Übersetzung des Faktischen in die Begriffsprache verdoppelt sich Lena. Neben die Verlorene, die ihr Opfer in der Gosse vollendete, tritt die Auferstehende, neben das stumme Opfer die Erzählerin, neben die Heimatlose die Hl. Magdalena.
Das Kind trennte, um leben zu können, die Worte von ihrem Sinn und schrieb sein eigenes Wörterbuch. Für die Sprachfindung der Erwachsenen behilft sich die Autorin mit einer Körpersprache, die nicht immer glücklich operiert. Aber die Autorin, die hier ihr bravouröses Debüt vorlegt, hat das Kunststück gemeistert, der Tragödie bei der sozialen Überformung nicht das Essentiale zu nehmen.
SIBYLLE CRAMER
PETRA NAGENKÖGEL: Dahinter der Osten. Roman. Residenz Verlag, Salzburg/ Wien/Frankfurt 2002. 188 Seiten, 16,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ein bravouröses Debüt, meint Rezensentin Sibylle Cramer, hat die Österreicherin Petra Nagelkögel mit ihrem Roman "Dahinter der Osten" vorgelegt. Nagelkögel erzählt darin die Geschichte eines Kindesmissbrauchs. Das große Glück dieses Romans sieht die Rezensentin darin, dass sich die Autorin gegen das "Mittelmaß der Fallgeschichte" entscheidet und nicht nur das "nackte Leben und die nackte Macht" aufeinandertreffen lässt, sondern für "höhere Verhandlungsinstanzen" sorgt: "Neben die Verlorene, die ihr Opfer in der Gosse vollendete, tritt die Auferstehende, neben das stumme Opfer die Erzählerin, neben die Heimatlose die Hl. Magdalena." Vor allem, lobt die Rezensentin, hat Nagelkögel das Kunststück gemeistert, der Tragödie bei der sozialen Überformung nicht das Essentiale zu nehmen.

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